«Ich fühle mich wie in einem Gefängnis» – eine Risikopatientin erzählt
Die Infektionen schnellen in die Höhe, die Intensivstationen füllen sich mit Covid19-Fällen. Für Anna-Maria* aus der Gärngschee-Community ist das der Horror. Sie hat ein Herzleiden und schliesst sich ein.
Ich bin gerade 49 Jahre alt geworden. Seit 20 Jahren bin ich schwer krank. Die Ärzt*innen vermuten, dass es ein Virus war, ein banaler Chäfer wie man sagt. Die Infektion hat meinen Kreislauf angegriffen, mein Herz hat schweren Schaden genommen und ich brauche mittlerweile eine Herzunterstützungspumpe (LVHD).
Dieses Kunstherz hält mich am Leben. Es ist aber nur eine temporäre Lösung, ich brauche dringend ein neues Herz und bin seit rund einem Jahr auf der Transplantationsliste. Meine Nieren versagen allmählich, es ist ein Wettlaufen gegen die Zeit.
Schon vor der Corona-Pandemie war mein Leben eingeschränkt. Bereits eine Erkältung ist für mich gefährlich, eine Grippe tödlich. Darum habe ich schon immer sehr aufgepasst und mich besonders im Herbst und Winter zurückgezogen.
Wenn man so krank ist wie ich, lernt man schnell, keine grossen Ansprüche mehr an das Sozialleben zu stellen. Ich bin zufrieden, wenn ich mit meiner Familie Zeit verbringen kann. Ein Restaurantbesuch ab und zu lag schon drin und ich hab den Kiosk eines Frauenfussballteams geführt. Das war zwar anstrengend und ich brauchte jeweils viel Zeit, um mich nach einem Einsatz zu erholen, aber ich habe es gerne gemacht.
«Als ich das erste Mal aus dem Spital frühzeitig entlassen wurde, weil man dringend Betten brauchte, wurde mir bewusst: Mein Leben ist in Gefahr.»
Als die Pandemie angefangen hat, dachte ich mir, nun müssen alle das tun, was ich sowieso bereits tue. Hände waschen, Abstand halten, Kontakte reduzieren – ich habe es eher locker gesehen. Dann stiegen die Zahlen, schnell, unglaublich schnell. Und die Spitäler kamen nicht mehr nach. Das war heftig.
Als ich das erste Mal aus dem Spital, in dem ich regelmässig stationär behandelt werden muss, frühzeitig entlassen wurde, weil man dringend Betten brauchte, wurde mir bewusst: Mein Leben ist in Gefahr.
Ich darf auf keinen Fall mit dem Virus in Kontakt kommen, das heisst auch, dass meine engsten Bezugspersonen, sich besonders schützen müssen. Ich habe mich völlig abgeriegelt. Mein Mann ging nur noch zur Arbeit aus dem Haus und musste feststellen, dass kaum jemand auf unsere Situation Rücksicht nehmen wollte. Die Schutzmassnahmen waren oft lediglich fürs Papier. Also haben wir uns isoliert und sind schier daran verzweifelt.
«An Weihnachten wünschte ich mir – völlig paradox –, dass ja kein Herz kommen würde.»
Ich war ein Jahr lang nicht mehr unter Menschen, ging nur für einen Spaziergang raus, alleine. Und wartete auf die Impfung. An Weihnachten wünschte ich mir – völlig paradox –, dass ja kein Herz kommen würde. Denn, was würde passieren, wenn ich als frisch Transplantierte angesteckt würde? Wenn das Spital nicht genügend Ressourcen für meine Behandlung hätte? Wenn das Personal auf der Intensivstation anfangen würde, zu triagieren? Ich hatte grosse Angst.
Als Hochrisikopatientin war ich eine der ersten, die sich impfen lassen durfte. Als ich doppelt geimpft war und zwei Antikörper-Tests hinter mir hatte, traute ich mich endlich, wieder Leute zu treffen. Es war ein richtiger Befreiungsschlag, ich dachte, jetzt wird es besser.
Ich habe mich wieder getraut, meine Familie zu treffen, unter grossen Schutzmassnahmen: FFP2-Masken, wir treffen uns nur draussen, ich bestehe darauf, dass sich alle immer vorher testen lassen.
Und nun wiederholt sich alles. Meine Angst ist zurück. Ich lese die Nachrichten, schaue mir die Zahlen an und kann es nicht glauben. Ich kann nicht verstehen, warum die Schweiz wieder auf den Kollaps zusteuert, warum man dieses Risiko in Kauf nimmt. Geht es um Politik, geht es um Geld? Warum handeln die Behörden nicht?
«Warum nicht alle das Möglichste tun, um sich selbst und die anderen zu schützen, weiss ich nicht. Ich fühle mich völlig im Stich gelassen.»
Ich will niemanden zur Impfung zwingen. Ich habe Bekannte, die sich nicht impfen lassen wollen. Manche gehen verantwortungsvoll damit um und lassen sich regelmässig testen. Aber was ich nicht verstehen kann, ist wie mir eine junge Mutter erzählen kann, «Anna-Maria*, ich habe solche Angst vor den Nebenwirkungen der Impfung, ich habe doch meinen Kindern gegenüber eine Verantwortung», und gleichzeitig zieht sie an einer Zigarette.
Wie manche Menschen mir erzählen können, wie sie sich eingeschränkt und bevormundet fühlen, weil sie ein Zertifikat brauchen, das will mir nicht in den Kopf. Ihr seid eingeschränkt? Und was bin ich dann?
Ich fühle mich wie in einem Gefängnis. Ich will gar nicht ins Restaurant oder an ein Konzert. Ich will nur meine Familie gefahrlos treffen können. Ich kann zuhause bleiben, sie müssen jedoch zur Arbeit und in die Schule. Sie schützen sich soweit es geht, aber ein Restrisiko bleibt immer.
Warum nicht alle das Möglichste tun, um sich selbst und die anderen zu schützen, weiss ich nicht. Es macht mich traurig. Solidarität ist das ganz sicher nicht: Ich fühle mich völlig im Stich gelassen.
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