«Volle Energie für das, was gerade läuft»
Die beiden Basler Forscher*innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey werden heute in München mit dem Geschwister-Scholl-Preis für ihr Buch «Zerstörungslust» ausgezeichnet. Wir haben das Paar getroffen und mit beiden über ihre gemeinsame Arbeit und ihr Leben in Basel gesprochen.
An einem herbstlichen Montag schlagen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ein Treffen im Restaurant Harmonie vor, einem ihrer Lieblingslokale in Basel. Sie mögen den Ort nicht nur, weil er wenige Schritte vom Soziologischen und Germanistischen Institut entfernt liegt. Die urige Atmosphäre hat es den beiden angetan, und auch die Speisen sind nach ihrem Geschmack. Sie bestellt Kasseler, er Rösti mit Leberli, den Nüsslisalat vorweg teilen sie sich – wie so vieles im Leben.
Heute wird dem Wissenschaftspaar der Uni Basel gemeinsam der Geschwister-Scholl-Preis in München verliehen. Sie erhalten die Auszeichnung für ihr jüngst erschienenes Sachbuch «Zerstörungslust», das auf der Bestenliste auf Platz 1 der Sachbücher des Monats November steht.
Carolin Amlinger ist Soziologin und Literaturwissenschaftlerin und Projektleiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel.
Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Für sein Buch «Die Abstiegsgesellschaft» wurde er 2017 mit dem Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
Amlinger und Nachtwey haben sich an der Uni Trier kennengelernt und arbeiteten, bevor sie 2017 nach Basel kamen, beide am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Im Moment sind beide auf Lesereise, vor allem in Deutschland, aber auch in der Schweiz und Österreich. Nachtwey ist wenige Stunden vor dem Treffen mit Bajour aus Wien zurückgekehrt und schon wieder auf dem Sprung nach Zürich, wo er zu einem internen Anlass der UBS eingeladen ist. «Im Moment geht es Schlag auf Schlag, und wir sind ziemlich platt, aber natürlich froh, unser Buch an so vielen Orten präsentieren zu können», sagt er.
Immer wieder aber fällt sein Blick auf seine Uhr, denn die Termine sind eng getaktet. Weil sie zu zweit sind, teilen sie sich auf. «Ich reise zum Beispiel alleine zu einer Lesung ins Literaturhaus nach Stuttgart, während Oliver dann hier die Stellung hält», sagt Amlinger, die an diesem Montag direkt nach dem Lunch ihren gemeinsamen achtjährigen Sohn aus der Schule holt. «Wir müssen uns einfach gut organisieren.»
«Wir sind eine Produktionsgemeinschaft, bei der keiner auf der Strecke bleibt.»Carolin Amlinger, Soziologin und Literaturwissenschaftlerin
Auf die Frage, ob das nicht leichter gesagt als getan ist, schmunzeln beide. Denn neben der Lesereise läuft in Basel ihr Uni-Alltag mit Vorlesungen, Seminaren und Sprechstunden normal weiter. Auf seinem Tisch stapeln sich zusätzlich Masterarbeiten, die korrigiert werden müssen. Ihren Sohn betreuen sie abwechselnd oder – bei Auftritten zu zweit – auch mal mithilfe der Grosseltern.
Für ihr Privatleben sei das gemeinsame Arbeiten vor allem ein Gewinn: «Weil wir nicht nur ein Paar sind, sondern auch zusammen arbeiten, haben wir zu Hause so gut wie keine Diskussionen um die Aufteilung der Care-Arbeit», sagt Amlinger. «Wir sind eine Produktionsgemeinschaft, bei der keiner auf der Strecke bleibt.»
In «Zerstörungslust» beschreiben Amlinger und Nachtwey die Entstehung eines «demokratischen Faschismus», der innerhalb liberaler Demokratien wächst. Er äussert sich nicht als organisierter Umsturz, sondern als weit verbreitete destruktive Haltung, gespeist aus Enttäuschungen über nicht eingelöste Versprechen von Freiheit, Teilhabe und sozialer Sicherheit. Amlinger und Nachtwey zeigen anhand umfangreicher empirischer Interviews, wie Gefühle von Statusverlust, Angst, Ressentiment und Wut politisch wirksam werden. Zerstörung erscheint dabei oft als letzter Versuch, sich gegen eine als feindlich empfundene Welt zu behaupten. Das Buch knüpft an frühere Arbeiten der beiden an, zum Beispiel in ihrem ersten gemeinsamen Buch «Gekränkte Freiheit (2022)».
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Da wirkt es beruhigend, dass den beiden auf Nachfrage nach Konflikten im gemeinsamen Familien- und Arbeitsalltag doch ein paar Dinge einfallen. Sie ist Frühaufsteherin und bombardiert ihn schon vor Sonnenaufgang mit Themen, wenn er erstmal einen Kaffee braucht, um wach zu werden. «Bei uns wird immer viel geplappert», sagt Amlinger und lacht. Wenn er sich am Frühstückstisch lieber in Ruhe der Zeitungslektüre widmen würde, liest sie ihm bereits Artikel vor, die sie spannend findet.
Und so kommt es vor, dass Nachtwey morgens auf dem Weg zur Uni erst einmal ins Café Bachmann an der Schifflände radelt, um dort in Ruhe einen Kaffee zu trinken und zu lesen. Die Wege in Basel legen beide mit dem Velo zurück, ein Auto haben sie nicht. Sie wohnen im Gundeli in einem «70er-Jahre Brutalismus-Bau», wie sie erzählt. Gegenüber befinden sich Genossenschaftswohnungen und ein paar Strassen weiter beginnt das Villenviertel im Bruderholz. «Wir mögen die soziale Durchmischung im Gundeli sehr», sagt Nachtwey.
«Ich kann in einer manischen Lesephase noch nicht anfangen zu schreiben.»Oliver Nachtwey, Soziologe
Lesen spielt in ihrer beider Leben eine grosse Rolle und führt gelegentlich auch zu Reibereien in der Zusammenarbeit. Denn wenn er einmal anfängt, sich in ein Buch zu vertiefen, höre er kaum noch auf. Amlinger sagt: «Wir haben unser Buch zu Beginn in verschiedene Kapitel aufgeteilt. Während ich bereits anfange zu schreiben, ist Oliver das Trüffelschwein, das tagelang in Büchern nach weiteren Informationen sucht, während ich immer nervöser werde.»
Nachtwey trinkt einen Schluck aus seiner Cola Zero und schmunzelt: «Ich kann in einer manischen Lesephase noch nicht anfangen zu schreiben.» Mit dieser «Ungleichzeitigkeit», wie sie es beide nennen, haben sie zu leben gelernt. In der letzten Auseinandersetzung dieser Art ging es um die Preisrede, die sie heute an der Verleihung zum Geschwister-Scholl-Preis halten. «Sie fing schon an, die Rede zu formulieren, als ich noch darüber nachdachte», sagt Nachtwey.
Die Erfahrung, dass er Wissen aufsaugt und sich stundenlang in Texte vertiefen kann, hat auch Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP Schweiz, gemacht. Die beiden haben sich vor vielen Jahren an einem Anlass in Deutschland kennengelernt. Auf die Frage, wie Wermuth den Basler Soziologen privat erlebt, sagt er: «Trotz seines enormen Wissens gibt Oliver seinem Gegenüber nie das Gefühl, ungebildet oder dumm zu sein.»
Nicht immer einer Meinung
«Er diskutiert auf Augenhöhe und ist humorvoll», sagt Wermuth. Er kenne wenig Leute in Nachtweys Position, die so unprofessoral und bodenständig unterwegs seien. Seit dessen Berufung nach Basel ist der Kontakt zwischen den beiden enger geworden und Wermuth beschreibt ihn privat als Harmonie liebenden Menschen, den es daher durchaus persönlich treffen könne, wenn seine Arbeit von ehemaligen Weggefährt*innen kritisiert wird.
Auch zu Hause sind Amlinger und Nachtwey fachlich nicht immer einer Meinung. «Dann diskutieren wir stundenlang darüber, egal, wie früh oder spät es ist», sagt sie. Das Paar setzt sich keine festen Regeln, wann berufliche Themen zu Hause tabu sind.
Aber auch Kinderthemen haben einen Platz am Esstisch der Familie. Dafür sorgt ihr Sohn, der seinen Eltern neulich sagte, sie sollten endlich aufhören, über «diesen Trump» zu reden. «Dann hat er uns von gefährlichen Viren aus der Sendung von Checker Tobi berichtet», sagt Nachtwey und man merkt ihm an, dass er gerne an das Gespräch zurückdenkt. «Diese gedanklichen Pausen und die Zeit mit unserem Sohn tun uns beiden sehr gut», sagt er.
Fast jedes Wochenende besuchen sie den Zolli, einen ihrer Lieblingsorte in Basel. Und ihre anderen Lieblingsplätze? «Die Gegend um den Predigerhof», sagt Amlinger und Nachtwey fällt spontan das Aquabasilea ein, das er regelmässig mit seinem Sohn besucht. Am liebsten aber sind sie zu Hause: «Basel ist unsere Wahl- und Wunschheimat», sagen beide.
Wenn es nach ihnen geht, würden sie gerne langfristig bleiben. «Leider ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Konstellation künftig so möglich sein wird», sagt Nachtwey. Denn Amlingers Stelle an der Uni Basel ist nach wie vor unbefristet. Einen Ruf an eine andere Uni hat sie bereits abgelehnt: «Das kann man aber nur ein einziges Mal machen», erzählt sie – und man merkt, dass dies ein Thema ist, das sie als Paar und Familie beschäftigt. Auf die Frage, was sie im Falle eines Wegzugs an Basel vermissen würden, sagt er wie aus der Pistole geschossen: «Alles.»
«Mit Carolin konnten wir eine der renommiertesten Literatursoziologinnen des deutschsprachigen Raumes für die Uni Basel gewinnen.»Nicola Gess, Literaturwissenschaftlerin und Professorin für Germanistik
Auch ihre ehemaligen Vorgesetzten und Kolleg*innen scheinen froh darüber, dass Amlinger Basel nicht verlassen hat. Nicola Gess, Literaturwissenschaftlerin und Professorin für Germanistik an der Universität Basel, sagt: «Es ist toll, dass Carolin Amlinger sich entschieden hat, mit ihrem Ambizione Projekt zur Belesenheit am Deutschen Seminar zu bleiben. Mit Carolin konnten wir eine der renommiertesten Literatursoziologinnen des deutschsprachigen Raumes für die Uni Basel gewinnen.»
Und Hubert Thüring, Universitätsdozent für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Seminar der Universität Basel, sagt: «Carolin Amlinger gehört zu den an der Uni nicht so dicht stehenden Kolleg*innen, mit denen ich mich offen austauschen kann, weil sie ihre Erkenntnisse dünkelfrei teilt, echte Fragen stellt und sich über Erfolge anderer mitfreut. Wir interessieren uns beide für fundamentalistische Kulturtheorien, aber auch für das literarische Schreiben als gesellschaftliche und als technisch-mediale Praxis.»
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey feiern die Schweizer Buchpremiere von «Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus» diese Woche im Literaturhaus Basel. Das Gespräch mit beiden wird moderiert von Sacha Batthyany.
Donnerstag, 27. November, 19 Uhr, Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Basel.
Wenn man Ueli Mäder, dem ehemaligen Professor für Soziologie an der Uni Basel und Vorgänger von Oliver Nachtwey, Glauben schenken möchte, beruht die Liebe zur Stadt nicht auf Einseitigkeit. Er sagt: «Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger sind ein Glücksfall für Basel: für die Universität und weit über akademische Kreise und die Landesgrenzen hinaus. Sie gehen aktuelle gesellschaftliche Fragen fundiert an, auch praxisorientiert und breitenwirksam – ebenfalls für soziale Bewegungen und gewerkschaftliche Kreise. Das freut mich immer wieder sehr.»
Lob und Kritik teilen
Lob erhalten sie im Moment viel, aber wie gehen sie mit Kritik um? «Wir ärgern uns dann gemeinsam», sagt sie. «Am meisten regt mich auf, wenn uns in Rezensionen falsche Positionen zugeschrieben werden, auf die wir nichts entgegnen können», sagt er. Es sei aber gut, auch diese unerfreulichen Momente miteinander teilen zu können.
Auf die Frage, ob sie bereits ein neues Projekt im Kopf haben, schauen sich beide vielsagend an. «Ideen haben wir immer», so Amlinger. Und Nachtwey fügt hinzu: «Mit neuen Projekten lassen wir uns aber etwas Zeit – denn jetzt heisst es: volle Energie für das, was gerade läuft.»