Die Schwächen unseres Systems

Die Corona-Krise zeigt uns nach wenigen Wochen schonungslos: Unser Wirtschaftssystem funktioniert nicht wirklich. Ist das eine Chance zum Neustart? Standpunkt von Wirtschaftsexperte Werner Vontobel.

Immer höher, immer weiter: Pudong Buildings in Shanghai.
Immer höher, immer weiter: Pudong Buildings in Shanghai.

Der Lockdown zeigt, dass wir mit einer Wirtschaft leben, in der wir uns das ökologisch notwendige Sparen aus ökonomischen Gründen nicht leisten können. Es sei denn, wir lernen dazu.

Das Corona-Virus bedroht einige, die Klimaerwärmung bedroht alle. Mit dem Lockdown und dem damit erzwungenen Konsumverzicht kämpfen wir an beiden Fronten zugleich. Seit gut einem Monat konsumieren wir deutlich weniger, reisen kaum noch, gehen nicht mehr ins Restaurant und kaufen weniger Klamotten. Prompt ist die Luft sauberer geworden, wir emittieren viel weniger C02, der Lärmpegel sinkt, der ökologische Raubbau ist zwar noch nicht gestoppt, hat sich aber verlangsamt.

Weniger Arbeit ist nicht das Grundsatzproblem

Gleichzeitig werden aber auch die Stimmen lauter, die uns sagen, dass wir uns diesen Konsumverzicht nicht mehr lange leisten können. Besonders laut hat dies etwa Markus Somm in einer Kolumne in der SonntagsZeitung vom 18. April 2020 gesagt: «Es ist ein Zerstörungswerk im Gange, dessen Ausmass wir noch gar nicht abschätzen können. 4 bis 8 Milliarden kostet uns der Lockdown jede Woche. Man fragt sich, warum die Bundesräte nicht noch heftiger erschrecken, weil auch der Staatshaushalt auf lange Sicht zerrüttet wird.»

Da ist etwas dran. Weniger Konsum heisst weniger Arbeit. Das wäre kein Problem, wenn alle weniger arbeiten, und entsprechend weniger konsumieren und verdienen. Doch so läuft der Hase nicht. Vielmehr stellt sich die Sache – vereinfacht dargestellt – so dar: Etwa drei Viertel der Schweizer arbeiten und verdienen wie bisher, konsumieren aber etwa 30 Prozent weniger und sparen so fünf Milliarden pro Woche.

«Dieses Geld fehlt dem anderen Viertel, das in der Krise Arbeit und Verdienst verloren hat.»

Genau dieses Geld fehlt aber dem anderen Viertel, das in der Krise Arbeit und Verdienst verloren hat. Damit dieses Viertel überleben kann, müssen pro Woche fünf Milliarden transferiert werde. Das geschieht zum Teil schon im privaten Rahmen. Die Leute unterstützen «ihre» Lieblingsbeiz,  «ihren» Coiffeur oder «ihr» Fitnesszentrum.

Rechnen wir mal durch:  

Nehmen wir dennoch an, dass die ganzen fünf Milliarden durch staatliche Zuschüsse wie Kurzarbeitsgeld und Sozialhilfe, sowie durch staatlich garantierte Bankkredite finanziert werden.

Angenommen die Krise dauere 16 Wochen, dann kostet das den Staat 80 Milliarden Franken. Diese Ausgabe mitten in der Krise mit zusätzlichen Steuern zu finanzieren, wäre gefährlich. Also muss der Staat Schuldscheine (etwa Bundesobligationen) ausgeben. Diese werden grossmehrheitlich von denen gezeichnet, die dank dem (erzwungenen) Konsumverzicht 80 Milliarden zusätzlich auf die Seite legen konnten. Dieses – stark vereinfachte – Modell macht klar, dass es sich hier um ein Nullsummenspiel handelt.

«Wir haben 'nur' ein Verteilungsproblem.»

Der Staat muss sich zwar um 80 Milliarden verschulden, aber einige Bürger*innen sind um  80 Milliarden Guthaben reicher geworden. Die Schweiz insgesamt wird durch die Krise nicht ärmer, die  Produktionskapazitäten bleiben erhalten. Wir haben «nur» ein Verteilungsproblem.

Lösen wir dieses Problem, hält sich die Einbusse an Lebensqualität in engen Grenzen. Wir konsumieren zwar etwas weniger, müssen aber auch weniger arbeiten. Ans Lebendige geht es erst, wenn wir dieses Verteilungsproblem nicht lösen, wenn wirtschaftliche Sorgen unsere Gesundheit zerrütten, wenn soziale Unruhen oder gar Aufstände drohen.

Umwelt-Raubbau macht uns alle ärmer

Anders stellt es sich bei den Umweltschäden dar – etwa wenn wegen der Dürre die Ernte ausfällt. Oder wenn wie in Australien Wälder und ganze Quartiere abbrennen. Der Raubbau an der Umwelt macht uns alle ärmer. Diese Schäden lassen sich nicht mit ein wenig Umverteilung reparieren.

Damit ist klar: Der Schutz der Umwelt muss im langfristigen Interesse aller Vorrang haben gegenüber der Stabilisierung oder gar Steigerung des Konsums.

Nicht einfach zurück zum alten Pegelstand

Daraus folgt, dass es bei der Aufhebung des Lockdowns nicht einfach darum gehen darf, den alten Pegelstand von Arbeit, Konsum – und Umweltbelastung mit den üblichen Ankurbelungsprogrammen möglichst schnell wieder zu erreichen.

«Wir sollten die Chance eines Neustarts nutzen, um unsere Wirtschaft resistenter zu machen.»

Vielmehr sollten wir die Chance eines Neustarts nutzen, um unsere Wirtschaft resistenter zu machen gegen künftige Pandemien und Umweltkatastrophen.

Zu diesem Zweck müssen wir vor allem den Verkehr reduzieren. Allein die individuelle Mobilität verursacht gut 40 Prozent unserer Klimabelastung, mit dem Transport von Gütern kommen weitere gut 15 Prozent dazu. 

Mehr lokal konsumieren, weniger abhängig

Wie der dramatische Rückgang des Erdölpreises zeigt, sind diese Umweltkosten durch den Lockdown massiv gesenkt worden. Einen guten Teil dieser Einsparungen können wir in die neue Normalität retten, etwa indem wir weiterhin mehr von zu Hause aus arbeiten, indem wir weiterhin mehr lokale und saisonale Lebensmittel konsumieren.

In den vergangenen Wochen hat der Staat sehr einschneidend in unser Leben eingegriffen, und damit vielleicht ein paar hundert Menschenleben gerettet. Er könnte mit milden Massnahmen wie Aufklärungskampagnen, gesunder Ernährung als Schulfach und einem Werbeverbot für zuckerhaltige Drinks und Snacks übers Jahr Tausende von Menschenleben retten sowie die Gesundheitskosten massiv reduzieren.

Zweiter Frühling fürs Grundeinkommen

Doch weniger Verkehr und Gesundheitsausgaben bedeuten auch einen beschleunigten Abbau von Jobs. Es werden nicht alle durch die Corona-Krise stillgelegten Jobs zurückkommen.

Das Verteilungsproblem bleibt. Wir könnten es – wie bisher – durch Transferzahlungen entschärfen: Dazu müssten wir bloss die zeitlich befristete Kurzarbeitsgelder durch permanentes Grundeinkommen ersetzen. Diese Idee erlebt jetzt einen zweiten Frühling. 

Ausgebrannte «Sieger*innen» der Gesellschaft

Doch damit würden wir bloss den jetzt schon bestehenden ungesunden Zustand verewigen, in dem ein Grossteil der Schweizer*innen mit ihrer Arbeitswut ihre Gesundheit aufs Spiel setzen und den anderen den Job wegnehmen oder nur eine Teilzeitstelle übrig lassen.

Eine ausufernde Sozial- und Arbeitsmarktbürokratie stopft die grössten finanziellen Löcher und das Lazarett unseres Gesundheitssystem päppelt die ausgebrannten «Sieger*innen“ dieses Kampfes wieder auf und sediert die, die im Sesseltanz um die schwindenden Jobs leer ausgegangen sind.

Die 42-Stunden-Woche ist nicht mehr zeitgemäss 

Klar: Aus rein betriebswirtschaftlicher Sicht ist es effizienter, dasselbe Arbeitsvolumen mit 50 statt mit 70 Angestellten zu bewältigen. Doch sozial und volkswirtschaftlich gesehen, ist das sture Festhalten an der inzwischen bald 40 Jahre alten 42-Stunden-Normwoche eine extrem teure Angelegenheit.

Wir handeln uns damit ein durchaus vermeidbares Verteilungsproblem ein, wir verwandeln die dank dem Produktivitätsfortschritt gewonnene Freizeit in Arbeitslosigkeit um und bauen in unsere Wirtschaft einen «Wachstumszwang» ein, der das ökologische Fundament unseres Wohlstands zerstört.

Jetzt gibt uns ein Virus einen Wink.

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Werner Vontobel ist gebürtiger Basler und einer der bekanntesten Wirtschaftsjournalisten der Schweiz. Auf Bajour bringt er sich regelmässig zu volkswirtschaftlichen Themen, konjunkturpolitischen Grundsatzdebatten und ökonomischen Sinnfragen ein.

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