Falsche Ausgewogenheit
Wer extremen Minderheitenmeinungen immer wieder ein mediales Forum bietet, opfert wissenschaftlichen Konsens auf dem Altar von hirnrissigen Debatten.
Dieser Artikel ist zuerst am 5. August 2021 in Die Wochenzeitung WOZ erschienen. Die WOZ gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
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Man reibt sich die Augen – nicht weil man die Bilder der Zerstörung durch Hochwasser, Hagel und Hitze nicht länger sehen kann. Sondern weil da einer, der sich Journalist nennt, in der «SonntagsZeitung» behauptet, diese extremen Wetterereignisse hätten gar nicht zugenommen und vor allem nichts mit dem Klimawandel zu tun. Ist die Tamedia ins Sommerloch gefallen?
Der Satiremagazinbesitzer Markus Somm ist nicht der Einzige, der aktuell höchst fragwürdige Aussagen auf sämtlichen Tamedia-Kanälen verbreiten darf. Auch der Ökonom und Zahlenjongleur Reiner Eichenberger erhielt jüngst viel Platz für seine Behauptungen, in Zürich seien die Wohnungen zu billig und das Velo komme die Allgemeinheit teurer zu stehen als das Auto. Oder der Volkskundler Eberhard Wolff, der zwar kein Arzt ist, aber die Coronaimpfung als medizinisch umstritten darstellt.
Reine Sensationsgier
Das Phänomen, das sich über die zahlreichen Tamedia-Kanäle viral verbreitet (und dem auch andere Zürcher Medienhäuser nicht abhold sind), hat einen Namen: falsche Ausgewogenheit. Und viral bedeutet in diesem Fall tatsächlich krank machend, handelt es sich doch um eine gefährliche Form der medialen Verzerrung rund um Wissenschaft. Man beruft sich auf das journalistische Prinzip der Fairness, die es gebietet, in Konflikten beide Seiten zu Wort kommen zu lassen.
Verkannt wird dabei, dass ein wissenschaftlicher Konsens besteht: Der menschengemachte Klimawandel ist real, seine Befeuerung durch das Auto kommt uns alle um ein Vielfaches teurer zu stehen als Velofahren, und die in der Schweiz zugelassenen Impfstoffe gegen Corona wirken und sind sicher. Gibt man Meinungen einer kleinen Minderheit, die das infrage stellt, eine ähnlich grosse mediale Plattform, entsteht der – falsche – Eindruck, diese Fakten seien strittig.
«Wenn zwei Experten sich streiten, ob es regnet oder nicht, sollte die Journalistin (oder der Chefredaktor) zumindest mal aus dem Fenster schauen.»
Falsche Ausgewogenheit hat verschiedene Ursachen. Wer als Journalist*in über zu wenig Sachkompetenz verfügt oder sich kaum Zeit für Recherchen nimmt, benutzt das Argument der Ausgewogenheit als Ersatz für Plausibilitätsüberprüfungen. Oder führt ein konträr geführtes Interview als Beweis für die eigene Professionalität ins Feld. Beides ist einigermassen scheinheilig in einem Medienunternehmen, das bei seiner Berichterstattung oft vor allem auf Klickzahlen zu schielen scheint. Der Rückgriff auf vermeintliche oder selbsterklärte Experten, die eine Kontroverse schüren, die es ohne das mediale Forum, das man ihnen bietet, so gar nicht geben würde, ist reiner Sensationsjournalismus.
Auf dessen Altar opfert die Tamedia gerade ihr eigenes Wissenschaftsressort. Seit Jahren berichten ausgewiesene Wissenschaftsjournalist*innen dort etwa über Ursachen und Folgen der Klimaerhitzung und erklären die komplexen Zusammenhänge dahinter – stets basierend auf den neusten Erkenntnissen aus der Forschung.
Mit Vorsatz
Und dann wird ein frei flottierender Publizist ins Rampenlicht gerückt, der über die «Launen des Wetters» schwadronieren darf, die nichts mit dem menschengemachten Klimawandel zu tun hätten. Der sich dabei auf das oberste Expert*innengremium, den Weltklimarat IPCC, beruft – genauer, den «neusten Forschungsstand, wie ihn der IPCC wiedergibt» in seinem letzten Weltklimabericht. Dieser Bericht stammt aus dem Jahr 2013.
Somm ignoriert also mal ganz locker die vergangenen acht Jahre Klimaforschung. Ziemlich dreist, wie hier die Arbeit von Tausenden von Wissenschaftler*innen weltweit sowie von einer ganzen Wissenschaftsredaktion desavouiert wird. Vorsätzlich und – davon muss man ausgehen – mit Placet der Chefetage.
Auf dass Tamedia wieder aus dem Somm(er)-loch finde und falsche Ausgewogenheit nicht zum Verlagsprogramm werde, hilft vielleicht ein mediendidaktischer Input aus dem angelsächsischen Raum: John Oliver hat in seiner HBO-Late-Night-Satireshow zwei Klimaskeptiker und 98 Wissenschaftler*innen ins Studio geladen – um die falsche Ausgewogenheit zumindest mathematisch zu korrigieren. Oder noch grundsätzlicher: Wenn zwei Experten sich streiten, ob es regnet oder nicht, sollte die Journalistin (oder der Chefredaktor) zumindest mal aus dem Fenster schauen.