Der Spargelretter aus der Stadt
In Zeiten der Seuche klammern sich die Menschen an letzte Gewissheiten. Zum Beispiel an die Spargel. Aber wie holt man die Diva unter den heimischen Gemüsen aus der sandigen Erde? Bajour schickte Autor William Stern zur kurzen Anbauschlacht in Hölstein BL aufs Feld.
Haas, der Bauer, scheint nicht sehr überzeugt von meinen Fähigkeiten als Spargelstecher. Ich kann es ihm nicht verübeln. Während er wie ein geübter Chirurg einhändig mit einem sauberen Schnitt den Stamm durchtrennt, säge ich mühsam am Stiel der grünen Pflanze. Ich verdächtige Haas, mir absichtlich das stumpfe Messer gegeben zu haben, sage aber nichts. Die Stimmung ist schon so nicht ideal.
Es ist Karfreitag. Haas ist mürrisch, als ich zu ihm ins Auto steige. Ich erhalte sozusagen eine Privatlektion. Er holt mich vom Bahnhof Hölstein im Oberbaselbiet ab, um halb neun Uhr morgens. Ich versuche es mit einem Witz, der mit Händeschütteln anfängt und dem Coronavirus endet, aber Haas schenkt mir statt eines Lächelns nur ein wehmütiges «Joooo». Haas befürchtet, ich sei mehr Schädling als Hilfskraft. Ich fürchte, Haas hat Recht.
«Während eineinhalb Monaten müssen die Spargelbauern zweimal täglich aufs Feld.»
Aber auch er weiss: Alles Klagen nützt nichts. Die Spargeln müssen geerntet werden. Unwetter und Krankheiten hin oder her. Auch ein Weltuntergang – und soweit ist man zurzeit nicht davon entfernt – hält den Spargel nicht davon ab, unermüdlich aus der Erde zu treiben. Sobald es im April warm wird, beginnt ein Rennen gegen die Zeit. Bei 17 Grad wachsen die Pflanzen fünf Zentimeter pro Tag. Während eineinhalb Monaten müssen die Spargelbauern deshalb zweimal täglich aufs Feld – am Morgen und am Abend. Und jetzt, wo die Schlagbäume an Europas Grenzen gefallen sind wie Dominosteine, ist die Spargelernte in Gefahr.
Arbeitskolonne von Ost nach West
Die Spargeln werden in weiten Teilen der Welt noch immer von Hand gestochen. Jeden Frühling setzt sich deshalb eine riesige Arbeitskolonne in Bewegung, von der Ukraine, Rumänien, Polen, Ungarn und Bulgarien in Richtung Westen, nach Deutschland, in die Schweiz. Jetzt stranden die Erntehelfer*innen an den Grenzen oder laufen bei den Botschaften auf.
In Deutschland, viertgrösster Spargelproduzent weltweit mit 133'020 Tonnen, drang der Hilferuf der Spargelbäuer*innen bis in die obersten Etagen des Landwirtschaftsministeriums. Kurz darauf die Entwarnung: 80'000 Erntehelfer*innen machen sich in den nächsten zwei Monaten per Flugzeug auf den Weg nach Deutschland. Dass gleichzeitig seit Wochen erfolglos darüber debattiert wird, einige Hundert Asylsuchende aus den völlig engen Auffanglagern in der Ägäis auszufliegen, kam nicht überall gut an. Auf Twitter schrieb jemand: 'Die Würde des Spargel ist unantastbar.'
Forderungen, dass man Asylsuchende, Arbeitslose oder Student*innen aufs Feld schicken sollte, fanden hierzulande kaum Gehör.
In der Schweiz ist das Problem der fehlenden Hände auf dem Feld nicht ganz so gross. Gut 780 Tonnen Spargel wird hierzulande auf rund 390 Hektaren angebaut. Forderungen, dass man Asylsuchende, Arbeitslose oder Studenten aufs Feld schicken sollte, fanden kaum Gehör. Dennoch schlugen die Spargelproduzent*innen auch in der Schweiz Alarm. Der Gedanke war schnell gefasst: Ab aufs Feld. Landdienst. Für eine Reportage. Und ein bisschen fürs Vaterland.
«Einige von denen können wir brauchen, andere nicht»
Telefon bei Bauer Wiesner. Er ist einer der grössten Spargelbauern im Baselbiet. Für die Ernte hatte er eigentlich mit 15 Helfern aus Osteuropa geplant. Nun müssen Inländer in die Bresche springen: «75 Leute haben sich freiwillig gemeldet, viele von ihnen haben wegen Corona keinen Job. Einige von denen können wir brauchen, andere nicht.»
Ich habe das Gespräch mit Wiesner noch im Kopf, als mir Bauer Haas das Desinfektionsmittel reicht. Die Abstandsregel haben wir schon im Auto gebrochen. Dann drückt er mir die Gemüsekisten und das stumpfe Messer in die Hand und schickt mich aufs Feld. Mir, dem Städter, stehen ein paar Stunden harte körperliche Arbeit bevor. Mit 15 verbrachte ich eine Schnupperwoche bei einem Landschaftsgarten-Betrieb, seither vermied ich es erfolgreich, meine Muskeln gegen Entgelt zu sehr zu beanspruchen. In der Wiesnerschen Kategorie gehöre ich ganz eindeutig zu den Unbrauchbaren.
Der Darwinismus im Gemüseregal ist brutal
Die Faustregel lautet: Ist der Spargel höher als das Messer, wird er gestochen. Ansonsten lässt man ihn noch wachsen. Sind die Spargel zu gross, werden sie ungeniessbar. Fangen sie an zu treiben, sehen sie aus wie verkrüppelte Tannenbäumchen. In die Auslagen der Geschäfte kommen nur die wohl genährten, kraftstrotzenden und lebenstüchtigen. Die mageren werden aussortiert. «Ausschuss», sagt Haas verächtlich zu einem dünnen Stengelchen, das ich ihm präsentiere.
Dass auf dem Feld nur grüner Spargel wächst, ist für mich als Spargelstecher ein grosser Vorteil. Im Gegensatz zum weissen Spargel wird er oberhalb der Erdoberfläche gestochen. Das kraftraubende, blinde Stochern in der Erde entfällt. Dafür hat der grüne Spargel natürliche Feinde, wie mir Haas erklärt. Zum Beispiel das Spargelhähnchen, das sich im Frühjahr an den Trieben der jungen Pflanzen gütlich tut.
Ich habe in einer knappen Stunde wahrscheinlich mehr Schaden angerichtet als das Spargelhähnchen in einer ganzen Saison.
Haas gehört zu den kleinsten Spargelbauern in der Region. Die grossen Produzenten finden sich in Zürich, Thurgau und im Wallis. Im Baselbiet gibt es neben Haas nur eine Handvoll Bauern, die Spargeln anpflanzen.
«Nicht auf den Spargel treten», schärfte mir Haas noch vor wenigen Minuten ein. Zu spät. Ich habe in einer knappen Stunde wahrscheinlich mehr Schaden angerichtet als das Spargelhähnchen in einer ganzen Saison.
Die Sonne sticht. Wir sind alleine auf dem Feld. Haas, dessen linker Arm seit einem Mofa-Unfall mit 17 gelähmt ist («Frontalkollision mit einem Auto, der Nerv am Ellbogen war augenblicklich durchtrennt»), ist es sich gewohnt. Letztes Jahr hatte er zwar eine Erntehilfe aus dem Ausland. Und eigentlich beschäftigt er wegen der Behinderung auch einen Mitarbeiter. Aber der ist grad mit den Kühen im Stall.
Und Haas’ drei Töchter haben offenbar andere Ideen, wie man das Osterwochenende verbringt. «Die Kleinste hat mir gestern geholfen, die anderen zwei sind gar nicht begeistert. Was will man machen.» Der Stiefvater, der sonst immer mit aufs Feld gekommen ist, ist 80 und erholt sich von einer Lungenentzündung, die Mutter musste sich vor kurzem einer Hüftoperation unterziehen. Andere Familienmitglieder wollten wegen der Corona-Epidemie nicht kommen.
Systemrelevantes Gemüse?
Je mehr man sich mit dem Spargel beschäftigt, desto unmöglicher erscheint das Leben ohne. Stichwort Systemrelevanz. In Zürich hat das Spargelfieber in Kombination mit Corona zu einem wortwörtlichen Blockbuster geführt. Im noblen Seefeld reichte die Schlange um den Pop-Up-Spargel-Shop vor Ostern um den ganzen Block herum. Der Amtsschimmel kam wenig später in Gestalt von zwei Polizisten dahergeritten und verbot den Verkauf. Einen Tag später durfte der Verkauf wieder eröffnet werden – mit gebührendem Abstand.
In der Gemüse-Hierarchie nimmt der Spargel eine besondere Stellung ein. Tomaten, schön und gut. Jederzeit verfügbar, aber immerhin mediterranes Flair. Kartoffeln, eindeutig am unteren Ende der Nahrungskette, der Prolet unter den Beilagen. Kohl: Stinkendes Mittelaltergemüse, erträglich nur in der Power-Food-Variante Kale. Die Spargel ist die einheimische Diva, die sich nur zu ganz besonderen Gelegenheiten die Ehre gibt. Nicht umsonst wird sie als «Königin der Gemüse» bezeichnet. Ein seltenes Pflänzchen, das sich nur während kurzer Zeit, Mitte April bis Mitte Juni zu erscheinen bequemt. Acht Franken kostet das halbe Kilo bei Haas. Weisse Spargeln werden für bis zu elf Franken das Pfund verkauft.
Surrende Knie und ein steifer Rücken
Halb 11 Uhr: Ich habe die Kisten wieder falsch positioniert. Sie bleiben immer auf einer Linie, ein Ausscheren wird nicht toleriert. Aber Haas, mit seinem schiefen Käppi und der blauen Arbeits-Latzhose, nimmt es inzwischen gelassen. Vielleicht hat die Sonne seinen anfänglichen Unmut weggeschmolzen. Überhaupt spricht der Mann plötzlich. Am Telefon, ein paar Tage zuvor, hat er auf Fragen noch einsilbig geantwortet.
«Immerhin habe ich an gutes Schuhwerk und eine Mütze gedacht.»
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Haas mit grossen Schritten die Spargelkanäle abschreitet. Auch meine Familie bearbeitet vor drei Generationen Land, ich entstamme eine Bauernfamilie im Appenzell. Im Erbgut hängen geblieben ist davon offenbar wenig. Mein Rücken fühlte sich schon nach wenigen Minuten steif an. Meine Knie surren und die Achillessehne ist unter unangenehmer Hochspannung.
Der Schriftsteller Carl Zuckmayer schrieb: «Wenn du Kartoffeln oder Spargeln isst, schmeckst du den Sand der Felder und der Wurzels Segen, des Himmels Hitze und den kühlen Regen, kühles Wasser und den warmen Mist.» Ich wette, Zuckmayer stach in seinem Leben keinen einzigen Spargel. Immerhin habe ich an gutes Schuhwerk und eine Mütze gedacht. In Pratteln steigt das Thermometer heute auf 25.2 Grad.
Ein Auto nähert sich, hält an. Eine Frau steckt den Kopf aus dem Seitenfenster: «Kann man sie schon essen?» Haas nimmt eine Handvoll, büschelt sie und reicht sie durchs Fenster. Schon die zweite Person, die an Haas' Feld vorbeikommt und nach Spargeln fragt. Ein paar Stunden zuvor spazierte Marisa vorbei. Auch sie erhielt einen Bund. «Zahlen kannst du später.» Man kennt sich hier.
Marisa schwärmte von Haas' Gemüse und von ihrem Lieblingsrezept: «Sechs Minuten im Dampfkochtopf, dann ein paar Ankeflöckli und etwas geriebenen Sbrinz drüber – es gibt nichts Besseres.» Der Appetit auf Spargel steigt in der Schweiz beständig. Wurden laut dem Branchenmagazin Schweizer Bauer noch in den 1980er-Jahren rund 550 Gramm Spargeln pro Person verzehrt, stieg die Menge bis 2017 auf 1.4 Kilogramm an. Der Spargelanbau wurde nicht zuletzt gefördert durch ein grosszügiges Subventionsprogramm des Bundes.
Der Spargel als Frühlingsverkünder
Warum ist der Spargel so beliebt? Haas richtet sich auf. «Der Spargel ist ein Frühlingsbotschafter. Sobald der Spargelbund im Regal auftaucht, wissen die Menschen: Jetzt ist die dunkle Zeit vorüber.» Der Spargel als Verkünder einer besseren Zeit, als natürlicher, zuverlässiger Zeitmesser.
Wir steigen ins Auto, Hyundai, FC-Basel-Kleber, eine Delle links hinten, und fahren zum Oberen Bireten, dem Haas'schen Bauernhof. Auf dem Vorplatz wäscht Frau Haas die Spargeln und bündelt sie zu Sträussen von je 500 Gramm. Wir setzen uns an den wettergegerbten Festbank vor dem Eingang. Hass reicht Most aus heimischer Produktion.
In den nächsten sechs Wochen wird Familie Haas nun zweimal täglich aufs gut 300 Meter entfernte Spargelfeld Spargel stechen gehen, sieben Tage in der Woche. «Eine intensive Zeit, sagt Haas. Stundenlöhner will Haas trotzdem nicht anstellen. «Wir schaffen das schon.» Für mich ist die Arbeit beendet. Ich erbitte um ein Zeugnis von Haas. Er guckt auf die Holzbank und sagt: «Naja, sagen wir, ich war positiv überrascht.» Ich sage, ich hätte es mir schlimmer vorgestellt. «Wart nur. Morgen hast du Muskelkater.» Die Weisheit des Bauerns sollte man nie in Zweifel ziehen.