Die Latte wackelt immer noch
Vor dem Spiel Schweiz-Serbien schaut der schweizerisch-serbische Doppelbürger Boban Lapčević zurück auf eine leidenvolle Geschichte als Fussballfan.
Wir schreiben das Jahr 1998. Der alte Röhrenfernseher erfüllt auf der höchsten Lautstärke treu seinen Dienst. Alle paar Minuten klopft mein Onkel schreiend auf den Tisch, mein Vater raucht nervös eine Zigarette. Jugoslawien spielt gegen die Niederlande im Achtelfinale der WM. Ich bin zarte neun Jahre alt.
Jedes Spiel habe ich verfolgt, auf dem Weg in dieses Achtelfinale, welches zum Trauma meiner Generation werden sollte (Kein Scherz - fragt jeden Serben). In der Qualifikation haben wir alles niedergemäht und belegten knapp hinter Spanien den zweiten Platz. In den Play-offs hatten wir dann Ungarn mit einem Gesamtscore von 12:1 «geschlagen».
Vielleicht war der Fakt, dass meine Fussballfan-Karriere genau zu diesem Zeitpunkt begann, nicht gut für mich. Wir hatten das stärkste Team der letzten und nächsten Dekaden. Ich hielt uns für unbesiegbar, da ich auch nach gefühlt 20 Spielen keine schwere Niederlage erleben musste. Was für legendäre Spieler wir damals hatten …
Siniša Mihajlović, der für Lazio Rom einen Hattrick nur mit Freistössen erzielen konnte. Predrag Mijatović, der nur kurz zuvor das Siegtor für Real Madrid erzielte, für den ersten Champions-League-Titel seit 32 Jahren. Dejan Stanković, Vladimir Jugović, unser aktueller Trainer Dragan Stojković. Sieger des Europapokals der Landesmeister, Spieler aus den Top-Ligen Europas.
Die Schweizer Kommentatoren im Fernsehen nannten uns «Die Brasilianer Europas». Gegen die Niederlande stand es nun 1:1. Ich hatte noch nie solch ein hartes Spiel mit so vielen Fouls gesehen. Zweifelsohne sollten schon mindestens zehn rote Karten verteilt worden sein. Normalerweise sollten doch wir «Jugos» die härteren Spieler sein, was bildeten sich die Niederländer hier ein, mit ihren Fouls?
Ich begann nervös zu werden. Plötzlich ein Angriff. Jugović im Sechzehner. Jaap Stam hält und zieht ihn zu fest am T-Shirt. Der Pfiff ertönt und mein Vater schreit auf. Mein Onkel flucht, feiert, und flucht noch mehr: «Jaaa, genau, du Scheiss Glatzkopf, das gibt Penalty!!»
Der serbische Kommentator rastet aus. Mijatović legt sich den Ball zurecht. Sein Name steht auf dem Trikot, welches ich trage. Im Tor steht Edwin van der Sar. Der Beste seiner Zeit. Mein Held, mein Idol, schiesst den Ball mit jedem Muskel, jeder Zelle seines Körpers, so hart er kann. Hätte er Van der Sar am Kopf getroffen, wären es heute 24 Jahre nach seinem Tod. Stattdessen sind es 24 Jahre, seitdem die Latte wackelt. Ja, sie wackelt immer noch. Genauso wie unsere aktuelle Verteidigung. Die Mannschaft sollte sich davon nicht erholen. Bis heute nicht. Wir verlieren 1:2 und ich weine.
Boban Lapčević wohnt im Kanton Zürich und ist schweizerisch-serbischer Doppelbürger. Er ist Autor und hat unter anderem das Buch «FK Partizan Belgrad – Fussballfibel» geschrieben.
Zwei Jahre später bietet sich die Chance auf Revanche. Es ist die EM in Belgien und den Niederlanden. Beim Feind. Viertelfinalgegner: Niederlande. Die Schweizer Kommentatoren schwärmen wieder von den Brasilianern Europas. In der Vorrunde hatten wir einen 0:3-Rückstand gegen Slowenien innerhalb von sechs Minuten auf 3:3 ausgeglichen. Trotz Unterzahl. Die Schweizer schwärmen. Savo Milošević wird Torschützenkönig, doch die Niederländer nehmen uns auseinander wie eine Schweizer Uhr bei der Reparatur: 1:6.
So geht es die nächsten Jahre weiter, nur dass wir uns immer seltener für die grossen Turniere qualifizieren und immer öfter gegen die kleinen Teams verlieren. Die Schweizer Kommentatoren schwärmen immer noch, wenn wir es dann mal schaffen. Sie nennen uns «Favorit» und das macht es nur schlimmer. Irgendwann nehmen die Komplimente ab. Ich entscheide mich, den Fokus meiner Liebe auf Partizan Belgrad zu richten. Da weiss wenigstens jeder, dass wir «scheisse» sind. Falls wir mal gewinnen, freue ich mich umso mehr. Bei der Nationalmannschaft ist es umgekehrt.
Alle denken, wir sollten gewinnen, doch was passiert? Wir blamieren uns. Ich schaue die Spiele nicht mehr. Doch es passiert immer wieder, man hört etwas in den Medien, die Hoffnung wird geweckt. Was? Wir haben gegen Deutschland gewonnen? (WM 2010) Ich denke mir: «Okay, vielleicht haben wir jetzt endlich wieder ein gutes Team. Vielleicht wird es jetzt anders.»
Ich packe ein paar Pyros ein und gehe mit meinen Freunden ans Public Viewing, um beim nächsten Entscheidungsspiel zu feiern. Stattdessen werden wir von Australien vorgeführt wie Schuljungen und scheiden aus. Vidić, der Möchtegern-«Beste Verteidiger der Welt», ist mehr wert als die fünf teuersten Gegenspieler zusammengerechnet. Für Manchester United blutet er, für unser Team bleibt er blass.
Es ist ja in Ordnung, dass der Underdog mal gewinnt. Warum gewinnen wir aber nie als Underdog? Wir verlieren lieber 0:6 gegen Argentinien (WM 2006) nachdem wir in der Qualifikation das Team mit den wenigsten Gegentoren waren. Die einen sagen, es liegt an der Mentalität, die anderen kritisieren das Verhalten der Spieler und ihre Motivation. Wer weiss, vielleicht liegt es an der Latte, die immer noch wackelt.
Die aktuelle WM wollte ich eigentlich gar nicht verfolgen. Doch ich bekomme in den Medien natürlich mit, dass wir in der Qualifikation Gruppenerster werden. Wir haben Portugal inklusive Ronaldo geschlagen. «Nein, nein», sage ich mir. Nicht schon wieder. Liveticker reicht aus. Oder ich google die Resultate nach dem Spiel.
Trotzdem erwische ich mich wenig später dabei, wie ich das Spiel gegen Kamerun im Schweizer Fernsehen live mitverfolge. Verblüfft starre ich auf das vorläufige Resultat: 3:1 für uns. Ich bin zu erfahren und meine Fan-Seele ist zu gezeichnet, als dass ich mich schon freuen würde. Zu Recht. Selbst wenn Bayern München in der zweiten Halbzeit gegen den Tabellenletzten 3:1 führt, stellen sie auf die Defensive um. Was machen wir? Weiterhin Pressing auf der Mittellinie. Innerhalb von drei Minuten kassieren wir den Ausgleich. Um das Ganze noch schlimmer zu machen, verliert die Schweiz gegen Brasilien. Ich hatte mit einem Unentschieden gerechnet. Somit müssen wir jetzt noch etwas länger die Marter der Hoffnung ertragen.
Mein liebster Schweizer Spieler war schon immer Alex Frei. Der letzte klassische Stürmer. Wie ich in meiner Kindheit. Er kämpfte immer bis zur letzten Sekunde und wollte sein Tor machen. Auch wenn das Spiel schon längst verloren schien. Mit den aktuellen Spielern kann ich mich - um es mal diplomatisch auszudrücken - weniger identifizieren. Dennoch; als die Schweiz Frankreich im Elfmeterschiessen rausgehauen hat, habe ich mich brutal gefreut.
Zu Freis Zeiten war die Schweizer Nationalmannschaft weniger erfolgreich als jetzt. Doch sie hat sich im Gegensatz zur Serbischen weiterentwickelt. Das Spiel ist frecher geworden. Man nimmt sich die Zeit etwas aufzubauen und wechselt nicht alle zwei Jahre den Trainer. So sind sich die Schweizer ihrer Stärken und Schwächen bewusst und haben keinen unnötig übertriebenen Respekt vor den «grossen» Favoriten. Nur so war der Sieg gegen Frankreich auch möglich.
Klar, die Doppeladler-Aktion hat genervt, aber ich bin ein erfahrener Fussballfan. Manchmal will man den Gegner einfach aufs Übelste provozieren. Das machen ich und meine Partizan-Fans auch so. Vielmehr sollte es uns Serben stören, dass wir verloren haben. Wir sind Fussballfans und sie sind Fussballspieler; Politiker sind wir nicht.
Die Schweizer Nationalmannschaft hat ein kompaktes, erfahrenes Team mit einem der besten Torhüter weltweit. Die Spieler sind bescheiden. Serbien hat einen 80 Millionen Star-Stürmer (Vlahović), der auf der Bank sitzt. Angeblich wegen einer Verletzung. Das bezweifle ich. Die Spieler klopfen grosse Sprüche für die Medien. «Das Spiel unseres Lebens». Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich das Spiel am Freitagabend schauen werde. Ach, ich werde es schauen. Die Schweiz wird weiterkommen. Definitiv. Hätte ich ein Haus, würde ich es darauf verwetten. Doch ich bin nicht gut im Wetten. Ich überlege.
Die Latte wackelt immer noch. Seit 1998. Aber okay, vielleicht haben wir jetzt doch endlich wieder ein gutes Team. Vielleicht wird es jetzt anders.
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