Warum ein Chirurg in der Schweiz Toiletten putzt

Amanuel Berhe Weldemichael floh aus Eritrea in die Schweiz. In seiner Heimat war er Arzt, in der Schweiz arbeitet er als Putzkraft. Er träumt davon, wieder im Operationssaal stehen zu können.

Amanuel Berhe Weldemichael träumt davon, wieder als Arzt praktizieren zu können.
Amanuel Berhe Weldemichael träumt davon, wieder als Arzt praktizieren zu können.

Amanuel Berhe Weldemichael blickt unsicher auf das Aufnahmegerät und streicht sich durch die angegrauten schwarzen Haare. «Nicht lachen, ja? Mein Deutsch ist noch nicht perfekt.» Er lächelt beschämt. Weldemichael, 34 Jahre alt, mittelgross, schmächtig, sitzt in weissem Hemd in einem Berner Café und verkauft sich unter Wert. Erst seit drei Jahren lebt der Eritreer in der Schweiz und schafft es mühelos, seine Geschichte auf Deutsch zu erzählen. 

Es ist eine Geschichte, die viele Menschen erleben, die aus ihrer Heimat fliehen und in die Schweiz kommen. Was sie sich zu Hause aufgebaut haben, zählt hier nichts. Sie müssen noch einmal von vorne anfangen.

So auch Weldemichael: Seine Vergangenheit spielte in Operationssälen in eritreischen und äthiopischen Spitälern. Stolz zeigt Weldemichael auf seinem Handy Bilder von sich im weissen Kittel, Stethoskop um den Hals. Das war vor vier Jahren in Mek’ele, einer Stadt im Norden Äthiopiens, wo er als Assistenzchirurg arbeitete.

Heute trägt Weldemichael einen Putzkittel am Körper und Putzlumpen in der Hand, er arbeitet in der Schweiz als Putzkraft. Seine Zeugnisse werden hier nicht anerkannt. Doch wenn es nach Weldemichael geht, spielt seine Zukunft wieder in Operationssälen. Seine Hoffnung setzt er dabei auf die Universität Basel: Hier hat er sich für den Master in Medizin beworben.

«Als eritreischer Bürger ist man quasi Gefangener des Staates. Der Staat entscheidet, wo, wann und für wen man arbeitet. Wer sich dagegen wehrt, wird bestraft.»

von Amanuel Berhe Weldemichael

Aufgewachsen in Eritrea, studierte Weldemichael sechs Jahre lang an der medizinischen Fakultät Asmara. Dann wurde er als Militärarzt eingezogen. 

Der autokratische Ein-Parteien-Staat liess ihm keine Wahl, sein Zukunft war bereits vorgezeichnet: Er würde den Rest seines Lebens als Arzt Militärdienst leisten – ohne sichere Bezahlung. Nach seinem Medizinabschluss arbeitete er drei Monate in einem Regionalspital im Süden Eritreas, ohne je dafür entlohnt worden zu sein.

Flucht nach Äthiopien

Wie ohne Geld das Leben bestreiten? Der junge Amanuel Weldemichael realisierte, dass ihm sein Abschluss hier nicht viel bringen würde. «Als eritreischer Bürger ist man quasi Gefangener des Staates. Der Staat entscheidet, wo, wann und für wen man arbeitet. Wer sich dagegen wehrt, wird bestraft. Man kommt ins Gefängnis, der Lohn wird gesperrt. Diesem System der Diktatur wollte ich mich nicht beugen», sagt Weldemichael. 

Er packte seine Sachen und machte sich auf eine gefährliche Reise. «Ich hatte von Freunden gehört, dass die Situation für Ärzte in Äthiopien besser sei. Zu Hause hatte ich kein Geld und keine Zukunft. Also floh ich.» 

Den Weg bestreitet er in Teilen zu Fuss, acht Stunden lang läuft er, bis an die Grenze von Äthiopien. «Ich hatte Angst, es war hart, aber ich wollte dieser aussichtslosen Situation in der Heimat entkommen», erzählt er.

In Äthiopien läuft es für Weldemichael zunächst nicht so, wie er sich das ausgemalt hatte. Statt einer Anstellung in einem Krankenhaus, einer eigenen Wohnung, arbeitet und lebt er mehrere Wochen in einem Flüchtlingscamp. «Es war schlimm dort. In einer Woche musste ich mich um sechzig bis achtzig Patienten kümmern.» Weldemichael will dort nicht bleiben, weiss aber zunächst nicht, wohin er sonst gehen soll. Zurück nach Eritrea und zurück in den Dienst des Militärs will er auf gar keinen Fall. 

Er schafft es, eine Stelle in einem äthiopischen Krankenhaus zu ergattern. Er kommt in einem Student*innenheim unter. Weldemichael ist erleichtert und dankbar, er scheint endlich angekommen. Er erzählt, wie er zum ersten Mal in seinem Leben einen richtigen Lohn hatte, zum ersten Mal ein Bankkonto. Amanuel Weldemichael ist damals Ende 20. «Ich war endlich unabhängig», sagt er lächelnd. Aus dieser Zeit stammen auch die Fotos von ihm als Chirurg, die er stolz zeigt. 

Welchemichael denkt stolz an die Zeit zurück, als er in Äthiopien im Spital gearbeitet hat.
Welchemichael denkt stolz an die Zeit zurück, als er in Äthiopien im Spital gearbeitet hat.

Weldemichael spezialisiert sich auf die allgemeine Chirurgie und erarbeitet sich einen Ruf als fähiger und ehrgeiziger Arzt. Er hat keine Scheu seine Zeugnisse zu präsentieren: Seine Bewertungen sind alle durchwegs positiv. Ihm winkt die grosse Karriere. Wäre da nicht die schwierige politische Situation zwischen Äthiopien und seinem Heimatland Eritrea, die ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Von den insgesamt vier Jahren des Studiums der Chirurgie darf Weldemichael nur zwei Jahre absolvieren.

Er blickt bedauernd auf die Tischplatte: «Das waren schwierige Zeiten. Als Eritreer in Äthiopien hatte ich nur eingeschränkte Rechte.» 

Es ist ihm beispielsweise nicht erlaubt, einen Führerschein zu haben. Aber schlimmer noch für Weldemichael: Eine Festanstellung, einen richtigen Job, wird ihm aufgrund der Gesetze und der angespannten Lage in Äthiopien verweigert. 

Seine Stelle als Assistenzarzt ist befristet. Erneut muss sich Weldemichael die Frage stellen: «Wie weiter?» 

Endlich wieder im Operationssaal stehen

Juni 2021, Kanton Bern. Weldemichael wohnt mittlerweile seit drei Jahren in der Schweiz. Als Arzt arbeitet er nicht mehr. «Die Grundbedürfnisse sind für alle Menschen gleich», sagt  Weldemichael: «Unabhängig sein, frei sein.» Mit seiner Frau und seinen zwei Kindern lebt er in Zollikofen. Sie ist Köchin in einem Restaurant, er arbeitet als Putzkraft für eine Reinigungsfirma und absolviert Deutschkurse. In die Schweiz kam er durch seine Frau, die bereits als Teenager aus Eritrea geflohen ist. Sie ist seine Jugendliebe, den Kontakt zu ihr hat er nie abgebrochen. Nach 13 Jahren sehen sie sich wieder, als sie ihn in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba besucht. Amanuel Weldemichael beschliesst, gemeinsam mit ihr in die Schweiz zurückzukehren. 

Weldemichael ist froh, der Ausweglosigkeit entkommen zu sein. Dass er nicht mehr als Arzt praktizieren kann, schmerzt ihn dennoch. Obwohl er fast fünf Jahre Arbeitserfahrung mitbringt, nützen ihm seine Zeugnisse aus Äthiopien bei den Bewerbungen in den Schweizer Spitälern nichts. Das Diplom seines abgeschlossenen Studiums aus Eritrea kann  Weldemichael nicht vorweisen, weil der Staat diese nicht aushändigt – um zu verhindern, dass gut qualifizierte Arbeitskräfte wie er, ins Ausland gehen. 

Fürs 🤍
Bajour

Aber Weldemichael weiss, was es bedeutet, zu kämpfen. Er will sich nicht geschlagen geben. Darum hat er sich vor einem Jahr bei mehreren Unis für ein Masterstudium beworben. Die Anforderungen, aufgenommen zu werden, sind hoch: Neben den universitäten Zeugnissen, braucht  Weldemichael ein Deutschdiplom und vor allem einen Menge Glück, um einen der beliebten Studienplätze zu ergattern. «Mein Plan, als ich in die Schweiz kam, war, zunächst Deutsch zu lernen, Geld zu verdienen und dann eines Tages wieder als Arzt praktizieren zu können», sagt er. 

Die Universität Basel prüft zurzeit Weldemichaels Bewerbung. Die Studienplätze seien knapp, unmöglich sei es aber nicht, so die Studienadministration. 

«Es ist mein Traum, plastische Chirurgie zu studieren», sagt Weldemichael.

Vielleicht kann Amanuel Berhe Weldemichael diesen Herbst in Basel sein Studium wieder aufnehmen. Und in ein paar Jahren wieder seinen weissen Kittel tragen und das Skalpell führen. Weldemichael lächelt, wenn er daran denkt: «Mein Hirn, mein Herz, alles ruft danach.»

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