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Saint Louis: «Alles ist schön»

Corona macht miese Laune. Das muss doch nicht sein, dachten wir, und sind zur Erholung ins französische Grenzgebiet gefahren. Ein Reisetagebuch.

02/04/22, 04:00 AM

Aktualisiert 02/09/22, 09:14 AM

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Das Hotel de l'Europe ist auch ein Statement. Ein Hauch alten Europas umweht das historische Gemäuer. Über der Strassenkreuzung hängt noch die Weihnachtsbeleuchtung.

Das Hotel de l'Europe ist auch ein Statement. Ein Hauch alten Europas umweht das historische Gemäuer. Über der Strassenkreuzung hängt noch die Weihnachtsbeleuchtung. (Foto: Daniel Faulhaber)

Von Basel St. Johann bis Saint-Louis dauert es drei Minuten mit der französischen Regionalbahn. Es regnet. Und auf dem einzigen Perron dieses vollkommen bedeutungslosen Bahnhofs St. Johann auf Schweizer Seite steht eine Anmeldestation zur Anmeldung zollpflichtiger Waren. Wer hier Zug fährt, überquert die Grenze. Die Meldestation sieht aus, als hätte hier niemals irgendwer irgendetwas deklariert.

Es sind wieder einmal Ferien in Zeiten der Pandemie. Erstmal tief Luft holen unter der Atemschutzmaske. Der Zug beschleunigt, vor dem Fenster zerfliesst die Landschaft in Streifen. Drei Minuten später sind wir endlich da. Saint-Louis, Departement Haut-Rhin. 

Bienvenue en Vacances.

Jede*r hat schlechte Laune wegen Corona. Reisen fallen ins Wasser, die Freizeitangebote schrumpfen. Vor jedem Treffen mit Freund*innen verschicken wir Fotos von Selbsttests auf Whatsapp, die irgendwas über den gesundheitlichen Zustand der Gäste aussagen sollen, Gesundheit, womöglich. Fünf Tage später war trotzdem immer irgendwer angesteckt. Wieder ein paar Tage Quarantäne. Jemand postet ein Alain Berset-Video in die Chat-Gruppe.

Kurz, es ist schlimm. Aber man kann auch in dieser dummen, humorlosen Corona-Zäsur eine gute Zeit haben, eine sehr gute sogar, man muss nur ein wenig umdenken. Basel liegt ja tollerweise an der Grenze zu Deutschland und Frankreich und Frankreich, das ist eigentlich grosso modo Côte d’Azur. Nach Saint-Louis in die Ferien zu fahren, ist die allerbeste Idee ist, die man haben kann. 

Hier steht, warum. 

Natürlich kriegt man es, wie immer nach einer Ankunft am Ferienziel, auch in Saint-Louis erst erst einmal mit den klassischen Holidayfeelings zu tun. Entschleunigung, Trägheit, Durst. Vom Bahnhof bis zur Innenstadt dauert es zu Fuss nur zehn Minuten. 

Saint-Louis ist eine dieser Städte, die hinter jeder Ecke versprechen, schillernd und aufregend zu werden. Aber dann passiert doch nie etwas. Das Epizentrum der Ereignislosigkeit bildet eine Strassenkreuzung. An dieser Kreuzung stehen ein Einkaufsladen, ein Handyshop, ein Dessousgeschäft und unser Hotel. Es heisst Hotel de L’Europe und wer es drauf anlegt, kommt unweigerlich zum Schluss: Das ist eigentlich das schönste Hotel im ganzen Elsass.

Wir besorgen uns im Carrefour eine Flasche Prosecco, Oliven und eine regionale Zeitung, sowas sieht in den Filmen auch immer sehr gut aus. Dann ab ins Hotel. Die Nacht für zwei Personen kostet hier 100 Euro. Mit Frühstück noch etwas mehr. 

Am Empfang begrüsst uns eine ältere Dame mit einem dicken Hund. Sie fragt: Welcher Tag ist heute nochmal? Dann erklärt sie, wo man in St- Louis was zum Abendessen kriegt und dass wir im Lift die Gittertüre von innen schliessen müssen, damit der Lift nach oben in den zweiten Stock fährt, es sei eben alles ein wenig historisch hier. Es riecht historisch. Die Dame will zu unserem Erstaunen gar nicht wissen, wer wir sind oder woher wir kommen, dabei liegt doch diese Frage vollkommen aufdringlich auf der Hand: Wer zum Teufel steigt bitte in Saint-Louis in einem Hotel ab?

Ausser uns offenbar niemand. Der Prosecco schmeckt herrlich. Das Bett ist nicht weich, aber auch nicht zu hart. Im Fernsehen muss man nur zweimal zappen, bis Carla Bruni in einer Talk Show zu sehen ist. Alles ist schön.

Reisen während Corona. Das ist auch ein Versuch, die in Sachen Travelling vollkommen ausser Rand und Band geratene Erlebnisamplitude ein bisschen einzuhegen. Gestern noch Highlife in Saigon. Heute Sightseeing in Saint-Louis. Das Gute ist so nah. Auf der Kreuzung vor dem Hotelfenster steht ein Motorradfahrer an der Ampel und dreht am Gas. Brumm, brumm. Süsser Kerl. Nichts nervt. 

Notizen im Reisetagebuch: Es hat hier sehr viele Banken und noch mehr Bankautomaten. Es gibt ein ausuferndes chinesisches Restaurant an dessen Decke Kronleuchter hängen vom Umfang mittelgrosser Hüpfburgen. Es gibt ein Kino und einen öffentlichen Bücherkasten, mehrere Immobilienmakler und ein Kriegsdenkmal. Auf dem Weg zum Restaurant Le Tyl sehen wir zwischen zwei Häuserzeilen hindurch ausversehen die qualmenden Türme der Basler Kehrichtsverbrennungsanlage. Wahrzeichen der Heimat. Wir schauen einfach nicht hin. 

Im Le Tyl gibt es Flammenkuchen für zirka 10 Euro. Wir nehmen einen mit Speckwürfeln und einen mit Balsamico Dressing drauf, dazu zwei Stangen Bier. Von der Decke hängen weisse Lampions und Dekoration in der Form von Eiszapfen und die anderen Gäste reden französisch. Das vernuschelte Frankophon zupft am Trommelfell wie Carla Bruni auf der Gitarre. Nichts erinnert hier daran, dass 300 Meter Luftlinie entfernt eine kantige, spröde Sprache gesprochen wird. Unsere Sprache.

Später werden wir erfahren, dass man den Elsassien wegen der weichen, fremdländisch klingenden Laute nicht unterschätzen sollte. Aber dort, unter den weissen Lampions im Tyl ist noch alles Heiterkeit und Wonne. 

Nach dem Abendessen noch ein Abendspaziergang durchs Industriegebiet. Es muss an der melancholischen Tageszeit liegen, denn da ist kaum jemand unterwegs. Im Fond eines geparkten Opels am Strassenrand wackelt ein Wackeldackel mit dem Kopf. Nur an der Tankstelle brennt noch Licht. Beim Reisen geht es doch eigentlich stets nur darum, das Eigene im Fremden spiegeln, um dabei zur Erkenntnis zu gelangen: Es ist, wie es ist. Mal ist es hier gut. Mal dort schlecht. Oder umgekehrt. Und welche Farbe die Häuser haben und welche Namen die Pflanzen am Wegesrand ist im Prinzip vollkommen egal. Hauptsache es gibt was zu sehen.

Es ist alles so authentisch hier, so ungeheuerlich echt und original. Auf einem Schaufenster steht Music 2000. Der Laden ist natürlich leer. Auf einem anderen Schaufenster steht: «Saint-Louis – Stadt der Zukunft».

Der Wahnsinn springt am nächsten Morgen aus der Frühstückslektüre. Die lokale Zeitung heisst DNA (Dernieres Nouvelles d’Alsace) und liegt hier schon länger herum, seit Anfang Januar, um genau zu sein. Über die Ereignisse in der Silvesternacht («Saint Silvestre) ist darin Ungeheuerliches zu lesen. 

Allein in Saint-Louis (21’646 Einwohner*innen) brannten in dieser einen Nacht zehn Autos und mehrere Mülleimer. Die Polizei wurde beim Heranrücken in den Quartieren Wallard und Cité du Rail mit Feuerwerkskörpern beschossen. In den Dörfern Obernai und Mutzig brannten sieben Autos. Aber das ist noch nicht alles.

In der Agglomeration der Bezirkshauptstadt Strasbourg brannten nicht weniger als 87 Autos. Die Stadtverwaltung hatte der Bevölkerung für die Silvesternacht vorsichtshalber 18 bewachte Parkhäuser zur Verfügung gestellt mit Platz für 1268 Autos. Die 87 Autos, die trotzdem brannten, hatten offenbar einfach Pech. Die Journalist*innen der DNA rapportieren sich für ihre Silvesterbilanz anhand der brennenden Autos durch die Elsässer Dörfer und wirken dabei relativ abgeklärt. Wenns irgendwo besonders heftig brannte, steht in der Zeitung: La nuit a été particulièrement agitée à Saint-Louis. Undsoweiter. 

Schmeckt wie Flammenkuchen mit Speck

Bajour – jetzt probieren.

Das Frühstück im Hotel de l’Europe schmeckt gut, aber irgendwann beginnen die beiden Kanarienvögel oder Papageien in einem Käfig im Salon ein wenig zu nerven. Sie plappern die ganze Zeit unverständliches Zeugs und ausserdem schlägt die Türe zum Gang hin immer wieder auf und zu. Es ist auch ausser uns überhaupt niemand da. Seit gestern haben wir in diesem Hotel keine Menschenseele gesehen und mit der Zeit wird es einsam in diesem ziemlich grossen, komplett leeren Etablissement im Herzen von Saint Louis. 

Gut, dass die Ferien heute zu Ende gehen. Langsam wirds unheimlich. 

Das Tram zurück in die Heimat geht erst in 40 Minuten. Es bleibt noch Zeit für einen Abschiedsspaziergang in den Géant, das ist ein Supermarkt mit der Verkaufsfläche von zirka 13 Fussballfeldern unweit der Kunstgalerie Fernet Branca. An einer Stelle tropft es im Supermarkt von der Decke. Die Fische in der Pêcherie sind kunstvoll aufgefächert. Es gibt sehr viel exotischen Käse zu kaufen, Berge von Fleisch und über einer Regalschlucht steht als Zusammenfassung der feilgebotenen Gewürze und Teesorten einfach «Maghreb».  

Wir haben jetzt alles gesehen. Beim Check-In an der Tramhaltestelle sagt meine Begleitung, sie freue sich auf zuhause. Aber das Wetter, das werde sie vermissen.

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