Die Geburt der Boulevardmedien
Seltsame Erscheinungen am Basler Himmel, Bilder von missbildeten Tieren – gedruckte Flugblätter waren die sensationsgetriebenen Schundblättchen des 16. Jahrhunderts. Ein Gastbeitrag aus dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums.
Hey History Geeks! Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums erschienen. Dort gibt es regelmässig spannende Geschichten aus der Vergangenheit.
Durch den Buchdruck konnten die Menschen ab Ende des 15. Jahrhunderts mit gedruckten Neuigkeiten versorgt werden. Nicht wenige dieser News waren ungewöhnliche Geschichten, die mitunter auch Angst und Schrecken verbreiten konnten.
Flugblätter waren die ersten Massenmedien der Geschichte. Sie versorgten die Menschen ab Ende des 15. Jahrhunderts mit gedruckten Neuigkeiten. Oft waren sie illustriert, denn viele Zeitgenoss*innen konnten nicht lesen und waren deshalb nur über Bilder anzusprechen.
Ein grosser Teil der Flugblätter berichtet über Himmelserscheinungen. So etwa die Nachricht von einem Sonnenring über Nürnberg vom 12. Mai 1556. Solche Darstellungen, mit hoher Kunstfertigkeit ins Holz geschnitzt und von Hand koloriert, wirken auf den heutigen Betrachter gefällig, teilweise gar dekorativ. Fast alle dieser Erscheinungen lassen sich physikalisch einfach erklären: Im vorliegenden Fall sind es Eiskristalle, welche für einen Ring um die Sonne sorgten. Der Verfasser der Flugschrift sah darin aber ein Zeichen des Himmels und eine Ermahnung, nicht vom rechten Glauben abzukommen. Der rechte Glaube war in jener Zeit der evangelische Glauben, den Martin Luther gepredigt hatte.
Kugelerscheinungen am Basler Himmel
Das Muster wiederholt sich in weiteren Einblattdrucken, so zum Beispiel in einem nur schwarzweiss überlieferten Druck von 1566 aus Basel. Hier werden Kugelerscheinungen am Himmel beschrieben, für die es bis heute keine naturwissenschaftliche Erklärung gibt. Die Erscheinung dürfte aber keine Einbildung gewesen sein, finden sich doch in der zeitgenössischen Literatur weitere Berichte von ähnlichen Beobachtungen. Auch hier werden diese Himmelserscheinungen als göttliches Vorzeichen interpretiert. Der Autor ruft sein Publikum zur Busse und zu einem Gebet für göttlichen Beistand gegen die Türken auf.
Fast ebenso rätselhaft ist die Beschreibung eines Kornregens vom 23. März 1550 in Kärnten. Hier soll es während zweier Stunden Korn vom Himmel geregnet haben – die Bauern hätten das Korn vermahlen und daraus Brot gebacken. Die Geschichte hat die Zeitgenossen so beschäftigt, dass das Flugblatt auch in anderen Regionen nachgedruckt wurde.
Für die Erscheinung fand man im 19. Jahrhundert eine plausible Erklärung: Demnach handelt es sich um eine Flechte, die vom Wind über grosse Distanzen geblasen wurde. Davon wussten die Zeitgenossen im 16. Jahrhundert allerdings nichts. Für sie war es das biblische Manna, das vom Himmel herunterfiel, und natürlich war auch das ein göttliches Zeichen. Ebenfalls vom Himmel fielen Heuschreckenschwärme. Sie sorgten für Angst und Schrecken und sind entsprechend dramatisch dargestellt.
Die Sammlung eines Zürcher Pfarrers
Die Flugblätter wären nicht erhalten, wenn sie nicht ein Zeitgenosse aus dem 16. Jahrhundert sorgfältig gesammelt und aufbewahrt hätte: der Zürcher Pfarrer Johann Jakob Wick (1522-1588). Er erhielt dabei Unterstützung vom Zwingli-Nachfolger Heinrich Bullinger (1504-1575). Wick war wie viele seiner Zeitgenossen erschüttert von den Wirren und Grausamkeiten der Reformationszeit und sammelte über 30 Jahre die Zeichen seiner Zeit.
«Eine Parallele zu 'Fake News' und der Boulevardpresse des 20. Jahrhunderts ist nicht von der Hand zu weisen.»
Für Jakob Wick waren es Zeichen der Endzeit. Nüchtern gesehen waren es Nachrichten, doch keiner machte sich die Mühe, zwischen wahr und falsch, Fakten und Gerüchten zu unterscheiden. Im Gegenteil. Je deftiger eine Geschichte war, desto mehr schien sie die ehrbaren Absichten des meist anonymen Autors zu untermauern. Eine Parallele zu «Fake News» und der Boulevardpresse des 20. Jahrhunderts ist nicht von der Hand zu weisen.
Wickiana, die Sammlung von Jakob Wick, ist also aktueller, als man im ersten Moment denkt. Himmelserscheinungen sind allerdings bei weitem nicht die einzigen Zeugnisse, die der Zürcher sammelte: Bei ihm finden sich auch Berichte von Hexenverbrennungen, Feuersbrünsten oder einer furchtbaren Explosion im Pulverlager des ungarischen Temesvar im Jahr 1576.
Besondere Aufmerksamkeit erhielten in jener Zeit auch Berichte von Missgeburten bei Mensch und Tier. Und hier war man ebenfalls weit entfernt von naturwissenschaftlichen Erklärungen. Missbildungen zeigten sich zudem bei Pflanzen und Tieren. So sind zahlreiche Berichte von Wunderähren erhalten, aber auch der Bericht einer Hornmissbildung bei einem Hirsch.
Am bizarrsten aus heutiger Sicht wirken aber die drastischen Darstellungen der Reformationspolemiken: Eine Jesuitenschule wird hier als Versammlung von Tieren dargestellt. Der Papst erscheint als grosses, hässliches Schwein, die so genannte Papstsau, und spielt auf Papst Paul IV (1476 - 1559) an. Der Papst war ein glühender Verfechter der Inquisition und ein Antijudaist. Die Schüler sind Hunde, die von anderen Hunden unterrichtet werden. Das dürfte eine Anspielung auf den Freiburger Jesuiten Petrus Canisius sein (1521 – 1597). Im Namen Canisius steckt der lateinische Begriff canis für Hund. Die Wickiana ist auch ein Beispiel für die grassierende Judenfeindlichkeit der damaligen Kirche: So findet sich das Bild einer Hinrichtung von zwei Juden, die angeblich zwei Christenkinder kaufen wollten, wohl um einen Ritualmord zu begehen.
Die Sammlung des Pfarrers Johan Jakob Wick in der Zentralbibliothek Zürich wird seit der Reformationszeit sorgfältig gepflegt. Sie umfasst 25 Bände mit über 1000 Illustrationen. 1925 wurden aber die 431 Einblattdrucke aus den gebundenen Büchern herausgelöst, damit sie besser konserviert werden können. Sowohl die handschriftlichen Bände als auch die Einblattdrucke sind digitalisiert und offen zugänglich. Sie gehören deshalb auch zu den meistgefragten Beständen der Institution. In den nächsten Monaten will man die Erschliessung überarbeiten, so dass der Zugang zu den Einblattdrucken noch einfacher wird.