«Ich schaue einfach immer, dass es Milch und Cornflakes hat»
Eine Familie, vier Kinder. Die Mutter arbeitet im Niedriglohnsektor, der Vater ist arbeitsunfähig. Weil das Geld nicht reicht, bekommt die Familie nun Lebensmittel von der Gärngschee-Aktion. Mutter Anna* erzählt.
Am Samstag startet die Gärngschee Lebensmittelabgabe!
Unter anderem gibt Gärngschee Lebensmittel an Anna* ab. Die Mutter hat sich letzten Advent bei uns gemeldet. Bajour und die Gärngschee-Community verschenkte damals Velos, Trottis und liess andere Wünsche von Kindern aus Familien mit kleinem Budget wahr werden. Doch Anna fragte, ob sie stattdessen Lebensmittel haben könne: Ihrer Familie reiche das Geld nicht mehr für das Nötigste.
Für Anna und alle, denen es ähnlich wie ihr geht, hat Gärngschee die Lebensmittel-Abgabe auf die Beine gestellt.
Jetzt erzählt Anna uns ihre Geschichte.
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Ich und meine Familie beziehen Sozialhilfe.
Ich bin Mutter von vier Kindern. Ich arbeite neben der Betreuung der Kinder fünfzig Prozent in Lohnarbeit im Niedriglohnsektor. Da verdiene ich mit Kindergeld 2300 Franken pro Monat. Ich manage den Haushalt und mache noch eine Weiterbildung.
Ab Sommer will ich aufstocken mit der Arbeit. Die Kinder sind ja nicht mehr so klein. Mein Mann und ich haben alte Steuerschulden: Nicht weil wir nicht zahlen wollten, sondern weil wir das Geld nicht hatten und wir gewisse Sachen nicht verstanden haben. Wir waren lange zu stolz, um Unterstützung zu beantragen.
«Wir waren lange zu stolz, um Unterstützung zu beantragen.»Anna*
Mein Mann hatte eine grosse Herzoperation vor zehn Jahren und hat starke Rückenprobleme. Seine gesundheitliche Situation ist schlecht, aber sein Antrag auf IV wurde schon zweimal abgelehnt. Man sieht ihm seine Probleme nicht an und es war schwierig, eine Diagnose zu stellen.
Bei den letzten Untersuchungen haben sie dann endlich etwas auf dem MRI gesehen, aber diese Tests kamen gerade nicht mehr in unseren zweiten IV-Antrag. Wir haben jetzt wieder Rekurs eingelegt. Ich sehe jeden Tag, wie er leidet.
«Das Sozialamt hat immer gesagt, dass es einfach sein wird, eine Wohnung zu finden, weil es komplett für uns gebürgt hat. Aber es war unglaublich schwierig.»Anna*
Mein Mann hat keinen Schweizer Pass. Es gibt diese Vorurteile: Mein Mann ist Ausländer, arbeitet nicht, wartet auf die IV. Ich habe gelernt, nicht darauf zu hören. Es berührt mich natürlich – aber ich weiss ja, dass es nicht so ist. Mein Mann hat eine Ausbildung als Architekt gemacht. Das wurde aber in der Schweiz nicht anerkannt, er hätte Zusatzausbildungen machen müssen, für die das Geld nicht da war. Also hat er sich vor allem mit befristeten Jobs über Wasser gehalten.
Früher lebten wir mit den vier Kindern in einer Dreizimmerwohnung. Wir haben eine grössere Wohnung gesucht, aber es war extrem schwierig. Das Sozialamt hat immer gesagt, dass es einfach sein wird, etwas zu finden, weil es komplett für uns gebürgt hat. Aber es war unglaublich schwierig.
Manchmal ging ich zu Wohnungsbesichtigungen und die Vermieter*innen haben mir eigentlich schon zugesagt. Aber wenn ich dann mit meinem Mann und den Kindern vorbeikam, wurde doch wieder abgesagt. Wenn ich nochmal wählen könnte, würde ich seinen Namen nicht mehr annehmen. Man steht besser da mit einem Schweizer Namen während der Wohnungssuche. Heute haben wir mit viel Glück eine grössere Wohnung gefunden.
«Eine ausgewogene, gesunde Ernährung zu gewährleisten, das ist eine riesige Organisationsarbeit.»Anna*
Die Corona-Pandemie hat unsere Situation nicht vereinfacht: Ich habe zwar noch meinen Job. Aber wir können nicht mehr nach Deutschland fahren, um einzukaufen. Früher sind wir mindestens einmal im Monat über die Grenze, um Milchprodukte, Fleisch und Gemüse und Früchte zu kaufen.
Im ersten Lockdown war das ein grosses Umplanen. Aber langsam haben wir das «How to einkaufen in der Schweiz» verstanden. Frische Produkte bereiten mir am meisten Sorgen. Für Fleisch haben wir eine Lösung gefunden: Wir kaufen es zum halben Preis und frieren es dann ein. Was schwierig ist, sind zum Beispiel Sachen für in die Znünibox. Darvida zum Beispiel ist sehr teuer.
Brot mache ich inzwischen selber. Die Kinder essen auch noch eher viel, gerade Brot. Ich mache circa zehn Kilogramm Brot pro Woche. Einmal täglich gibt es eine warme Mahlzeit. Ich schaue grundsätzlich einfach immer, dass es Milch und Cornflakes hat. Aber eben: Eine ausgewogene, gesunde Ernährung zu gewährleisten, das ist eine riesige Organisationsarbeit.
Am Samstag, 8. Mai, legen wir los mit der Lebensmittelabgabe. Und wir brauchen dich. Du kannst uns folgendermassen helfen:
du wirst Gärngschee-Unterstützer*in und zwar hier. Oder
du bringst am Freitag zwischen 16 und 18 Uhr Lebensmittel ins Bajour-Büro an der Clarastrasse 10.
Gärngschee braucht unter anderem Hefe, Mehl, Nudeln, Mayo... Die ganze Liste findest du hier. Diese Lebensmittelabgabe ist nur dank der Unterstützung der Gärngschee-Community möglich. Danke an alle❤️! #gärngschee
Alle meine Kinder haben im gleichen Zeitraum Geburtstag, und da merke ich jedes Mal, wie es knapp wird. Vor allem wenn ich auch höre, was die Gspänli so geschenkt bekommen – und meine Kinder haben einfach ein einziges Päckli. Geburtstagspartys können wir eigentlich keine geben.
Es reicht nicht mehr, in den Park oder in den Wald zu gehen. Man muss mithalten können: Die einen gehen in den Trampolinpark, die nächsten machen Lasertag. Zum Glück beschweren sich die Kinder nicht darüber, dass wir das nicht so machen.
Eines meiner Kinder war kürzlich bei einer Freundin und als es nach Hause gekommen ist, hat es mir gesagt: «Die hat eine Playstation 4 und eine Switch und einen Hund und eine Gitarre!» Es fand das unglaublich. Die Kinder haben zwar eine Playstation 3, aber vor allem weil mein Vater von solchen Sachen angefressen ist und ihnen seine alte geschenkt hat.
Mit meinem Vater rede ich nicht über meine Situation. Meine Mutter weiss da mehr, aber wir wollen meinen Vater nicht beunruhigen. Meine Mutter steckt mir manchmal heimlich eine Packung Kekse in die Tasche. Das ist etwas, dass ich eigentlich nie kaufe, es ist irgendwie unnötig und einfach sehr teuer.
Als es im Dezember die Gärngschee-Geschenkaktion gab, habe ich mir überlegt, dass ich eigentlich eher froh wäre, Essen zu bekommen, zum Beispiel mal für ein schönes Znacht. Und auch bei der Osteraktion habe ich mir lieber einen Fresskorb gewünscht. Es ist mir schon auch peinlich. Es braucht einiges, um das so zu sagen: Ich brauche Hilfe. Aber auch wenn ich jeden Franken zweimal umdrehen muss, geht immer wieder ein Türchen auf.
Es könnte natürlich immer besser sein. Aber ich bin froh, dass wir überhaupt eine Grundunterstützung haben. Reich werden wir so nicht, aber das Nötigste bekommen wir hin. Es ist einfach komplizierter, sich mit dem Geld gesund und ausgewogen zu ernähren.
Grundsätzlich schämen sollte man sich eigentlich nicht. Man kann ja nichts für die Situation. Wenn man fragt, gibt es eigentlich immer Leute, die helfen. Aber es gibt trotzdem die Scham, diesen Schritt zu wagen und um Hilfe zu fragen. Und dann das Angebot auch anzunehmen.
Ich lerne, mir auch mal Ruhe zu gönnen: Vor einigen Jahren wurde bei mir Krebs diagnostiziert. Ich wurde behandelt. Seitdem habe ich angefangen, auch einfach mal zu sagen: Jetzt mache ich nichts. Auf mich selber schaue ich viel zu wenig. Aber so hält auch meine Energie viel länger, wenn ich mir zwei Stunden nur für mich nehme und zu einer Freundin gehe. Das macht man sowieso viel zu wenig, sich Zeit für sich nehmen, egal in welcher Situation man ist.
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* aus Gründen des Personenschutzes haben wir diese Geschichte anonymisiert