«Wenn die Gefühle schmerzen»
Von einem Tag auf den anderen ging einfach gar nichts mehr: Eine Depression lähmte Judiths Leben. Heute weiss sie, sie muss auf sich acht geben – und versucht, diese Botschaft auch anderen weiterzugeben.
An einem frühlingshaften Sonntagmorgen macht Judiths* Leben plötzlich Halt. Sie kann nicht mehr aufstehen. Ihre Gliedmassen fühlen sich so schwer an, dass sie sich nicht bewegen kann. Alles ist verlangsamt. Tränen laufen ihr in Strömen über das Gesicht. Judith kann überhaupt nicht verstehen, was gerade mit ihr passiert.
Judith hatte davor nie mit ihrer Psyche zu kämpfen. Nach dem Studium zog sie mit ihrem Mann, den sie schon aus Schultagen kennt, in die USA und später nach London, wo sie im Herbst 2013 eine anspruchsvolle und sehr begehrte Ausbildung zu ihrem Traumberuf anfangen konnte**.
Den bis dahin unerfüllten Kinderwunsch legte sie wegen der Ausbildung vorerst auf Eis. Judith, zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt, fühlte sich jedoch unter Druck: «40 war für mich die magische Grenze der Biologie, das hat mich gestresst», sagt die heute 41-Jährige. Die Unvereinbarkeit von Kinderwunsch und Ausbildung zum Traumberuf belastete sie zunehmend.
Noch bevor das erste Ausbildungsjahr zu Ende war, erlitt Judith völlig überraschend einen totalen Nervenzusammenbruch. Nichts ging mehr. Es war, als habe sich eine Decke aus Blei über sie gelegt, erzählt Judith. Selbst die alltäglichsten Aufgaben bäumten sich wie unüberwindbare Berge vor ihr auf.
«40 war für mich die magische Grenze der Biologie, das hat mich gestresst.»Judith, Betroffene einer Depression
Laut dem Kanton erkrankt jede zweite Person in der Schweiz mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung. Das heisst, dass sie ihr Leben nicht mehr selbstständig bewältigen kann. Rund ein Drittel aller psychischen Störungen bleibt aber unbehandelt, weil eine Störung entweder nicht erkannt wird, oder weil die Ressourcen zur Behandlung fehlen.
Oft bleiben psychische Erkrankungen (insbesondere solche, die durch starke innere oder äussere Belastungen verursacht werden) bis zum Zusammenbruch unbemerkt. Und dann geht auf einmal gar nichts mehr.
So wie bei Judith. Ihre Geschichte erzählte sie an der Eröffnungsveranstaltung der Aktionstage Psychische Gesundheit, die vom Kanton organisiert werden und noch bis zum 3. November gehen.
Seit acht Jahren organisiert das Gesundheitsdepartement Basel-Stadt die Aktionstage Psychische Gesundheit. Während knapp zwei Wochen finden täglich Veranstaltungen statt. Die Aktionstage verfolgten das Ziel, «Berührungspunkte» zwischen Betroffenen Menschen und der Bevölkerung zu schaffen, meint Corina Schweighauser, Leiterin des Programms Psychische Gesundheit. Man rede inzwischen zwar viel über das Thema, dennoch sei ein grosses Tabu vorhanden. Insbesondere dann, wenn es um die eigenen Probleme gehe.
Dieses Jahr finden die Aktionstage unter dem Oberthema «Blickwinkel» statt. Die Perspektive verschiedener Personen einzunehmen, helfe, um das Verständnis für Betroffene und ihre Angehörige zu fördern. Das sei der rote Faden, der durch die diesjährigen Aktionstage führe, so Schweighauser.
Im Nachhinein weiss Judith, dass es einige Vorboten für ihren Zusammenbruch gab. Vor allem die bleierne Schwere ihres Körpers und die Nächte, in denen sie mit Herzrasen aus dem Schlaf gerissen wurde, waren Symptome der sich anbahnenden Depression.
Ihr Mann überzeugte sie schliesslich davon, zur Ärztin zu gehen. Judith war sich nicht sicher, was sie dort überhaupt sollte: «Ich wusste doch selbst nicht, was mit mir passiert. Wie sollte ich erklären, dass meine Gefühle schmerzen?» Einen Moment lang war auch ein leiser Suizidgedanke in Judiths Hinterkopf – weil sie ihrem Mann nicht zu Lasten fallen wollte, erinnert sie sich.
Mit ihrem Mann an der Seite schaffte sie es trotzdem zur Hausärztin. Dort bekam sie Medikamente und den Rat, eine Psychotherapie anzufangen. Glücklicherweise habe sie genug Geld auf der Seite gehabt, um sich die Therapie privat leisten zu können, sagt Judith. Ansonsten hätte sie eine monatelange Wartefrist absitzen müssen.
«Ich wusste doch selbst nicht, was mit mir passiert. Wie sollte ich erklären, dass meine Gefühle schmerzen?»
In den nächsten Wochen gaben ihr Psychotherapie und vereinzelte Besuche im Hallenbad eine punktuelle Struktur im Alltag, an der sie sich durch ihr Leben hangelte. Die dreissigminütige Busfahrt zur Therapie stellte jedes Mal eine grosse Herausforderung dar. Die Gerüche und Geräusche der Menschen, die sich im doppelstöckigen Londoner Bus tummelten, seien fast nicht zu ertragen gewesen, erzählt Judith.
Langsam ging es ihr dank Medikamenten und Therapie wieder besser. Im Dezember desselben Jahres wurde Judith unerwartet schwanger. Das habe ihr auf ihrem Genesungsweg viel Hoffnung gegeben. Im Spätsommer 2015 kam ihr Sohn zur Welt. Trotz Kind konnte sie 2018 schliesslich ihre Ausbildung abschliessen.
Vier Jahre nach der ersten Geburt bekam Judith ein zweites Kind. Die Familie war inzwischen in die Region Basel umgezogen. Judith hatte in ihrem Berufsfeld eine Teilzeitstelle erhalten und habe sich zum ersten Mal in ihrem Leben so richtig angekommen gefühlt, erzählt sie.
Dann, vor inzwischen etwas über einem Jahr, wurde ihr ohne Vorwarnung die Kündigung vorgelegt. Judith kann das bis heute nicht nachvollziehen. «Mein Lebenstraum ist zerplatzt wie eine Seifenblase», sagt sie.
«Mein Lebenstraum ist zerplatzt wie eine Seifenblase.»
Der Schock über die Kündigung löste eine zweite Depression aus. Wegen ihrer Kinder konnte und musste sie sich einigermassen über Wasser halten. «Ich hatte als Mutter keine Kapazität zum Zusammenbrechen.» Daran sei unter anderem das fehlende Betreuungsangebot Schuld. Als Kleinfamilie sei man in der Schweiz auf sich alleine gestellt, sagt Judith. «Wenn ein Elternteil ausfällt, fällt das ganze Familiensystem zusammen.»
Diana Michaelis von der Anlaufstelle für Angehörige und Kinder psychisch erkrankter Menschen bestätigt auf Anfrage von Bajour, dass viele Betreuungsangebote zu wenig publik seien. Es gäbe zwar Angebote zur akuten Betreuung. Diese zu finden, sei aber mit grossem Rechercheaufwand verbunden. Oftmals erführen betroffene Familien deswegen erst über andere Anlaufstellen von den Angeboten.
Links und Telefonnummern:
Wie geht’s dir?: Sammlung von Anlaufstellen und professionellen Angeboten in der ganzen Schweiz.
Stiftung Rheinleben: Unterstützung, Begleitung und Betreuung von psychisch erkrankten Menschen sowie ihren Angehörigen in der Region Nordwestschweiz.
143 - Die Dargebotene Hand: Kostenlose und anonyme Telefonberatung für alle.
147 - Pro Juventute: kostenlose und anonyme WhatsApp- und Telefonberatung für Jugendliche.
Familienhilfe Rotes Kreuz: Betreuungsangebot für Zuhause in akuten Situationen.
Dann bleibt, wie auch im Fall von Judiths Familie, alles am gesunden Elternteil hängen. Das habe insbesondere im Nachgang der akuten psychischen Erkrankung Folgen gehabt, als ihr Mann von der zusätzlichen Belastung im Alltag ausgebrannt gewesen sei, meint Judith.
Kurz vor Weihnachten 2022 beschloss Judith, dass sie sich Hilfe holen muss. «Am liebsten wäre ich für ein paar Wochen in eine Klinik gegangen», meint Judith. Dort hätte sie sich um ihre Gesundheit kümmern und wieder widerstandsfähig werden können. Aber dazu fehlten die Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder.
«Am liebsten wäre ich für ein paar Wochen in eine Klinik gegangen.»
Dennoch erholte sich Judith relativ schnell von der depressiven Episode. Weil sie so etwas schon zum zweiten Mal erlebte, erkannte sie die Anzeichen frühzeitig und konnte noch vor dem Zusammenbruch reagieren.
Dank Medikamenten und Psychotherapie geht es Judith inzwischen wieder gut. Sie hat eine neue Anstellung und im vergangenen Sommer hat sie mit ihrem Mann ein Haus auf dem Land gekauft. Die Natur, die Stille und der Raum helfen ihr und ihrer Familie, wieder zur Ruhe zu kommen.
Unterschwellig ist die Angst, wieder in eine Depression zu rutschen, immer noch präsent. Judith hat im Verlauf des letzten Jahres mehrere Achtsamkeitskurse besucht, die ihr helfen, auf sich selbst zu hören und regelmässig Pausen zu machen – auch im Alltag. Das helfe ihr, ihre Kapazitäten zu regulieren und einen weiteren Zusammenbruch zu verhindern.
«Niemand ist vor psychischer Krankheit gefeit», das hat Judith gelernt. Deswegen müsse die Gesellschaft umso mehr darauf achten, psychische Gesundheit zum Thema zu machen und mit dem Tabu zu brechen. Wenn die menschliche Batterie rot blinkt, machen viele einfach weiter, obwohl sie sich eigentlich wieder aufladen sollten, so Judith.
Auch deswegen erzählt sie an den Aktionstagen ihre Geschichte. Es sei wichtig, dass man lerne, über die psychische Gesundheit zu reden und Anzeichen von zu grosser Belastung frühzeitig zu erkennen. Das sei Teil der Präventionsarbeit.
*Realname ist der Redaktion bekannt.
**Aus Gründen der Anonymität nennen wir Judiths Tätigkeit nicht.
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