«Die Uni Basel sollte Nietzsche einen angemessenen Stellenwert geben»

Die Unesco nimmt den literarischen Nachlass von Friedrich Nietzsche ins Weltdokumentenerbe auf. Für die vollständige Edition des Nachlasses fehlt aber künftig Geld. Ein Gespräch mit dem Basler Nietzsche-Forscher Hubert Thüring über einen streitbaren Philologen und Philosophen.

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Hubert Thüring forscht an der Uni Basel über Friedrich Nietzsche. (Bild: Adobe Stock, Valerie Wendenburg (Collage Bajour))

Hubert Thüring, welche Rolle spielt Basel im Leben von Friedrich Nietzsche?

Eine grosse. Es ist kaum bekannt, dass Nietzsche an keinem Ort so viel Lebenszeit am Stück verbracht hat wie in Basel. Er ist bereits mit 24 Jahren als Professor für klassische Philologie an die Uni Basel berufen worden, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal seine Promotion abgeschlossen hatte. Der Doktortitel wurde ihm ehrenhalber von der Universität Leipzig nachgereicht. Nietzsche selbst hat diese frühe Berufung nach Basel als «Fluch seines Lebens» bezeichnet.

Warum?

Weil er so früh eine grosse Verantwortung und gesellschaftliche Verpflichtung übernehmen musste, womit er unter anderem seine gesundheitlichen Probleme in Zusammenhang brachte. Er hat von 1869 bis 1879 in Basel gelehrt und geforscht und nach seinem Ausscheiden aus dem Universitätsdienst noch zehn Jahre lang Pension von der Stadt Basel erhalten. Die Stadt hat auch nach seinem Zusammenbruch noch zu ihm gehalten.

Nietzsche hat in vielen Bereichen gewirkt, er ist umstritten, gilt aber auch als Kultautor und -philosoph. Woran liegt das?

Es gibt aus meiner Sicht mehrere Gründe. Zum einen ist Nietzsche ein grossartiger, philosophischer Schriftsteller. Bekannt ist er auch aufgrund der Schlagworte, die er geprägt hat, wie den «Übermenschen». Man tut Nietzsche aber Unrecht, wenn man ihn auf diese Begriffe reduziert, denn «der Mensch» war für ihn ein unabgeschlossenes Konzept, an dem er sich abgearbeitet hat. Er ist ein origineller und kritischer Denker von bleibender Aktualität. Einen weiteren Grund für seine Bekanntheit hat er sicher auch seiner Schwester zu verdanken, die seinen Nachlass zusammengetragen, die Schriften dann aber für ihre Interessen missbraucht hat.

Inwiefern?

Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche war eine Rassistin, Nationalistin und Antisemitin. Nach Nietzsches Zusammenbruch übernahm sie seine Pflege und später die Verwaltung seines Nachlasses. Schon vor seinem Tod 1900 versuchte sie, sein Werk im Sinne ihrer eigenen ideologischen Ansichten umzudeuten. Was später dazu führte, dass Nietzsche in der Zeit des Nationalsozialismus von den Nazis vereinnahmt wurde, obwohl er selbst anti-nationalistisch und machtkritisch dachte.

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Weltdokumentenerbe

Das Weltdokumentenerbe (Memory of the World) ist ein Programm der Unesco, das 1992 ins Leben gerufen wurde. Ziel ist es, bedeutende Dokumente, Handschriften, audiovisuelle Medien und Archivbestände von weltweitem kulturellem Wert zu erhalten, zu schützen und zugänglich zu machen. Beispiele sind die Gutenberg-Bibel, die Magna Charta oder der Schubertring von Ludwig van Beethoven. Das Programm soll das Bewusstsein für die Bedeutung des schriftlichen Kulturerbes stärken.

Hat Sie das überrascht, dass sein Nachlass zum Weltdokumentenerbe erlaubt worden ist? 

Nein, überhaupt nicht. Es hängt sicher auch damit zusammen, dass sein Nachlass relativ breit ist. Sehr viele Dokumente sind sehr gut erhalten. 

Was bedeutet das Weltdokumentenerbe für die Uni Basel?

Für die Universitätsbibliothek Basel, wo ein kleinerer Teil seines Nachlasses gepflegt wird – der Hauptteil befindet sich im Goethe und Schiller-Archiv in Weimar –, für mein Team und für mich als Forscher heisst das natürlich, dass unsere Arbeit im Moment eine grössere Sichtbarkeit geniesst. Ich denke, dass die Uni Basel sich schon länger darauf hätte besinnen sollen, dass Nietzsche einer der berühmtesten Basler Universitätsgelehrten gewesen ist. Dass sich die Uni ihm gegenüber bisher so spröde verhalten hat, hat vermutlich damit zu tun, dass er immer als Deutscher wahrgenommen wird, obwohl er den grössten Teil seines Erwachsenenleben in der Schweiz, vor allem in Basel und Sils Maria, und auch in Italien lebte, und sicher auch mit seinem Ruf als nach wie vor «verdächtiger» Philosoph.

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Friedrich Nietzsche lebte in Basel am Spalentorweg 48, wo eine Gedenktafel an ihn erinnert. (Bild: Valerie Wendenburg)

Wieso hat er diesen Ruf?

Zum einen hat das sicher mit den bereits erwähnten Schlagwortbegriffen des «Übermenschen» oder des «Willens zur Macht» zu tun. Sie wurden aus dem Kontext gerissen – und auch der Kontext selbst wurde teils massiv gefälscht. Im Kontext aber sind es kritische Konzepte, die immer – und heute mit besonderer Aktualität – angewandt werden können. Zum anderen vertrat Nietzsche eine aristokratische Gesellschaftsordnung, aber hier muss sofort hinzugefügt werden, dass sein Rangdenken von geistigen bzw. intellektuellen und kreativen Werten bestimmt war. 

Inwiefern?

Lesen Sie ein paar Seiten Nietzsche, und Sie sehen, dass das eine sehr anspruchsvolle Lektüre ist. Die Schweiz ist ziemlich intellektuellenfeindlich eingestellt, wobei Basel sicherlich zu den toleranteren Zonen gehört. Nietzsche galt und gilt wie gesagt als ausgesprochen deutsch, obwohl er die «Verschweizerung» für Reichsdeutsche als heilsam empfohlen hat. Er wäre eigentlich ein guter Markenbotschafter für die intellektuellen Leistungen der Schweiz.

«Ich kann mir kaum erklären, warum die Universität Basel nie den Namen Nietzsche als Label aufgenommen, sondern sich vielmehr von ihm distanziert hat.»
Hubert Thüring, Nietzsche-Forscher

Sind die Vorbehalte ihm gegenüber doch auch berechtigt?

Er hat zu einer anderen Zeit geschrieben und man muss sein Werk vor diesem Hintergrund lesen. Die biologischen Vorstellungen, die man zum Teil bei ihm findet, sind aber sicher nicht biologistisch-rassistisch. Er hat nie einen solchen Begriff von Rasse verwendet. Trotz der genannten Gründe kann ich mir nach intensiver Beschäftigung mit Nietzsches Werk kaum erklären, warum die Universität Basel nie den Namen Nietzsche sozusagen als Label aufgenommen, sondern sich vielmehr von ihm distanziert hat. 

Findet nun ein Umdenken statt?

iIm Moment macht es den Anschein. Dieses Jahr werden im August zu seinem 125. Todestag einige Anlässe organisiert. Dadurch wird Nietzsche sicher eine grössere Sichtbarkeit in Basel erfahren. Dennoch hat die Uni es bisher verpasst, eine Friedrich-Nietzsche-Forschungsstelle einzurichten, die ein Aushängeschild für die Bewahrung, Erforschung und Editierung seiner Dokumente und anderer bedeutender dokumentarischer Bestände sein könnte.

Hubert Thüring
Zur Person

Hubert Thüring ist Universitätsdozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel. Er hat sich mit der Friedrich Nietzsches Denken und Schreiben und mit der Edition der Texte beschäftigt und forscht unter anderem auch zu Schweizer Autor*innen wie Robert Walser, Friedrich Glauser oder Mariella Mehr. Ein aktueller Schwerpunkt ist Literatur und Arbeit in der Schweiz. 

Sie haben viele Werke bereits editiert. Ist das Projekt abgeschlossen? 

Mein Team an der Uni Basel hat in 20 Jahren Arbeit die späten Notiz- und Arbeitshefte (1885-1889) aus dem Nietzsche-Nachlass ediert, also wissenschaftlich herausgegeben und in unverfälschter Form zugänglich gemacht. Das Projekt wurde 2021 abgeschlossen, entstanden sind 13 Bände, die letzten beiden sind auch digital zugänglich.

Wer hat diese Editionsarbeit finanziert?

Ich habe das Projekt zwölf Jahre lang betreut und etwa sechs Anträge beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gestellt. Es war immer schon schwierig, Mittel dafür zu erhalten. Wir haben 2021 drei Jahre finanziert bekommen für eine Pilotedition des Druckmanuskripts von «Zur Genealogie der Moral», eines der wichtigsten Werke. Leider wurde eine Verlängerung des Projekts zur Edition der weiteren Druckmanuskripte seitens des SNF im Herbst 2024 abgelehnt. 

Was bedeutet das?

Es fehlen Gelder, um den ganzen Nietzsche-Nachlass nach den von uns entwickelten Massstäben zu edieren. Die Herausgabe einiger Manuskripte bleibt also auf der Strecke. Es ist leider so: Der SNF möchte langjährige Editionsprojekte nicht mehr unterstützen. Ich denke, es wird in der Schweiz diese Art von Langzeitforschung an Dokumenten bald gar nicht mehr geben. Für das Wissenschafts- und Forschungsverständnis finde ich das sehr bedenklich, denn es gibt viele sehr bedeutende Dokumente, die noch nicht untersucht worden sind. Aber im Forschungsrat des SNF herrscht die – ich finde ideologisch geleitete und wissenschaftlich unhaltbare – Meinung, dass es sich bei der Erforschung und Edition von Dokumenten bloss um technische Operationen auf der Basis von digital einfach zu entwickelnder Infrastruktur handelt.

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Nahe des Spalentors befindet sich der Nietzsche-Brunnen in Basel. (Bild: Valerie Wendenburg)

Sind die Chancen für eine Finanzierung jetzt besser, da Nietzsches Nachlass Weltdokumentenerbe ist?

Im Moment sind die Würfel gefallen. Aber es gibt im Nachlass hier, aber vor allem in Weimar immer noch Bestände, die nicht adäquat erforscht sind. Und daher auch nicht adäquat zugänglich gemacht werden können. Darauf sollte die Uni jetzt aufmerksam machen und die Gunst der Stunde nutzen.

Wie gross ist das Interesse der Uni, Nietzsche nun eine grössere Ehre zu erweisen?

Es scheint nach wie vor mässig zu sein. Nietzsche hat es in der öffentlichen Wahrnehmung heutzutage auch deshalb schwer, weil er als maskuliner Denker wahrgenommen wird. Der späte Nietzsche hat sich auch klar misogyn geäussert. 

Das ist schwer zu vermitteln …

Ich plädiere für eine neue Lesart: Nietzsche ist ein Denker, der so interessant ist, dass man ihn immer gegen den Strich bürsten kann. Anhand seiner Misogynie kann man sehen, wie genau er die Emanzipationsbewegung der Zeit erkannt und analysiert hat wie kaum ein anderer. So hat übrigens schon die kürzlich verstorbene Basler Philosophin Annemarie Pieper argumentiert. Und es gibt Belege dafür, dass der junge Nietzsche in Basel an der Uni dafür gestimmt hat, dass Frauen zum Studium zugelassen werden sollten.

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Der Pass von Nietzsche befindet sich im Basler Staatsarchiv. (Bild: zVg)

Nietzsche hat das Thema der Machtausübung – nicht nur zwischen den Geschlechtern – sehr fasziniert.

Ja, hier ist besonders die Lektüre seiner Streitschrift «Zur Genealogie der Moral» lehrreich. Darin stellt er Fragen wie: Kann Recht überhaupt Gerechtigkeit schaffen? Gibt es Gerechtigkeit zwischen Schwächeren und Stärkeren? Mit diesen Fragen befasst sich ein Nietzsche-Kolloquium in Sils Maria zum Thema «Gerechtigkeit und Gewalt», das ich mit organisiert habe. Er setzt sich auch mit modernen Straftheorien auseinander und kommt zum Schluss, dass es keine ursprüngliche Idee vom Zweck des Strafens gibt. Seiner Ansicht nach hat der Mensch von jeher den Impuls, anderen wehzutun. Aber: Er, der ein extrem schüchterner Mensch war, spricht sich nie für Bestrafung oder Gewalt aus, er analysiert lediglich. Nietzsche kommt zu der Erkenntnis, dass der Mensch auch und immer noch ein Raubtier ist und Lust an Grausamkeit verspürt. Im Endeffekt fragt er sich immer: Wie sind wir geworden, was wir sind?

Nietzsche ist also heute noch sehr aktuell.  

Absolut. Und daher vertrete ich die Meinung, dass die Uni Basel gut daran tun würde, Nietzsche endlich einen angemessenen Stellenwert zu geben. Es würde unserer Uni nicht nur innerhalb der Schweizer Universitätslandschaft, sondern auch international gut zu Gesicht stehen, ihn als bedeutsamen Basler Wissenschaftler angemessen zu würdigen.

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

Kommentare

ABCD
27. Mai 2025 um 16:54

der fröhliche Nietzsche

Basel ist eine eigentümliche Stadt. Vom Ausland kommender oder einer anderen Region aus der Schweiz wird es einem oft nicht einfach gemacht, sich in dieser Stadt zu sozialisieren. Warum das so ist, ist eine schwierige Frage. Mit der Zeit trotz der Bemühungen wird man dann genervt. Vielleicht ist das Nietzsche passiert, und er ist weggezogen. Seine Gesellschafts- und Machtkritik ist heute sehr nötig, aber man muss aufpassen, sonst wird man (psychiatrisch) als "Querulant" gestempelt und als Nörgler bezeichnet. So hat er für mich seinen Übermenschen und seinen Willen zur Macht verstanden: Über dem Allzumenschlichen zu stehen und die Kraft und Macht über sich selber zu haben, um sich für Gerechtigkeit einzusetzen und notwendige Kritik einzubringen ohne daran zugrunde zu gehen. Wohlwissentlich den Spagat aushaltend, dass man auch nur ein Mensch mit seinen Fehlern und Irrtümern ist. Dennoch wird er beim Denken und Schreiben seiner Texte immer wieder kräftig abgelacht haben, wie Kafka u.a.

Marcel Craps
31. Mai 2025 um 18:01

DCBA

Genf ist wie Basel: reformiert, darum in der Schweiz, aber nicht schweizerisch. Als der gute Friedrich hier lebte war Basel tiefste Provinz, heute im Geiste vielleicht immer noch, wie viele andere Städte von denen anderes erzählt wird. Wie würde Nietzsche in der heutigen Zeit ticken? Keine Ahnung aber es ist lange her, dass Europa solche Denker hervorgebracht hat.