Raus aus dem Hinterzimmer
Die GAV-Verhandlungen am Theater Basel sind schweizweit die ersten, bei denen die Türen nicht geschlossen sind: Manche Mitarbeiter*innen sind Teil des Verhandlungsteams und alle dürfen als Zuhörer*innen teilnehmen.
An der Steinentorstrasse werden Passant*innen an diesem Mittag unweigerlich zum Publikum. Die grosse Glasfront des Schauspielshauses, die sonst tagsüber nur das leere Foyer zeigt, ist heute selbst die Bühne. Vorgetragen wird: Neuverhandlung Gesamtarbeitsvertrag (GAV) für die technischen Mitarbeiter*innen des Theaters Basel, Verhandlungstag 11.
Bühnenbild aus Sicht der Glasfront: Den Passant*innen wie bei Michelangelos «Letztem Abendmahl» zugewandt sitzen rund 20 Menschen an Tischen. Das ist die Arbeitnehmer*innenseite. Die rund zehnköpfige Arbeitgeber*innenseite sitzt mit dem Rücken zu den Passant*innen auf der Gegenseite.
In der Mitte des Raums: je ein Bildschirm für beide Seiten. Darauf zu sehen (für die Passant*innen aber nicht zu erkennen) ist die sogenannte Synopse: vier Varianten des GAV nebeneinander – die aktuelle, die mit Forderungen der Arbeitnehmer*innen, die mit Forderungen der Arbeitgeber*innen und der Kompromissvorschlag.
Abgesehen von den Passant*innen, die unfreiwillig jeweils für wenige Sekunden zu Zuschauer*innen der rund vierstündigen Darbietung werden, ist kein Publikum gekommen. Klar, niemand weiss bescheid, dass hier gerade Gewerkschaftsverhandlungen stattfinden, die transparenter sind als man es in der Schweiz je gesehen hat.
Seit 2022 laufen am Theater Basel Verhandlungen für einen neuen Gesamtarbeitsvertrag für die technischen Mitarbeiter*innen. Der Gesamtarbeitsvertrag regelt die Arbeitsbedingungen für rund 250 Menschen, die in sehr unterschiedlichen Abteilungen (Licht, Ton, Kostüm, Bühnenbild, Schlosserei und und und) tätig sind und entsprechend auch sehr unterschiedliche Arbeitsrealitäten haben. Hauptsächlich geht es um Arbeitszeitreduktion, Lohnerhöhungen und Elternzeit. Im Juni 2023 berichtete Bajour bereits über eine Protestaktion am Theater, weil die Arbeitnehmer*innen der Leitung vorwarfen, die Verhandlungen zu verzögern.
Wer nicht dem GAV unterstellt ist, muss wie die Passant*innen (und Journalist*innen) vor der Glasfront bleiben. Offene Verhandlungen sind immerhin keine öffentlichen Verhandlungen. Doch einige Mitarbeiter*innen des Theaters haben als Statist*innen Platz ausserhalb der Verhandlungstische im Raum gefunden: Sie dürfen als Gäste stille Mäuschen im Verhandlungsraum spielen.
Doch die Mitarbeiter*innen sitzen hier nicht nur als Zaungäste. Einige sitzen auch am Tisch: Gewählte Delegationen von je drei Mitarbeiter*innen aus jeder vom GAV betroffenen Abteilung. Insgesamt sind es 35 Theatermitarbeiter*innen, die hier erstmals in ihrem Leben zu Gewerkschaftsfunktionär*innen werden.
Das ist ein ziemlicher Paradigmenwechsel. Weg vom Hinterzimmergespräch zwischen Gewerkschaft- und Betriebs- oder Branchen-Bossen. Hin zu einem Modell, bei dem die Expert*innen – also die, deren Arbeitsalltag im Endeffekt von den verhandelten Rahmenbedingungen bestimmt wird – selbst am Tisch sitzen.
Offene Verhandlungen, dieses Modell gibt es noch nicht so lange. Popularisiert wurde «open bargaining» in den USA durch die Bücher der Organizerin und Wissenschaftlerin Jane McAlevey. Im deutschsprachigen Raum nahmen erstmals 2022 in der Berliner Krankenhausbewegung Fachpersonen aus den Betrieben an den Tarifverhandlungen teil.
Da die amerikanischen und deutschen Kolleg*innen gute Erfahrungen mit diesem Modell machten, gewann man auch beim VPOD Interesse daran. «Wir wussten, dass es spannend sein könnte, das bei den Verhandlungen am Theater auszuprobieren. Dort passt es ja zu der modernen Arbeitsweise» sagt Alex Aronsky, Gewerkschaftssekretärin beim VPOD Basel. Die Beschäftigten am Theater mussten sich nicht lange überzeugen lassen und machten die Öffnung des Verhandlungsraums zur Bedingung für die GAV-Verhandlungen.
Nun, komplettes Improvisationstheater ist das dann aber trotzdem nicht. Im Gegenteil: Die GAV-Verhandlungen sind sehr strukturiert: Beide Seiten haben ihre Forderungen mitgebracht, die Gewerkschaften haben in den Betrieben genau nachgehakt, wie der neue GAV aussehen soll. Das wird dann an den Verhandlungstagen Seite für Seite durchgearbeitet.
Die Theatermitarbeiter*innen, die Teil des Verhandlungsteams sind, kennen ihren Einsatz genau: Alex Aronsky, Verhandlungsführerin und Gewerkschaftssekretärin vom VPOD Basel, hat ihnen ihr Skript gegeben, an welcher Stelle in den Verhandlungen sie als Wortmeldung welche Erfahrungen aus ihrem Arbeitsalltag vortragen.
Ansonsten gilt: Pokerface. Nicht meckern, nicht jubeln, nicht unterbrechen wenn die Theaterleitung einen Punkt aufbringt. Wer etwas sagen oder eine Verhandlungsunterbrechung zum Besprechen will, schreibt es in Stichworten auf einen Kommunikationszettel.
– Alex Aronsky, Verhandlungsführerin und Gewerkschaftssekretärin VPOD
Für Aronsky, die damit nicht mehr die Hauptrolle in der Gewerkschaftsverhandlungen spielt, ist dieses Koordinieren der Wortbeiträge auf Arbeitnehmer*innenseite auch eine neue Form der Verhandlungsführung: «Das ist in der Koordination mehr Arbeit als in ‹normalen› Verhandlungen, weil wir vorher mehr besprechen müssen. Aber dafür sind die Diskussionen flüssiger: Die Expert*innen sitzen ja mit am Tisch und können in Detailfragen auf die Einwände der Betriebsleitung reagieren, auf die ich keine Antwort hätte. Inhaltlich ist es für mich sowieso einfacher im Vergleich zu sonstigen Verhandlungen.»
Die Kritik zur Darbietung ist positiv. Im Ensemble der Verhandlungsführer*innen lobt man die Performance aller Beteiligter:
Andrea Mercan, Theatermalerin: «Ich arbeite seit über 33 Jahren am Theater Basel und war 10 Jahre in der Betriebskommission tätig. GAV Verhandlungen wurden bis anhin in einem kleinen Kreis geführt und waren im Nachhinein für die Belegschaft nur schwer nachvollziehbar. Die Form der ‹Offenen Verhandlung› ist eine riesengrosse Chance für die konkrete Mitwirkung am eigenen Arbeitsumfeld.»
Ann-Kathrin Pipoz, Prospektnäherin und Kostümschneiderin: «Solche GAV-Gespräche betreffen mich nicht, dachte ich früher. Entsprechend unbedarft ging ich in die Verhandlungen. Wir mussten uns Gedanken machen, was wir überhaupt fordern wollen und dieser Prozess hat mir sehr die Augen geöffnet. Durch die intensive Auseinandersetzung mit den verschiedenen Themen sind wir im Theater zusammengewachsen. Wir verstehen jetzt auch die Anliegen der anderen Abteilungen besser und ich habe viel mehr Arbeitskolleg*innen kennengelernt.»
Max Herber, Veranstaltungstechniker und Co-Präsident der Betriebskommission: «Für uns Mitarbeitende ist diese Verhandlungsform eine Ermächtigung, mitreden zu können. Und das ganze Haus macht mit: Wir in den Delegationen geben als Botschafter unseren Teams Rückmeldung; sie stärken uns den Rücken, in dem sie die Mehrarbeit schultern, die dadurch entsteht, dass wir in der Arbeitszeit an den Verhandlungen sind. Das kostet Energie, aber ich denke, es ist effizient und zielführend.»
Balz Stückelberger, Verwaltungsrat und Verhandlungsführer Theaterleitung:«Ich habe schon viele GAV in der Bankbranche verhandelt. Mein erster Eindruck, als ich von diesem Verhandlungsformat gehört habe, war: ‹Das wird kompliziert.› Mit einem Raum voller Mitarbeitenden ist es viel anspruchsvoller und die Verhandlungstonalität ist dann auch vorsichtiger. Aber wir sind überzeugt, dass sich das Format lohnt, um eine breit akzeptierte Lösung zu finden. Es gibt der Leitung auch die Möglichkeit, ihre Positionen direkt und ohne ‹Übersetzung› der Gewerkschaft zu erklären.»
Der Spielplan sieht noch weitere interessante Verhandlungstage vor. Andrea Mercan sagt, sie sei motiviert, weil nun die spannenden Themen auf den Tisch kommen: «Man braucht schon einen langen Atem.» Die Hoffnung ist, dass bei den Verhandlungen ein nachhaltiger GAV entsteht – also einer, den die Belegschaft akzeptiert und der nicht nach wenigen Jahren neu verhandelt werden muss.
Unabhängig davon, wie die Verhandlungen weiter laufen, könnte das Experiment eines offenen Verhandlungstischs auch für weitere Gewerkschaftsverhandlungen implementiert werden. Andere VPOD-Sektionen sind jeweils sehr interessiert an dem Konzept, das man gerade am Theater Basel testet, sagt Alex Aronsky.
Zum Inhalt der Verhandlungen können wir nichts schreiben. Wie bei einem guten Theaterstück wollen (und dürfen) wir nicht spoilern.
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