Ein Teamplayer tritt ab
Er hat zehn Jahre lang das Theaterspektakel in Zürich und fünf Jahre lang die Kaserne in Basel künstlerisch verantwortet. Wer ist Sandro Lunin? Und wie hat er gearbeitet?
Sandro Lunin gibt die künstlerische Leitung der Kaserne und des Theaterfestivals in Basel ab. Warum eigentlich? «Ganz einfach, weil ich jetzt ins AHV-Alter komme», sagt er zunächst, unkompliziert wie er ist. Dahinter steckt aber eine Haltung. Er fände es «unanständig», über das Pensionsalter hinaus zu bleiben und die Kaserne, eines der wenigen Schweizer Produktionshäuser für Theater, Tanz und Musik, nicht der nächsten Generation zu übergeben. Vor fünf Jahren hat er sich beworben, für fünf Jahre, jetzt hält er Wort.
Ganz grundsätzlich verlangt er, dass Entscheidungsträger*innen im staatlich unterstützten Kunstbereich mindestens alle 10 bis 12 Jahre wechseln. Sandro Lunin begründet diese Forderung, die ausser bei der Stiftung «Pro Helvetia» wohl nirgends realisiert ist, indem er ein grosses Wort gelassen ausspricht: «Kunst ist nicht gerecht.» Soll heissen: Rein objektive Kriterien zur Beurteilung von Kunst gibt es nicht. Jede*r Entscheidungsträger*in hat einen bestimmten Blick – wofür er*sie ja auch ausgewählt und mit Verantwortung betraut wurde – aber andere Perspektiven müssen ihre Chance bekommen.
Ob sein Rückzug auch etwas zu tun habe mit Enttäuschung über das Theater, das ja wieder mal in der Krise sei, frage ich und ernte ein entsetztes, empörtes «Nein!!». Seine Theaterbegeisterung hält an.
«Wenn ich da bin, um etwas abzunicken, langweile ich mich schnell.»Sandro Lunin
Und seine Begeisterung für die Theaterleute. Gefragt nach dem Hauptgewinn seiner vielen Theaterjahre gibt er als Erstes an: «Die persönlichen Begegnungen» im Team und mit «extrem tollen Künstler*innen». Sandro Lunin braucht das Gegenüber, den Austausch, das Gespräch. «Davon lebe ich.»
Folgerichtig liebt er auch Theater, das Gesprächsstoff liefert, ein Theater, «das mich herausfordert, gedanklich, persönlich». Billige, kommerzielle Unterhaltung interessiere ihn nicht, sagt er: «Wenn ich da bin, um etwas abzunicken, langweile ich mich schnell.»
Der Weltsüden in Basel
Begegnet man Sandro Lunin, so denkt man nicht daran, dass er der «Chef» ist. Chefallüren und eitles Sich-in-Szene-Setzen sind ihm vollkommen fremd. Dabei ist er, man darf es sagen, berühmt.
Berühmt ist er für sein «interkontinentales» Theater. Er brachte Produktionen aus dem «Weltsüden», aus Afrika, Asien, dem nahen und fernen Osten in die Schweiz. «Das konnte in dieser Weise nur er, er hat dafür die Beziehungen, die Kenntnisse, ein lange gewachsenes Netzwerk», sagt Mathias Balzer, Co-Leiter des Frida-Magazins, Kulturjournalist und Kenner der Theaterszene.
«Wenn ein Künstler aus Afrika oder Arabien nach ‹freedom› schreit, meint er das auch und da habe ich etwas über uns gelernt: Wir sind so dermassen mit Ironie und Zynismus getränkt.»Mathias Balzer, Kulturjournalist
Lunin unterhält Beziehungen – Arbeitsbeziehungen, Freundschaften – zu Künstler*innen aus aller Welt. Zwölf bis fünfzehn Orte wie Johannesburg, Kairo, «Ouaga» (Ouagadougou), Beirut, Tokyo bereist er regelmässig, mindestens alle zwei Jahre, und kennt die Szenen dort à fonds. Er sagt: «Künstler und Künstlerinnen aus Krisenregionen zeichnet häufig ein sehr präziser Blick aus, ein scharfer Blick auf ihre Umgebung, eine Lust, in ganz eigener Form darauf zu reagieren. Es sind häufig Arbeiten, die bei mir starke Emotionen auslösen, die mir tatsächlich einen anderen Zugang, einen anderen Blick gestatten.»
Balzer erzählt von Produktionen, die ihm auf Anhieb nicht gefallen, ihn aber ins Grübeln gebracht haben. «Wenn ein Künstler aus Afrika oder Arabien nach ‹freedom› schreit, meint er das auch», sagt Balzer, «und da habe ich etwas über uns gelernt: Wir sind so dermassen mit Ironie und Zynismus getränkt.»
Lunin sieht als Hintergrund für seine Arbeit die Migration, die als Last und Gefahr verteufelt wird, während er erfahrbar machen möchte, dass wir, in der Kultur wie in der Wirtschaft, einen «gigantischen Reichtum» von den Ländern des Weltsüdens geschenkt bekommen.
Allerdings, und das ist weniger bekannt, wählt Lunin die Produktionen, die er in die Schweiz holt, sehr sorgfältig und sehr streng aus. «Es gibt Fälle, wo man sagen muss: die Produktion funktioniert wunderbar im dortigen Kontext, aber es ist wirklich nicht zwingend, dass man sie rausnimmt und in einen Basler Kontext versetzt.» Manche Arbeiten, vor allem traditionellere, wären hierzulande einfach nur fremd, unverständlich und exotisch.
«Es ist für mich zwingend, dass wir in unserer privilegierten Situation etwas teilen, anderen einen Zugang verschaffen.»Sandro Lunin
Wer auswählt, enttäuscht natürlich Erwartungen. Lunin setzt auf Offenheit und Ehrlichkeit. Es gelte, sagt er, auf Reisen von Anfang an deutlich zu machen, «dass wir nicht alles nach Europa holen können, dass wir einen spezifischen Blick und einen spezifischen Ort haben».
Einladungen nach Europa sind tiefe Eingriffe in lokale Theaterszenen, denn sie ermöglichen den Zugang zu so kostbaren Gütern wie Geld, Ruhm, Erfahrungen und Reisemöglichkeiten. Dadurch können auch Probleme entstehen. In autoritär geführten Ländern wie dem Iran z.B. kann es sein, dass eine Gruppe erst durch ihren Auslandsauftritt auf den Radar des Regimes gerät und dadurch strengerer Zensur unterliegt. Aber trotz Schwierigkeiten in Einzelfällen findet Lunin: «Es ist für mich zwingend, dass wir in unserer privilegierten Situation etwas teilen, anderen einen Zugang verschaffen.»
Kleinbasel, Weltbasel
Dafür braucht es ein Publikum. «Es gibt das Kaserne-Publikum», sagt Szene-Kenner Balzer, «und breiter geworden ist es in den letzten fünf Jahren wohl nicht.» Die Bewohner*innen Kleinbasels kommen nur sehr bedingt in die Kaserne. Sandro Lunin gibt sich aber nicht geschlagen. Er ist aus Begeisterung und Überzeugung zäh. Faszinierend sei es, die lokalen Gruppen «in Spannung zu setzen» mit interkontinentalen Arbeiten. In jeder Community gebe es auch Interessierte, die sich ernst genommen fühlen, gerade weil man sie mit schwerer lesbaren Produktionen konfrontiere. Sie seien mobilisierbar, aber nur mit hohen Investitionen, mit sehr viel Arbeit. Mitteilungen zu verschicken genügt da nicht, es brauche intensive, persönliche Kontakte, die manchmal gelingen, manchmal nicht.
Die Kaserne feiert den Saison-Abschluss und den Abschied des künstlerischen Leiters mit einem Festival: «Kaserne Globâle – Possible Futures» vom 22. bis 24. Juni. Den Schlusspunkt setzt die Performace «Golden Age» des Schweizer Künstlers Steven Schoch.
(Foto: Eliane Rutishauser)
Sandro Lunin erzählt immer wieder verblüffend offen auch von seinen Niederlagen und Misserfolgen. So hier: Da hätten sie eine Disko organisiert mit drei spannenden DJs aus der kolumbianischen Community in Basel – und gekommen seien zehn Nasen.
Sandro Lunins Team wollte erreichen, dass sich in der Kaserne verschiedene Communitys wohl und «begrüsst» fühlen. Mindestens ein- bis zweimal pro Monat waren People of colour im Programm, und zwar in künstlerisch verantwortlichen Positionen, ohne dass das beworben wurde. «Ich will das nicht ins Schaufenster stellen», sagt Lunin. Denn das soll Normalität sein, Selbstverständlichkeit.
Innovationen
Für das letzte Theaterfestival hat Lunin eine organisatorische Neuerung eingeführt: die «Programmgruppe» mit drei Kurator*innen aus Tokyo, Kerala und Johannesburg, zusammen mit zwei jungen Baslerinnen. Diese Programmgruppe entscheidet. «Ja ja, sagt Lunin, es kam vor, dass ich etwas nach Basel holen wollte und nach dem Gespräch in der Programmgruppe wurde es nicht geholt.»
Lunin ist Teamplayer. Er redet gern, hört gut zu und setzt im Gespräch seine Denkpausen. Für die Kaserne ist die Partnerin, mit der er den Haupt-Austausch pflegt, die Dramaturgin Hannah Pfurtscheller.
Als eine seiner ersten organisatorischen Massnahmen mietete Lunin eine Probebühne. Mit der Renovation der Kaserne verfügt er jetzt über zwei Probebühnen und über drei Wohnateliers: Drei Möglichkeiten, Künstler*innen von auswärts für ein bis drei Monate nach Basel zu holen. Probebühnen und Residenzen findet er für ein Produktionshaus «extrem wichtig»: Damit Künstler*innen die Chance bekommen, Produktionen zu erleben, zu denen sie in ihrer Heimat niemals Zugang hätten, und gleichzeitig die Schweizer Szene kennenzulernen.
Theatervirus
Vom Theatervirus angesteckt wurde Sandro Lunin in den Theaterkursen von Peter Marxer am Gymnasium Rämibühl in Zürich. Dort traf er auch einen gewissen Christoph Marthaler. Später, nach seiner Ausbildung zum Primarlehrer, ging er ans Theater am Neumarkt, zuerst als «gimm mr, läng mr, hol mr, bring mr» (Hauptaufgabe damals: Bier und Zigis herbeischleppen), dann als Techniker, schliesslich als Regieassistent.
Er traf dort zwei Theaterschaffende, die ihn prägten: die damals unbekannte, heute berühmte Regisseurin Andrea Breth und den Regisseur Carlo Formigoni, Gründer des Kinder- und Jugendtheaters Kismet in Bari. In den 80er-Jahren leitete er das Kinder- und Jugendtheater der Roten Fabrik. Die Liebe zum Theater für junge Zuschauer*innen prägten seine Arbeit ebenso wie die Begeisterung für den «nouveau cirque».
1997 wurde Lunin Co-Leiter des Schlachthaus Theaters in Bern, wo er begann, Produktionen aus dem globalen Süden in die Schweiz zu holen: «Lunin hatte den Ort gefunden, wo er seiner Passion nachgehen konnte», konstatiert Mathias Balzer.
Ab 2007 leitete Lunin für zehn Jahre (und eben nicht länger) das «Speki», das Theaterspektakel in Zürich. 2018 wurde er für fünf Jahre (und eben nicht länger) Nachfolger von Carena Schlewitt, die die Kaserne vor der Schliessung bewahrt und das Basler Festival neu gegründet hatte.
Und nun geht er in Ruhestand. Aufs Theater wird er deswegen nicht verzichten.
Ein Schlusswort
Danke, Sandro!
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