Die Tragödie von Münchenstein
Am 14. Juni 1891 ereignete sich das schwerste Eisenbahnunglück der Schweiz. Eine von Gustave Eiffel erbaute Eisenbahnbrücke der Jura-Simplon-Bahn stürzte kurz hinter Basel unter der Last eines voll besetzten Ausflugszugs ein.
Hey History Geeks! Dieser Artikel ist ursprünglich auf dem Blog des Schweizerischen Nationalmuseums erschienen. Dort gibt es regelmässig spannende Geschichten aus der Vergangenheit.
Es ist ein strahlend schöner Sommertag, der viele Basler*innen zu einem Ausflug in die nahegelegenen Täler und Höhen des Juras lockt. Im Centralbahnhof herrscht frohe Stimmung und der Andrang ist so stark, dass dem planmässigen Personenzug nach Delsberg weitere Wagons dritter Klasse angehängt werden und – um die zusätzliche Last zu ziehen – eine zweite Lokomotive vorgespannt wird.
Um 14.15 Uhr fährt der nun doppelt bespannte «Train» der Jura-Simplon-Bahn von Basel ab. Wenige Minuten nachdem er das Signal zum Start des Zuges gegeben hat, macht sich Oberzugführer Wenger im Packwagen bereit, um über die offene Plattform den dicht besetzten Wagen dritter Klasse zu betreten, wo er die Billette zu kontrollieren hat. Vorbei am Güterbahnhof Wolf kommt bald die 15 Meter lange eiserne Gitterbrücke über die Birs in Sicht. Sie war 1875 nach Plänen von Gustave Eiffel erstellt worden (Anm. d. Red.: frz. Ingenieur, nach dem auch der Pariser Eiffelturm benannt ist).
«Es war ein betäubender Krach, ein entsetzliches Getös, ein Donnerschlag.»der Heizer
Vorschriftsgemäss verlangsamen die Lokomotivführer das Tempo auf 40 Stundenkilometer, um den zu dieser Jahreszeit Hochwasser führenden Fluss zu queren. Auf der Brücke, noch bevor die Vorspannlokomotive das gegenüberliegende Ufer erreicht, spüren Maschinist und Heizer, wie sich ihre schwere Dampflok zur Seite neigt. Unter der Last der zweiten Lokomotive gibt die Brücke nach.
«Es war ein betäubender Krach, ein entsetzliches Getös, ein Donnerschlag. Im ersten Augenblick konnte ich wegen des entstehenden Dampfes nichts sehen, doch ich fühlte, wie die Maschine langsam in den Fluss sank. Als sich der dichte Dampf verzogen hatte, sah ich wie sich über mir die Wagen hoch türmten und ich dachte nichts anderes, als dass die nun alle auf mich herunterstürzen würden».
«Ein grauenhaftes Schreien erfüllte die Luft.»der Heizer
Der Heizer, der dies einem Berichterstatter am Tag nach dem Unglück erzählt, fährt fort:
«Allmählich senkten sich auch die Wagen langsam in den Fluss. Ein grauenhaftes Schreien erfüllte die Luft. Ich sah wie Passagiere zu den Fenstern hinauskrochen und in die Birs sprangen. Einige mögen sich gerettet haben, andere sind ertrunken.»
Ein sonntäglicher Spaziergänger berichtet:
«Je näher man dem Dorfe kam, so begegnete man Männern, Frauen und Kindern mit blutüberströmten Gesichtern...»der Spaziergänger
«Mit vielen fröhlichen Menschenkindern verliessen wir nach zwei Uhr die Stadt. Schon beim Centralbahnplatz hiess es, alle Droschken wären schon abgefahren in Richtung Münchenstein. Je näher man dem Dorfe kam, so begegnete man auf Fuhrwerken der verschiedensten Art Männern, Frauen und Kindern mit blutüberströmten Gesichtern und verbundenen Köpfen und es wurde einem zur Gewissheit, dass ein unsäglich grosses Unglück geschehen sei. Grauenhaft war der Anblick der Trümmerstätte. Entsetzlich der Anblick der Leichen, die bereits in verschiedenen Reihen auf den grünen Matten lagen, schwer verstümmelt, zum Teil mit aufgedunsenen, blau angelaufenen Gesichtern.»
Und weiter:
«In dem untersten Eisenbahnwaggon, zu dem man erst spät abends gelangen konnte, rief mitten unter den Toten ein Lebender, dem beide Füsse eingeklemmt waren, um Hilfe. Man gab ihm Cognac zu trinken, um ihn aufrecht zu halten. Als man ihn endlich nach vier bangen Stunden befreien konnte, erlag er seinen Wunden.»
Scheune wird zur Leichenhalle
Auf dem nahe gelegenen Landgut der Familie Geigy wird die Scheune zur Leichenhalle. Aus der Stadt strömen Tausende Schaulustige zum Unglücksort, «die Pompiers wurden ihrer kaum mächtig». Bis zum Abend lagen 40 Tote in der Scheune und im Bürgerspital drängten sich die Verwundeten in den Gängen. Am nächsten Morgen nimmt eine «Gerichtsperson aus Liestal» die Arbeit auf. Immer noch werden verstümmelte und bis zur Unkenntlichkeit entstellte Körper aus den Trümmern geborgen – auch Oberzugführer Wenger.
Wer nicht von Angehörigen «agnostiziert» werden kann, oder Merkmale auf sich hat ( «sein Ring trägt den Namen Fanny»), wird in Holzkisten zur Pathologie nach Basel gebracht. So auch die sterblichen Überreste des Tagelöhners Jean Jolivet für deren «Aufbewahrung» der Jura-Simplon-Bahn später eine Leichenkiste und 150 Liter Alkohol in Rechnung gestellt werden.
Das damals – und bis heute – schwerste Eisenbahnunglück der Schweiz forderte 73 Todesopfer und über 150 Verletzte. Die Räumungsarbeiten und der Bau einer Behelfsbrücke gingen schnell voran. Doch die Feststellung der Entschädigungen an Hinterbliebene und die Zahlung der Schmerzensgelder zog sich dahin.
Dank der vollständig erhaltenen Kassa-Bücher der Jura-Simplon-Bahn wissen wir, wie sich die bunt gemischte Reisegesellschaft an diesem 14. Juni 1891 zusammengesetzt hatte.
Da waren: das Hochzeitspaar Theodore und Beatrice Emanuel aus London, die Seidenwinderin Marie Frey, der Pflanzensammler Kaspar Leher aus Gränichen, der Basler Pferdehändler Lazard Levaillant, der italienische Maurer Pietro Luppi, Amalie Sturmfels aus Murten – ehemalige Beschliesserin der Deutschen Kaiserin, die Pasteten- und Gallerthändlerin Amalie Gass oder Graf Josef Ledochowski, der im Schock seine Effekten am Unfallort vergessen hatte und diese nun ersetzt haben möchte. Da es sich auf Nachfrage der Bahn am Wohnort des Grafen um «einen Mann von Ansehen» handelt, wird der «fahrlässig» verschuldete Verlust dennoch mit Franken 472.95 erstattet.
Zweifel an Eisenkonstruktionen
So «grosszügig» hat sich das Direktorium der Jura-Simplon-Bahn nur in wenigen Fällen gezeigt. Obwohl die Reparationen durch die Haftpflichtgemeinschaft der Schweizerischen Bahngesellschaften abgesichert sind, wird um die Anerkennung der Schadensforderungen jahrelang gefeilscht und prozessiert.
1941, 50 Jahre nach dem Unglück, besucht ein Journalist der Basler Nationalzeitung ein betagtes Opfer des Brückeneinsturzes: Damals existierte noch keine obligatorische Witwen- und Waisenkasse. Die Entschädigung durch die Privatgesellschaft der Jura-Simplon-Bahn auf «gütlichem» Weg war so gering, dass Frau B. bis zum 69. Lebensjahr ihr, und auch das Brot ihrer Kinder, hat verdienen müssen. Nachträgliche Gesuche an kantonale oder Bundesbehörden wurden kurzerhand abgelehnt.
Ein Jahr nach dem Einsturz der Eisenbalkenbrücke über die Birs erlässt der Bundesrat eine Brückenverordnung, welche die allgemeine Revision und Erprobung sämtlicher Brücken und ihrer Stützwerke anordnet. Eine dringliche Massnahme, denn auch die Bahnen hegen offenbar Zweifel an der Belastbarkeit ihrer Eisenkonstruktionen, wie ein Zirkular des Oberingenieurs der Gotthardbahn vermuten lässt: Die Leichtigkeit der Konstruktionen verbieten die Lagerung schwerer Gegenstände. Das Hinausstellen von Blumentöpfen, Waschkübeln und dergleichen auf die Perrondächern ist verboten.