Vier Profs für die 99 Prozent

Die 99-Prozent-Initiative bringe viele Vorteile, sagen vier Wirtschaftsprofessor*innen: für die Arbeitsplätze, die Finanzstabilität, die Demokratie und die Umwelt.

Irmi Seidl Sergio Rossi Marc Chesney und Michael Graff
Irmi Seidl, Sergio Rossi, Marc Chesney und Michael Graff (im Uhrzeigersinn) sehen vor allem Vorteile in der 99-Prozent-Initiative. (Bild: Ursula Häne/zvg)

Dieser Artikel ist zuerst am 2. September 2021 in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

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Speziell in der Schweiz herrscht an Wirtschaftsfakultäten ein bürgerlicher Geist. So äussern sich derzeit nur wenige Professor*innen zugunsten der 99-Prozent-Initiative, die etwa besonders hohe Dividenden stärker besteuern will – obwohl international inzwischen auch viele liberale Ökonom*innen oder der Währungsfonds (IWF) für eine höhere Besteuerung von Reichen plädieren. Einige outen sich trotzdem, darunter Michael Graff, Professor an der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich. «Bei der Ungleichheit der Einkommen liegt die Schweiz international im Mittelfeld», sagt Graff, «doch bei den Vermögen ist die Ungleichheit gross.»

Einige Bessergestellte hätten hierzulande – nicht selten dank Erbschaften – ein Vermögen angehäuft, das andere nicht einmal über ihr ganzes Leben hinweg durch Arbeit verdienen werden, gibt Graff zu bedenken. «Das erinnert an Feudalismus.» Gemäss neusten Zahlen der Universität St. Gallen besitzt das reichste Prozent inzwischen 43 Prozent der Vermögen. Zum Vergleich: Mit wenigen Ausnahmen liegt dieser Wert in den anderen OECD-Staaten zwischen 10 und 25 Prozent.

100'000 Franken Freibetrag

Diese Entwicklung will die Initiative der Jungsozialist*innen (Juso) korrigieren, indem Kapitaleinkommen wie Dividenden, Zinsen oder Mieteinnahmen eineinhalb Mal so hoch besteuert würden wie Arbeitseinkommen; allerdings nur jener Teil, der über einem bestimmten Freibetrag liegt. Dessen Höhe ist in der Initiative nicht festgelegt, die Juso schlägt jedoch 100'000 Franken vor. Dank dieses Freibetrags sollen nur die Reichsten, die zum obersten Prozent gehören, mehr Steuern zahlen müssen – Leute, die grob drei Millionen Franken und mehr besitzen. Die zusätzlich gewonnenen Steuereinnahmen will die Initiative für «soziale Wohlfahrt» sowie für die steuerliche Entlastung von Leuten mit tiefen und mittleren Löhnen einsetzen. In drei Wochen wird abgestimmt.

Wie man zu diesem Vorschlag stehe, sei am Ende eine ethische Frage, sagt Graff. «Allerdings zeigen ökonomische Studien: Je egalitärer eine Gesellschaft, desto glücklicher sind die Menschen.»

Die Initiative würde Arbeitsplätze schaffen und so die Arbeitslosigkeit senken.
Sergio Rossi, Professor für Makroökonomie und Geldtheorie

Die Warnung des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse und bürgerlicher Parteien, dass die Initiative ein «Schwindel» sei, weil sie auch den Mittelstand treffe, hält Graff für unbegründet. Konkret behaupten die Gegner*innen, dass künftig Start-up-, KMU- und Bauernhofbesitzer bluten müssten, da die Initiant*innen nicht nur Dividenden höher besteuern wollten, sondern auch den Gewinn, der anfalle, wenn Aktien teurer weiterverkauft würden. Unternehmer*innen müssten so neu beim Verkauf ihres Betriebs Steuern zahlen.

Der Teufel an der Wand

Die Initiative sei so offen formuliert, sagt Graff, dass das Parlament die Umsetzung problemlos so gestalten könne, dass nur die Reichsten betroffen würden. Und die bürgerlichen Gegner*innen hätten im Parlament schliesslich eine klare Mehrheit. «Jetzt warnen sie vor einer Steuerbelastung, die es niemals geben wird, und malen den Teufel an die Wand.»

Graff widerspricht auch dem zweiten Hauptargument der GegnerI*innen, das SVP-Finanzminister Ueli Maurer hervorgebracht hat. Demnach würden höhere Steuern auf Kapitaleinkommen die Schweiz Arbeitsplätze kosten. Dies, weil Vermögende deswegen weniger Geld zum Investieren hätten. «Das Argument ist völlig an den Haaren herbeigezogen», sagt Graff. Die Schweiz verzeichne einen riesigen Sparüberschuss: Die Ersparnisse seien zu hoch, als dass sie hierzulande investiert werden könnten. So werde ein Grossteil der Vermögen im Ausland angelegt.

Sergio Rossi, Professor für Makroökonomie und Geldtheorie an der Universität Fribourg, geht noch einen Schritt weiter: «Ein Ja wäre vielmehr eine Stütze für die Wirtschaft, die unter der Pandemie stark gelitten hat. Die Initiative würde Arbeitsplätze schaffen und so die Arbeitslosigkeit senken.» Rossis Erklärung: Die Investitionen stagnierten nicht, weil es an Ersparnissen mangle, sie stagnierten, weil die Kaufkraft schwach sei. Dank höherer Steuern für Reiche würden die Ärmsten und der Mittelstand entlastet und deren Kaufkraft würde steigen – was Investitionen und Arbeitsplätze schaffen würde. «Die Initiative würde so den sozialen Zusammenhalt stärken.»

Statt in die Realwirtschaft investiert zu werden, sagt Rossi, würden die grossen Vermögen heute an den Finanzmärkten angelegt, wo sie seit Jahren die Immobilienpreise und die Aktien an den Börsen in die Höhe trieben. «Dies führt langfristig in eine erneute Finanzkrise, wie wir sie letztmals 2008 erlebt haben.» Die 99-Prozent-Initiative würde einen Teil dieser Vermögen zurück in die Realwirtschaft schleusen. «Sie würde damit auch das Finanzsystem stabilisieren.»

Die Belastung von Kapital und Entlastung von Arbeit, die die Initiative will, wäre ein Schritt hin zu einem weniger wachstumtreibenden Steuersystem.
Irmi Seidl, Titularprofessorin der Universität Zürich und Ökonomin an der WSL

Mehr menschliches Glück, mehr Arbeit, mehr Zusammenhalt und Finanzstabilität – Marc Chesney, Finanzprofessor an der Universität Zürich, verweist nebst alledem noch auf ein weiteres Argument: Die Anhäufung von Milliarden in den Händen weniger untergrabe die Demokratie, warnt er. «Wer übermässige Vermögen besitzt, kann damit Entscheide auf undemokratische Art beeinflussen.» Über Lobbying, die Drohung, Investitionen abzuziehen, den Kauf von Medien oder durch millionenteure Abstimmungskampagnen.

Chesney hat selber eine Initiative für die Einführung einer «Mikrosteuer» mitlanciert, mit der elektronische Finanztransaktionen besteuert würden – die laufende Unterschriftensammlung dauert noch bis Ende Oktober. Auch diese Initiative zielt unter anderem darauf ab, die Ungleichheit zu verringern. Chesney: «Die Mikrosteuer wäre wie auch die 99-Prozent-Initiative ein Beitrag für mehr Demokratie.»

Gleichheit für die Ökologie

Irmi Seidl, Titularprofessorin der Universität Zürich und Ökonomin an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), bringt eine letzte Perspektive auf die Initiative ins Spiel, die angesichts der historischen Herausforderung des Klimawandels von besonderer Bedeutung ist. Studien zeigten, sagt Seidl, dass Ungleichheit die Transformation der Gesellschaft in eine ökologischere Zukunft hemme. «Soziale Ungleichheit untergräbt das Vertrauen der Menschen in die politischen Institutionen.» Damit werde es für die Politik schwieriger, Zustimmung für umweltpolitische Massnahmen wie etwa einen ausreichenden Absenkpfad für fossile Brennstoffe zu gewinnen. «Die Menschen haben weniger Vertrauen, dass sie auch nach dieser Transformation ausreichend Arbeit und Einkommen haben werden.»

Das ist nicht alles. «In den letzten Jahrzehnten wurden die Steuern auf Kapital schrittweise gesenkt, während jene auf Arbeit gestiegen sind», sagt Seidl. Die resultierende Verteuerung der Arbeit dränge Firmen dazu, Arbeit durch technologische Neuerungen wie etwa die Selbstbedienungskassen in Supermärkten zu ersetzen – das sei ein Problem. Erstens verbrauchten die Maschinen, mit denen die Menschen ersetzt würden, mehr Ressourcen; und zweitens mache diese Verdrängung der Arbeit kontinuierlich neues Wirtschaftswachstum nötig, um die bisherigen Arbeitsplätze zu ersetzen. «Die Belastung von Kapital und Entlastung von Arbeit, die die Initiative will, wäre ein Schritt hin zu einem weniger wachstumtreibenden Steuersystem.»

Wie viel zusätzliche Steuern die Initiative dem Fiskus einbringen würde, können auch die vier Ökonom*innen nicht abschätzen. «Es kommt darauf an, wie das Parlament in Bern die Initiative umsetzen würde», gibt ETH-Professor Graff zu bedenken. Entscheidend sei, ob das Parlament den Freibetrag auf 100 000 Franken oder gar höher ansetzen oder wie stark sie Kapitalgewinne etwa beim Verkauf einer Firma besteuern würde. «Ein Ja-Entscheid wäre aber sicher ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.»

Am Ende gibt Graff noch etwas Letztes zu bedenken: Lange Zeit seien Arbeits- und Kapitaleinkommen gleich hoch besteuert worden. «Dieses finanzwissenschaftliche Prinzip wurde jedoch in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgehöhlt.» Graff erinnert etwa daran, dass Dividenden von Grossaktionär*innen beim Bund um dreissig und in den Kantonen um bis zu fünfzig Prozent tiefer besteuert werden als Arbeitseinkommen. Komme hinzu, dass auch die Erbschaftssteuer für Partner*innen und direkte Nachkommen in fast allen Kantonen abgeschafft worden sei. Die 99-Prozent-Initiative, sagt Graff, sei lediglich eine Korrektur dieser Entwicklungen.

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