«Die Schweiz hat die Jugoslawienkriege vergessen»

Vor 30 Jahren wurde der Bosnienkrieg beendet. Wie beständig oder zerbrechlich ist dieser Frieden? Wie geht man dort und hier mit der Erinnerung um? Und wer bestimmt eigentlich, woran wir uns erinnern? Diesen Fragen widmet sich das (Hi)Story-Festival in Bern – mit Basler Beteiligung.

Lesung: Links Moderator Lucas Gisi, Mitte Miljenko Jergović, rechts Übersetzerin Maša Dabić.
«Glückliche Völker (narodi) züchten Chrysanthemen und Gladiolen, unglückliche Völker züchten Traumata.» Miljenko Jergović über die Vergangenheitsbewältigung in Ex-Jugoslawien, die aus seiner Sicht nicht genügend vorangetrieben wird von den politischen Eliten. (Bild: Simone Krüsi)

Die 1990er-Jahre markierten eine Zeit tiefgreifender Erschütterungen in Südosteuropa. In den Jugoslawienkriegen, die den ehemaligen Vielvölkerstaat gewaltsam auseinanderbrechen liessen, kam es zu unzähligen Massakern und Kriegsverbrechen. Allein der Bosnienkrieg forderte über 100'000 Menschenleben. Millionen von Menschen flüchteten und verloren ihre Heimat – vorübergehend oder dauerhaft. In der Schweiz leben heute rund eine halbe Million Menschen mit Bezug zu Ex-Jugoslawien. 

Auch die Gründerinnen und Kuratorinnen des (Hi)Story-Festivals, Marina Porobić und Tanja Miljanović, sind Teil der postjugoslawischen Diaspora. Beide kamen während der Kriegsjahre mit ihren Eltern aus Kroatien bzw. Bosnien-Herzegowina in die Schweiz. Kunsthistorikerin Marina Porobić arbeitet heute fürs Bundesamt für Kultur und hat in selbständiger Tätigkeit zahlreiche Kunst- und Kulturinitiativen umgesetzt. Die Osteuropahistorikerin Tanja Miljanović sitzt für die Grüne Freie Liste im Berner Stadtrat und hat kürzlich einen autofiktionalen Roman veröffentlicht mit dem Titel «Wenn wir wieder Menschen sind» – er erzählt die Geschichte einer Kindheit im kriegsgebeutelten Bosnien. 

Am (Hi)Story-Festival, das noch bis am 28. Oktober in Bern stattfindet, versammeln sie Autor*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus Südosteuropa und der deutschsprachigen Diaspora, um Geschichten zu erzählen, gemeinsam nachzudenken und neue Perspektiven entstehen zu lassen. Auf der Festivals-Website zitieren sie an prominenter Stelle den jugoslawischen Schriftsteller Ivo Andrić: «Von allem, was der Mensch baut und aufbaut, gibt es nichts Besseres und Wertvolleres als Brücken.»

Die Kuratorinnen des (Hi)Story-Festivals in Bern Marina Porobić (links) und Tanja Milijanović (rechts).
Die Kuratorinnen des (Hi)Story-Festivals in Bern Marina Porobić (links) und Tanja Miljanović (rechts). (Bild: zVg)

Das Bild der Brücke scheint Ihnen wichtig – inwiefern passt es zum Festival?

Marina Porobić: Wir versuchen heute, also 30 Jahre nach dem Ende des Bosnienkriegs, das zu ermöglichen, was in den Kriegsjahren noch unmöglich schien: einen Dialog zu fördern und zu etablieren zwischen Menschen der ehemaligen Republiken Jugoslawiens. Wir haben bewusst Vertreter*innen aus allen Nachfolgestaaten eingeladen, auch Menschen von ausserhalb, die wie wir ausgewandert – und eingewandert – sind. 

Tanja Miljanović: Unser Festival ist eine Einladung zum Dialog. Es will eine Plattform bieten, um Gespräche zu führen, Gemeinsamkeiten zu finden und über Zugehörigkeiten nachzudenken. Durch die Vielfalt im Angebot – es reicht von Lesungen, Filmvorführungen über Konzerte bis hin zu politischen und wissenschaftlichen Diskussionen – möchten wir ganz unterschiedliche Menschen ansprechen und Verknüpfungen und Berührungspunkte schaffen. 

Porobić: Wir bauen auch Brücken durch die Geschichten, die wir erzählen. Das ist für uns zentral: Wir gedenken nicht. Wir reden nicht einfach über Vergangenheit, sondern wir versuchen aus der Vergangenheit und mit Erzählungen über die Vergangenheit auch in die Zukunft zu schauen.

Wenn wir von Vergangenheit und Zukunft sprechen: Ist Vergangenheitsbewältigung eine Grundvoraussetzung für nachhaltigen Frieden? Auch dieser ist ja Kernthema des Festivals – Ihr Aufhänger ist der Friedensvertrag von Dayton, der vor knapp 30 Jahren den Bosnienkrieg beendete.

Miljanović: Ja, Vergangenheitsbewältigung ist wesentlich, ich bevorzuge allerdings den englischen Begriff, dealing with the past, weil er das Prozesshafte betont. Denn es ist in der Tat ein langer Prozess. Als die Kriege in den 90er-Jahren ausbrachen, war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Angst, die mit ihr geschürt werden konnte, einer der Hauptmobilisatoren der Radikalisierung. Die Generation der Grosseltern hatte noch Kindheitserinnerungen daran. Diese Erinnerung hatte enorme emotionale Macht. Auch an die Kriege der 1990er-Jahre wird man sich noch lange erinnern, praktisch jede Familie in Bosnien hat in ihrem Umfeld eines oder mehrere Menschen verloren. Mit der Erinnerung an den Krieg ist es vielleicht tatsächlich wie mit dem Verlust eines Familienmitglieds: Man sagt immer, mit der Zeit werde es leichter. Aber vielleicht lernt man auch einfach besser, mit dem Schmerz umzugehen.

Tanja Milijanović
«Es ist ein anderes Selbstverständnis, das unserer Generation innewohnt, und ich denke, es ist kein Zufall, dass es aktuell so viele literarische Werke, Kunstausstellungen, aber auch wissenschaftliche Bücher gibt, die aus diesem Teil der Diaspora kommen.»
Tanja Miljanović

Welche Erinnerungspolitik unterstützt diesen Prozess? Wie muss sie geartet sein, damit sie Frieden nicht nur schaffen, sondern auch sichern kann?

Miljanović: Wir glauben an eine Erinnerungspolitik, die das Menschliche ins Zentrum setzt. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens heisst das vielleicht: Wegzukommen von Heldenerzählungen und Soldatennarrativen und sich hinzuwenden zu Anerkennung und Wiedergutmachung. Wie können die Opfer unterstützt und begleitet werden? Die Anerkennung des Leids des Gegenübers ist dabei zentral. Man kann nichts ungeschehen machen – aber man kann hinstehen und sagen, das ist passiert, das haben wir gemacht, und es tut uns leid. Das ist der erste Schritt und es ist vielleicht das Menschlichste. 

Porobić: In der Schweiz und in Europa sind die Jugoslawienkriege in Vergessenheit geraten. Der Ukrainekrieg wurde in den Medien als der erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg besprochen. Das finde ich hart. Es ist nicht lange her und die Kriege scheinen im kollektiven Gedächtnis der Schweiz, auch anderswo in Europa, nicht mehr zu existieren. 

Miljanović: Immerhin gibt es auch Bestrebungen, dies zu ändern. Das mostKollektiv (most = bosnisch für Brücke, Anm. d. Red.) aus Basel beispielsweise, das auch am Festival zu Gast ist, stellt aktuell Materialien für Gymnasien zusammen, welche das Einmaleins der Jugoslawienkriege vermitteln. Dies unter der Annahme, dass die Migration aus der Region das Zusammenleben von Jugendlichen in der Schweiz bis heute prägt – sie aber in ihrer Schulzeit sehr wenig über die Konflikte erfahren.

Das Festival möchte nicht nur ausloten und hinterfragen, welche Form von Frieden damals geschaffen wurde, sondern auch, wer heute die Geschichten darüber erzählt. Geht es letztlich um Deutungshoheit? 

Miljanović: Ja, ganz stark, aber vielleicht mehr um das Aufbrechen von Deutungshoheit. Wir haben den Fächer bewusst weit aufgemacht und Stimmen aus allen Nachfolgestaaten eingeladen, um ins Gespräch zu gehen. Hier spielt auch die Diaspora eine Rolle. Wir, die zweite Generation, gehören zu den ersten, von denen viele einen Beruf ausüben, den sie selbst gewählt haben – wir haben das studiert, was wir studieren wollten. Wir mussten nicht wie unsere Eltern in erster Linie dafür schauen, wie wir unseren Kindern das Brot auf den Tisch stellen. Es ist ein anderes Selbstverständnis, das unserer Generation innewohnt, und ich denke, es ist kein Zufall, dass es aktuell so viele literarische Werke, Kunstausstellungen, aber auch wissenschaftliche Bücher gibt, die aus diesem Teil der Diaspora kommen. Auch das hilft, die Narrative, die in der Schweiz vorherrschen und die auch stereotyp sein können, etwas aufzubrechen.

Marina Porobić
«Kultur darf sich, viel mehr als andere Disziplinen, auch mal aufs Glatteis wagen und Türen einstossen, die unbequem sind, die auch unbequeme Diskussionen auslösen. Ich halte es für wichtig, da hinzugehen, wo es wehtut, und auch diese Seiten aufzuzeigen.»
Marina Porobić

Was bräuchte es denn, damit postjugoslawischen Stimmen vermehrt und eben alltäglicher Eingang in die hiesige Erinnerungskultur, auch in Politik und Medien finden? 

Porobić: Vielleicht braucht es genau das, was wir jetzt versuchen: Sichtbarkeit und Verständnis zu schaffen für jenen Teil der Geschichte und Geschichten, der in den Menschen, die Migrationserfahrung haben, verborgen bleibt. Diese Geschichten sollen sichtbarer und erlebbarer werden – immer auch mit dem Ziel, Ängste abzubauen und von dem Diskurs wegzukommen, der die Migration sehr negativ behaftet. Es geht uns darum, dass sich das Publikum einlässt. Dabei spielt es gar keine Rolle, ob die erzählten Geschichten in den Texten, die wir vorstellen, persönliche oder fiktionale Erzählungen sind. Es spielt aber eine grosse Rolle, dass ich mich in ganz vielem von dem, was geschrieben wird, wiederkenne. Die Autor*innen bringen etwas aufs Papier, was ich selbst nicht ausgesprochen habe. Durch dieses Sichtbarmachen vieler Perspektiven entsteht ein schönes Gewebe – ein Netz, mit dem wir Unbekanntes bekannt machen und sagen: So war es für uns. 

Miljanović: Einerseits geht es ums Zeigen dessen, was erlebt worden ist. Etwas Fremdes, das man kennenlernt, wird auf diese Weise weniger fremd. Und andererseits zeigen wir auch auf, dass es ganz viele universelle Themen gibt. Wir kennen das alle: Wir lesen eine Geschichte aus Japan oder Nigeria, empfinden mit und spüren eine unglaubliche Nähe. So geht es auch mit den Geschichten aus dem Balkan. Sie handeln beispielsweise von Beziehungen zwischen Töchtern, Müttern und Grossmüttern, doch diese Generationenfragen, die betreffen uns alle, das ist nichts spezifisch Balkanisches. Über solche Geschichten erfahren wir, dass wir vielleicht in einer anderen wirtschaftlichen oder politischen Ordnung leben oder an einem anderen geographischen Ort – dass wir im Grunde aber alle Menschen sind und uns so ähnlich, dass die Frage, warum man gewisse anders behandeln sollte, eigentlich obsolet wird. Darum geht es uns auch.

Das Universelle findet sich auch in einigen Kulturgattungen wieder, denen Sie einen Platz einräumen: Nebst Podiumsdiskussionen wird es auch Lesungen, eine Filmvorführung und Konzerte geben. Haben es Literatur oder Musik leichter, Grenzen aufzulösen und Verbundenheit zu schaffen? 

Miljanović: Daran glaube ich stark. Die Wissenschaft ist für mich das Fundament. Wir brauchen harte Fakten. Aber die Vermittlung dieser Fakten, das geht fast nicht allein über Wissenschaft. Hier helfen die Filter über Kunst, über den Ton, das Visuelle, über Literatur, da sie ein Einfühlen ermöglichen. 

Porobić: Abgesehen davon, dass sie Fakten veranschaulicht, vermittelt jede Kulturgattung in ihrer eigenen Sprache auch Erfahrungen und schafft Denkräume, eine Palette an Ansichten und Lebensweisen. Kultur darf sich, viel mehr als andere Disziplinen, auch mal aufs Glatteis wagen und Türen einstossen, die unbequem sind, die auch unbequeme Diskussionen auslösen. Ich halte es für wichtig, da hinzugehen, wo es wehtut, und auch diese Seiten aufzuzeigen. Man muss die Geschichten nicht miterlebt haben, aber zuhören und sich einlassen, denn sie vermitteln uns einfach ein Gefühl – von Bruch, von Gefahr, von Angst, von Abweisung, von Überlebensstrategien und Sehnsüchten. Mit diesen Gefühlen kann jede*r etwas anfangen. Denn Kultur hält uns immer auch einen Spiegel vor. Darin kann jeder Mensch, jede Gruppierung, die ganze Gesellschaft sich überprüfen. Ich behaupte: Keines der Bücher, die wir vorstellen, lässt einen kalt.

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