Es bleibt unbequem
Die Basta-Sekretärin Franziska Stier rückt im September für Tonja Zürcher in den Grossen Rat nach. Die beiden Politikerinnen sind typähnlich, wobei Stier vor allem gewerkschaftliche und feministische Anliegen vorwärts bringen will.
«Ohne den Druck der Strasse passiert nichts», sagt Franziska Stier und trinkt einen grossen Schluck Kaffee. Wir sitzen im Klara an der Clarastrasse. Hier im Kleinbasel ist die VPOD-Gewerkschafterin und Basta-Sekretärin zuhause. Wir sprechen mit ihr über ihre Zukunft als Basta-Grossrätin. Denn: Die heute 40-Jährige rückt im September für Tonja Zürcher nach.
Diese zieht sich nach neun Jahren aus der institutionellen Politik zurück, um sich wieder stärker auf die ausserparlamentarische Arbeit zu konzentrieren, denn: «Den Kapitalismus werden wir nicht im Parlament überwinden», sagte sie letzte Woche gemäss Medienmitteilung ihrer Partei. In anderen Worten: Zürcher, die gemäss Smartvote die linkste Parlamentarierin Basels ist, will sich wieder stärker in sozialen Bewegungen engagieren.
Und genau da kommt Stier her (übrigens mit dem gleich linken Smartvote-Profil wie Zürcher): Aus feministischen, sozialen und ökologischen Bewegungen. Also von der Strasse. Kaum eine Demonstration, kaum ein Frauenstreik geht in Basel vonstatten, ohne dass Stier das Megafon in der Hand hält und lautstark die Abschaffung des Patriarchats fordert.
Oftmals holt sie dabei für die demonstrierenden Kollektive die geforderten Bewilligungen ein, um durch die Stadt zu ziehen, womit sie sich in eine nicht nur angenehme Verantwortung katapultiert. Wie viele Bewilligungen sie schon eingeholt hat, weiss sie nicht mehr, an die 20 dürften es bestimmt sein. Sie sieht sich diesbezüglich als Nachfolgerin des Basta-Urgesteins Urs Müller, der viele Jahre als Mittelsmann bei Demonstrationen und Hausbesetzungen agierte.
Einen Draht mit Polizei gefunden
Stier möchte Demonstrationen einer breiten Bevölkerung zugänglich machen, was nicht immer ein Leichtes sei, wie sie sagt. Insbesondere, wenn bewilligte Demos mit Polizeigewalt konfrontiert würden; damit spielt sie auf den 1. Mai 2023 an: «Natürlich läuft nicht immer alles reibungslos, aber Interessenskonflikte mit Pfefferspray und Gummigeschosse zu beantworten, finde ich schwierig», meint Stier. Der damalige Polizeieinsatz hat denn auch juristische Folgen.
Grundsätzlich sagt Stier zur Zusammenarbeit mit der Polizei: «Die finden mich nicht richtig scheisse, aber wir haben nicht immer Freude aneinander.» Und sie lacht. Die Polizei äussert sich aus Datenschutzgründen nicht zu Stier, die der Meinung ist: «Wir haben einen Draht gefunden und begegnen uns mit Respekt.»
«Man sollte sich an Gesetze halten und als gewählter Politiker nicht an unbewilligte Demos gehen, man hat eine Vorbildfunktion.»Laetitia Block, SVP-Grossrätin
Das Engagement für die freie Meinungsäusserung hat die Einbürgerung der gebürtigen Deutschen um rund ein Jahr verzögert, weil ihr vorgeworfen wurde, gegen Demo-Auflagen verstossen zu haben, am Ende wurde Stier freigesprochen.
Den Schweizer Pass hält die Sächsin seit 2023 in den Händen – kurz darauf, an den Gesamterneuerungswahlen im Herbst 2024, hat sie sich auch schon für den Grossen Rat aufstellen lassen und seither auf dem ersten Nachrücker*innenplatz gewartet. Zu kandidieren sei für sie von Anfang an eine Option gewesen: «Als ich angefangen habe, für den Pass zu streiten, ging es mir um die Möglichkeit, mich einzumischen, aber auch um Sicherheit und Stabilität.»
Als Grossrätin will Stier den Balanceakt zwischen zivilem Ungehorsam und Parlamentarismus wagen. Auf die Frage, ob sie auch künftig (wie Zürcher) an unbewilligten Demos teilnehmen werde, antwortet sie: «Ja, ziviler Ungehorsam ist manchmal nötig und eine Teilnahme keine Straftat.»
SVP-Grossrätin Laetitia Block, die selber nie auf die Strasse geht, um zu demonstrieren, sondern lieber diejenige ist, die in der Politik anpacke und so gesellschaftlich Einfluss nehme, sagt dazu als Juristin: «Man sollte sich an Gesetze halten und als gewählter Politiker nicht an unbewilligte Demos gehen, man hat eine Vorbildfunktion.» Stier lacht und sagt: «Ich bin in anderen Bereichen vorbildlicher.» Ansonsten sieht Block den Aktivismus von Stier nicht als Problem im Parlament: «Auch die aktivistische Seite soll vertreten sein.»
Visionen für ein sorgendes Basel
Stier traut der Strasse mehr Veränderungskraft zu als der institutionellen Politik, das spürt man schnell, wenn man ihr zuhört. Dennoch: «Die Gesetze werden im Parlament gemacht, die kantonale Politik betrifft das Leben der Menschen, hier werden Veränderungen herbeigeführt, auch wenn es sich meist nicht um die grossen Würfe handelt.» Es brauche also beides.
«Jeder im Parlament muss für sich entscheiden, ob er laut sein oder seine Anliegen vorwärts bringen will.»Luca Urgese, FDP-Grossrat
Stier hat konkrete Ideen, wie sich das Leben der Menschen verändern sollte, wie Basel eine sorgende Stadt werden könnte: «Sorgearbeit soll anders verteilt werden. Niederschwelligere Anlaufstellen sollen geschaffen und das Quartier dabei miteinbezogen werden.» Es ist ein Ansatz, den sie aus der kurdischen Bewegung kennt, der sie sich stark verbunden fühlt. Und sie fragt: «Warum muss man immer am Limit sein, um Hilfe zu bekommen?»
Die Tagespolitik möchte Stier an einer Vision ausrichten und nennt dies «eine revolutionäre Realpolitik» – in Anlehnung an Rosa Luxemburg, einer Vertreterin der deutschen Arbeiterbewegung. Stier wünscht sich eine «feministisch sozialistische Gesellschaft», sprich: «weniger Erwerbsarbeit und mehr Zeit, um das Leben in Basel zusammen zu gestalten», sie möchte, «dass Care Arbeit anders verteilt wird, nicht nur zwischen Ehepartnern, sondern als gesellschaftliche Aufgabe».
Ist ein besseres Klima auch Teil ihrer Vision? «Ja. Wenn ich im Sommer mit meiner französischen Bulldogge durch die Stadt gelaufen bin, über den aufgeheizten Boden, wurde mir bewusst, wie wenig Bäume hier stehen und dass es kaum Orte gibt, um sich hinzusetzen.» Vieles sei bereits angegangen worden, doch es gebe noch viel zu tun: «Es braucht Bäume statt Pflanzkübel, Entsiegelung statt Beton, barrierefreien und kostenlosen ÖV.»
Die Klimafrage sei nicht nur ein Problem, wenn es um aufgeheizte Städte gehe, sondern auch eine Frage internationaler Gerechtigkeit. Sie treffe auf allen Ebenen die Schwächsten am härtesten.
Ihren mittlerweile verstorbenen Hund namens Bolle, den sie wie beispielsweise bei der Abstimmung zum Mindestlohn auch mal gerne politisch inszenierte, bezeichnet Stier als «den netteren von uns beiden». Stier selbst sei wiederum oft genervt. Nicht nur ob der Polizei, sondern auch über manche Grossratsdebatten, zumindest aus der Ferne.
Ob nett oder nicht. Diskutieren könne man mit Stier allemal, findet FDP-Grossrat Luca Urgese, der mit ihr gemeinsam Podien besucht hat. Ob sie auch Kompromisse kann, wird sich erst noch zeigen. Urgese meint, man komme bei der Parlamentsarbeit kaum drumherum: «Jeder im Parlament muss für sich entscheiden, ob er laut sein oder seine Anliegen vorwärts bringen will.» Ein Entweder-Oder also.
Gute Kompromisse?
Stier ist sich da nicht ganz so sicher: «Das müssen wir noch ausprobieren.» So könnten Kompromisse beispielsweise in der von ihr geforderten Reduzierung der Erwerbsarbeit auch kontraproduktiv sein; die Arbeit solle nicht verdichtet, sondern auf mehrere Schultern verteilt werden. Manchmal sei es wichtig, laut zu sein. Sie zitiert die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir: «Frauen, die nichts fordern, bekommen das, was sie fordern: nichts.»
Die deutsche Politik funktioniere stark über Opposition und Regierung – anders als jene der Schweiz, sagt Stier. Das scheint ihr eher zu liegen. In der Oppositionspolitik fühlt sie sich zuhause. Politisiert wurde sie am Abendbrottisch: Der Ausverkauf des Ostens, der in den 1990er Jahren zu Massenarbeitslosigkeit geführt hat, sei bei jedem Abendessen Thema gewesen.
In Konstanz, wo sie später Soziologie und Wirtschaft studierte, wurde sie an die Spitze des Studienrats gewählt und schloss sich der Linken an. Wegen einer Jobzusage bei der Gewerkschaft Unia kam sie damals nach Basel, wo sie die erste Nacht in der (besetzten) Villa Rosenau nahe des Flughafens ihresgleichen fand: «Ich habe gemerkt: Hey, ich bin links und komme überall unter, die Menschen haben mich mitgenommen.»
«Wir werden auch mit ihr den gemeinsamen Nenner suchen, dabei wissen wir alle, in welcher Partei wir sind.»Andrea Strahm, Mitte-Grossrätin
Mitte-Grossrätin Andrea Strahm, die Stier bisher nur aus der Ferne kennt, bezeichnet die Aktivistin nicht als links, sondern als «offenbar ultra links». Um eine gute Zusammenarbeit möchte sich Strahm trotzdem bemühen: «Wir werden auch mit ihr den gemeinsamen Nenner suchen, dabei wissen wir alle, in welcher Partei wir sind.»
In welcher Kommission Stier Einsitz nehmen wird, ist noch unklar. Ihre Ideale aufgeben möchte sie in ihrer neuen Rolle auf jeden Fall nicht: «Ich hoffe, ich werde mich nicht anpassen», sagt sie. Wie viel aktivistischer Schwung im Parlament überhaupt möglich ist, sei dahingestellt. So konnte man auch bei dem Grossrat Laurin Hoppler (Junge Grüne) beobachten, dass er durch die Parlamentsarbeit zurückhaltender geworden ist.
Stier stellt den leeren Kaffee zur Seite und verabschiedet sich. «Man muss die Regenpausen nutzen.» Und sie sprintet zurück ins Basta-Büro am Claraplatz. Ein bisschen Erwerbsarbeit muss doch sein.