Die ausländer*innenfeindliche 70 Prozent-Lüge

Die Debatte um die angeblichen Corona-Schleudern mit Migrationshintergrund dreht sich immer weiter. Die Recherche zeigt: Die These beruht auf heisser Luft. Fakten fehlen. Das hindert die SVP nicht, die Basler Lüge zum nationalen Corona-Politprogramm zu machen. Eine Medienkritik.

Corona
Es ist leicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, Fakten zu liefern nicht. (Bild: Unsplash)

Es begann mit einer ungestützten Falschmeldung. «70 Prozent Migranten in den Spitalbetten», titelte die «Basler Zeitung» am 2. Dezember. SVP-Nationalrat Thomas Aeschi reichte aufgrund des Artikels eine Interpellation ein und spielte Schweizer*innen gegen Migrant*innen aus: Laut «BaZ» würden «viele Schweizer Spitalbetten durch Corona-Heimkehrer aus dem Balkan und durch Wirtschaftsmigranten aus Afrika und arabischen Ländern belegt», schrieb er und wollte vom Bundesrat wissen, wie das Infektions-Verhältnis zwischen Schweizer*innen und Ausländer*innen sei.

Die Antwort des Bundesrats war kurz: «Der Bund verfügt über keine Angaben über die Nationalität der am Coronavirus erkrankten und hospitalisierten Personen. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass der Zugang zum Gesundheitswesen für alle Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz gleichermassen gewährleistet sein muss.»

Stellt sich die Frage: Wie kam denn die «BaZ» auf die 70 Prozent? 

Der Titel machte den Anschein, als handle es sich bei den 70 Prozent um einen Fakt. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Schätzung einer einzelnen Spital-Mitarbeiterin, die anonym bleiben will (das ist ihr gutes Recht).

Es handelt sich um keine Zahl, die empirisch oder vom Spital offiziell erhoben wurde. Anhand ihres Einblicks in die Patientenakten will die Frau aus dem Gesundheitswesen erfahren haben, dass es primär Menschen aus dem Osten betreffe und es insgesamt etwa «70 Prozent Corona-Patienten mit einem Migrationshintergrund» seien. Sie sagt gegenüber der «BaZ»: «Erhoben werden keine Zahlen, aber in den Spitalgängen sprechen wir darüber.» Ihre Schlüsse beziehen sich also auf ihre eigenen Pi-mal-Daumen-Eindrücke und Gespräche vom Gang.

Zitierter Pratteler Gemeindepräsident dementiert «BaZ»-Aussage

Der «BaZ»-Artikel geht auch auf die Corona-Zahlen in Pratteln ein:

«Aufgrund der signifikanten Auffälligkeiten zwischen Infektionszahlen und Migrationshintergrund hat Pratteln auf Gemeindeebene genau hingeschaut und die Ansteckungen bis auf die Quartierebene ausgewertet», heisst es. Gemeindepräsident Stephan Burgunder habe bestätigt, wegen der auffälligen Zahlen aktiv geworden zu sein. 

Was ist da dran? Wir fragen bei Stephan Burgunder nach. Doch der verneint gegenüber Bajour, dass in Pratteln ein besonders hoher Anteil von Corona-Infektionen bei Menschen mit Migrationshintergrund aufgefallen war. Aktiv sei er nicht wegen auffälliger Zahlen, sondern wegen Nachfragen von Seiten der Medien geworden. «Es ist korrekt, dass in Pratteln ein sehr hoher Anteil an Bevölkerung mit Migrationshintergrund lebt. Die Gemeinde kann aber keine Schlüsse auf die Anzahl Infizierter, auch an den Schulen, schliessen.»

Burgunder verweist auf die aktuellen Zahlen in Allschwil: «Die Gemeinde hat einen viel geringeren Ausländeranteil und dennoch gibt's grössere Ausbrüche an der Schule.» Ein weiteres Argument, das sich in Luft auflöst.

«Wir haben keine eindeutigen Auswertungen.»
Rolf Wirz, Baselbieter Gesundheitsdirektion

Es gibt allerdings noch eine weitere Zahl, die die Runde in der Region Basel machte. So hiess es von Seiten des Baselbieter Gesundheitsdepartements: «Wir gehen davon aus, haben aber keine statistisch eindeutigen Auswertungen dazu, dass ein recht grosser Teil, circa 40 Prozent der Neuansteckungen, Menschen mit fremdsprachigem Hintergrund oder einem entsprechenden Umfeld betreffen.» So wird die Baselbieter Gesundheitsdirektion am 25. November in der «BaZ» zitiert. Es werde überlegt, wie «diese Bevölkerungsgruppen» besser erreicht und Corona-Regeln besser durchgesetzt werden können. 

Lautmalerische Erhebung in Baselland 

Wie kommt die Gesundheitsdirektion auf diese Zahl? Nicht per statistischer Erhebung, wie Sprecher Rolf Wirz einräumt. Sondern? Die Behörden sahen die Namenslisten aus dem Contact Tracing durch. «Ausländisch-klingende» Namen wurden gezählt. Bedeutet: Wer Muggli heisst, zählt zu den Schweizer*innen, wer Min Li heisst, nicht.

Das sorgt bei der Soziologin Sarah Schilliger von der Uni Basel für Irritation. Die Herangehensweise sei «methodisch fragwürdig». Offenbar habe die Gesellschaft noch nicht anerkannt, wie sich die Schweizer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten diversifiziert habe: «Neben Meier und Müller sind inzwischen auch Krasniqi, Nguyen oder da Silva sehr häufige Namen von Schweizer Familien. Vielen fällt es offensichtlich schwer, diese Alltagsnormalität einer postmigrantischen Gesellschaft zu anerkennen.»

Keine weiteren Untersuchungen geplant

Fragen wir bei der Baselbieter Gesundheitsdirektion nach: Ist diese Methode genau? «Klar ist das fehleranfällig», sagt Sprecher Wirz. Darum habe er betont, «dass wir keine statistisch eindeutigen Auswertungen dazu haben. Die 40 Prozent sind auch deswegen eher tief gerechnet».

Trotzdem plane der Kanton keine weiteren Untersuchungen zu den Corona-Zahlen im Zusammenhang mit Migrationshintergrund. Es gebe genug Evidenz, um entsprechende Kommunikationsmassnahmen einzuleiten. 

Das entspricht auch dem Ergebnis einer Befragung des BAG bei Fachleuten aus dem Gesundheits-, Integrations-, Asyl-, und Sozialbereich. Dieses besagt, dass die Corona-Informationen noch konsequenter und schneller in niederschwelligen, audio-visuellen Kommunikationsformen bereitgestellt werden sollten.

Auf der Suche nach Sündenböcken

Es ist wichtig, dass die Corona-Zahlen genau ausgewertet werden und klar ist, welche Bevölkerungsgruppen sich häufiger anstecken und wie man sie schützen kann. Problematisch wird es dann, wenn – ungenaue – Zahlen als Fakten dargestellt und politisch ausgeschlachtet werden. So, wie es SVP-Politiker Aeschi mithilfe der «BaZ»-Berichterstattung tat. Oder wie Sarah Schilliger sagte: «Migranten werden zu Sündenböcken gemacht.»

Während es Baselland um eine erhöhte Informationsrate geht, liefern die Daten für die «BaZ» Grund zur Spekulation zum Hintergrund der Ansteckungen. Neben vermuteter erhöhter Reisetätigkeit ins Heimatland und anderen Sozial- und Familienstrukturen stellt der Autor diese Frage in den Raum: «Vielleicht foutieren sich auch gewisse Bevölkerungsgruppen schlicht um die geltenden Corona-Regeln?»

Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Daten gibt es dazu zumindest nicht. «Ergebnisse einer Befragung der Migrationsbevölkerung zu ihrem Informationsverhalten und zu ihrer Covid-19-bezogenen Gesundheitskompetenz werden im Dezember 2020 erwartet», heisst es.

«Der Migrationsstatus ist medizinisch irrelevant.»
Nicolas Drechsler, Sprecher Unispital Basel

Zur Sicherheit haben wir nochmal beim Kantonsspital Baselland nach Daten gefragt. Dort heisst es: «Wir führen keine Statistik über ‹Migrationshintergründe›, weder bei Covid-19 noch bei anderen Behandlungen.» In Basel-Stadt tönt es ähnlich: «Wir erheben den Migrationsstatus nicht systematisch, er ist medizinisch irrelevant. Deshalb werden wir damit auch nicht anfangen», teilt Unispital-Sprecher Nicolas Drechsler mit.

«Dinge, die die Pflege sieht, also der Name einer Person, die Sprache, die sie spricht oder andere äusserliche Merkmale mögen Hinweise auf den Migrationsstatus der Person, ihrer Eltern, Grosseltern oder Urgrosseltern geben, sie sind aber statistisch nicht verwertbar», stellt Drechsler klar. Ausserdem, betont er, habe ein grosser Teil des Pflegepersonals und der Ärztinnen und Ärzte am Universitätsspital Basel einen Migrationshintergrund. «Aktuell haben wir Mitarbeitende aus ca. 60 Nationen.»

Was Covid-19 betrifft, seien die Risikofaktoren zu einem guten Teil bekannt, so Drechsler. «Wenn, dann geht es hier wohl eher um Fragen wie Adipositas (Übergewicht), Tabakkonsum, Diabetes etc. und wie weit sie in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen verbreitet sind. Und um die Wichtigkeit sozialer Kontakte in unterschiedlichsten Kulturen, vielleicht auch um ganz grundsätzliche Dinge wie die Einstellung zu Gesundheit, zu Leben und Tod.» Das seien Fragen der Prävention, die allenfalls das BAG beantworten könne. «Aber eben, das greift alles zu kurz.»

Zurück zur Anfangsfrage: Stecken sich vermeintlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund mit Corona an?

Prattelns Gemeindepräsident Stephan Burgunder sagt: «Einen Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Ansteckungszahlen herzuleiten, erachten wir als heikel. Aussagen dazu seien nicht zielführend.

Die Datenlage gibt es zudem nicht her: «In der Schweiz ist die Datenlage bezüglich des sozio-ökonomischen Hintergrunds von Corona-Infizierten leider mangelhaft – es werden neben Geschlecht und Alter kaum systematisch weitere Daten erhoben», sagte Soziologin Sarah Schilliger im Bajour-Interview. Aber: «Migrantinnen und Migranten arbeiten überdurchschnittlich häufig in Branchen, in denen die Ansteckungsgefahr erhöht ist und Schutzkonzepte weniger greifen: in der Pflege, der Reinigung, auf dem Bau, in der Landwirtschaft, im Detailhandel, in der Logistik.» Zudem würden Menschen, die in diesen häufig prekären Jobs arbeiten, weitaus öfter in engen Wohnverhältnissen leben.

Bajour wollte von SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi und von «BaZ»-Redaktor Daniel Wahl wissen, wie sie zu ihren öffentlich gemachten Aussagen und den hier eingeholten Dementis ihrer vermeintlichen Quellen stehen. Die Antworten stehen bis jetzt aus.

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