Fussball und Kirche – heilige Schauer und sakrale «Anpeitscher*innen»
Auf dem Bolzplatz begrüssen wir diese Woche das neue Top-Talent David Frey. Seine Themen? Fussball und Gesang. Eine Kolumne über die Gemeinsamkeiten von Gotteshaus und Stadion. Introitus ab!
«Wir singen aus Freude, Trauer oder aus Liebe. Wir singen, um uns zu beruhigen, anzuspornen, zu umgarnen und uns zu befreien – allein, zu zweit, im Chor. Wieso hat Gesang für Mensch und Tier eine solche Kraft?»
So lautet der Begleittext zu «LA, LA, LA. Eine Ausstellung zum Mitsingen», die derzeit im Museum.BL zu besichtigen wäre, wenn dieses nicht aufgrund der Massnahmen des Bundesrats gegen das Corona-Virus geschlossen wäre. Die Ausstellung wurde verschoben.
Auf Anregung des Museum.BL traf ich mich im vergangenen November in meiner Funktion als Vizepräsident des FC Basel Fanclub St. Jakob, als grosser FCB-Fan und passionierter Hobby-Sänger, in den Räumlichkeiten des Klosters Mariastein mit Pater Armin, dem Kantor der Klosterkirche. Pater Armin habe ich als spannenden, humorvollen und aufgeschlossenen Menschen erlebt. Ein Theologe und studierter Kirchenmusiker mit Spezialgebiet Gregorianik, der bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat.
Wir haben uns während rund einer Stunde wunderbar über die Gemeinsamkeiten eines Gottesdienstes und eines Fussballspiels unterhalten. Denn solche – das hat auch Pater Armin immer wieder mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen – gibt es viele. Ein Teil dieses Gesprächs ist in einem Film in besagter Ausstellung im Museum.BL integriert.
Hast du Töne?
Diese Gemeinsamkeiten sind schon beim Kirchengesangsbuch zu finden. Die Analogie liegt auf der Hand: Auch die Muttenzerkurve hat ein Gesangsbuch. Erst kürzlich ist zusammen mit der CD «Ganz Basel macht jetzt Krach» ein schön gestaltetes Kurven-Gesangsbuch erschienen – für die FCB-Fans, die noch Bedarf haben, das Lieder-Repertoire der Muttenzerkurve in- und auswändig lernen zu können.
Bei aller theologischen Differenzierung sind die Berührungsflächen von Kirche und Stadion gerade in den Singformen deutlich ersichtlich.
Mit dem «Introitus» zu Beginn eines Gottesdienstes oder eben zu Beginn eines Fussballspiels erfüllt sich das Allerheiligste – die Kirche oder das Stadion – mit Leben, das die (Fan-)Gemeinde emotional packt. Im Stadion wird die Emotionalität in besonderer Weise durch den Introitus – das Einmarschieren den Mannschaften ins Stadion – gefördert. Auch hier werden, wie beim Orgelvorspiel in der Kirche, erst einmal Lieder angestimmt.
Während des Spiels gibt es im Stadion die «Einpeitscher*innen» oder «Vorsänger*innen». Das kann getrost mit der Organistin oder dem «Kantor» verglichen werden.
Und dann beginnt die «Liturgie» oder eben das Spiel. Bei einem Fussballspiel kann, ohne allzu weit suchen zu müssen, von einer Liturgie gesprochen werden: Die Schiedsrichter*innen übernehmen Aufgaben, die im Gottesdienst bei Pfarrer*innen liegen. Beide sorgen von Anfang bis Ende für einen pünktlichen Ablauf und dafür, dass alles den Regeln entsprechend abläuft.
Während des Spiels gibt es im Stadion die «Einpeitscher*innen» oder «Vorsänger*innen», die mit Megafonen und mit dem Rücken zum Spiel und dem Gesicht zur singenden Kurve anstimmen, was die Fangemeinde als nächstes mitsingen soll. Das kann getrost mit Kirchenmusikern, dem Organisten oder eben dem «Kantor» verglichen werden, zu deren Aufgabe das Anstimmen und Begleiten des Singens der Gemeinde gehört.
Der heilige Schauer auf den Rängen
Den «heiligen Schauer», den man in Kirchen und Kathedralen auf der ganzen Welt eindrücklich erleben kann, gibt es im Stadion natürlich auch. Schon oft habe ich bei speziellen Spielen in unserem Joggeli eine Energie – gerade durch das gemeinsame Singen – gespürt, von der ich Hühnerhaut bekommen habe. Gleiches habe ich auch schon bei Konzerten in einer Kirche erleben dürfen.
Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sowohl in der Kirche wie auch im Stadion von grösster Bedeutung ist, wird durch das gemeinsame Singen erzeugt. Ein wunderbares Beispiel dafür ist das legendäre Weihnachtssingen der Fans des 1. FC Union Berlin im Stadion Alte Försterei.
Im Stadion wie auch im Gottesdienst ist das gemeinsame Singen also nicht einfach eine nette Zutat, sondern es spielt eine tragende, verbindende Rolle. Denn: Im Singen vollzieht sich Wesentliches auf der emotionalen Ebene, das anders nicht zum Ausdruck gebracht werden kann.
«Fangesänge» sind seit gut 20 Jahren Gegenstand musikwissenschaftlicher Forschung. Sie basieren meist auf bekannten Melodien, zu denen neue Texte mit Bezug auf den eigenen Fussballclub entwickelt werden. In der Musikwissenschaft wird dies als Kontrafaktur oder Parodie bezeichnet.
Ähnlich wie bei Kontrafakturen in der mittelalterlichen Chormusik – um hier wieder den Bogen zum Gottesdienst zu machen – wird auch im Stadion ein weltliches Lied in ein «geistliches» umgedichtet. Und das Stadion wird somit zur modernen Kathedrale für einen Massenchor von mehreren tausend Kehlen.
90 Minuten singen ist Arbeit – «Heiss uffe Match, heiser drnoo»
Mit ihren Gesängen unterstützen und stärken die Fans die eigene Mannschaft und drücken damit Hoffnung und Lobpreis aus. Sie verarbeiten im Singen die eigenen Emotionen – Freude wie Enttäuschung – und geben auch ihren aggressiven Gefühlen Ausdruck, indem sie mit Gesängen den Gegner kritisieren, rituell beleidigen und schwächen. Hier wird eine Analogie zum Gottesdienst eher schwieriger… Aber das gemeinsame Singen, das ein Spiel begleitet, vermittelt in erster Linie Stärke, Hingabe an den Verein und die Identifikation mit ihm.
Während 90 Minuten singend die eigene Mannschaft anzufeuern oder den Gegner zu beleidigen, kann durchaus anstrengend sein. Deshalb werden Fangesänge in der Musikwissenschaft auch als «Arbeitsgesänge» beschrieben. Dazu passt wunderbar ein Motto der Muttenzerkurve: «Heiss uffe Match, heiser drnoo» – oder auch die Liedzeile aus dem Fanlied «Trotz Draum kai Schloof»: «Dehaim isch dört, wo die Lütt schtöön, wo alles für Di gänn, und singe, au wenn’s miehsam isch und nid nur wenn si wänn».
Ein Stadionbesuch kann also – zumindest subjektiv betrachtet – durchaus wie ein Gottesdienst sein. Die grosse Trainerpersönlichkeit Ottmar Hitzfeld, der einen intensiven Austausch mit seinem Freund und Biografen, dem Pfarrer Josef Hochstrasser pflegte, sei sich nicht sicher, ob Fussball Parallelen zur Religion habe, sagte er einst. «Aber die Leute werden glücklich gemacht oder fühlen sich glücklich», wird Hitzfeld zitiert. Und das gilt für den Gottesdienst genauso wie für das Stadion.
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