«Wir werden sehen, ob Syrien wirklich ein Land für alle sein wird»
GLP-Grossrat Bülent Pekerman sagt im Interview mit Bajour, die Freude über den Sturz von Assad in der kurdischen Community sei gross. Er äussert aber auch Bedenken: «Die Türkei wird nun versuchen, den Kurden in Syrien das Leben schwer zu machen.»
Der GLP-Grossrat Bülent Pekerman fährt als kurdisch-türkischer Fahrlehrer täglich mit unterschiedlichsten Menschen durch die Strassen Basels, wo auch eine besonders grosse kurdische Gemeinschaft zuhause ist. Viele der rund 90'000 Kurd*innen in der Schweiz leben am Rheinknie. Pekerman spricht mit seinen Fahrschüler*innen über Gott und die Welt – und derzeit besonders intensiv über den Konflikt in Syrien. Im Interview mit Bajour ordnet er ein, was der Sturz des syrischen Diktators Baschar al-Assad durch Rebellengruppen unter der Führung der islamistischen Miliz HTS für die Kurd*innen der Region bedeutet.
Bülent Pekerman, reden Sie derzeit während ihrer Fahrstunden auch noch über etwas anderes als über Syrien?
Ich spreche während der Fahrstunden grundsätzlich nicht über Politik. Aber zwischen den Fahrstunden haben wir immer wieder kurze Pausen, in denen wir uns über dieses und jenes unterhalten, derzeit eben auch über Syrien.
Wie gross ist in der kurdischen Community die Freude über den Sturz von Assad?
Sie ist sehr gross. In Basel, aber natürlich auch innerhalb der kurdischen Gebiete in Syrien, der Türkei, dem Irak oder Iran. In den letzten Tagen konnten die Kurd*innen in Syrien ihr Gebiet nach Südwesten hin noch ein bisschen vergrössern beziehungsweise mehr Gebiete unter ihre Kontrolle bringen. Die regimetreuen Gruppen haben sich aus den kurdischen Gebieten in Syrien zurückgezogen.
Neben aller Euphorie: Sehen Sie auch eine Gefahr für die Zukunft der kurdischen Minderheiten in Syrien?
Eine gewisse Unsicherheit steht leider im Raum, weil unklar ist, wie sich die Situation nun entwickeln wird. Ich bin etwas skeptisch. Wir sprechen zwar von Rebellen, die Syrien befreit haben, aber im Grunde genommen sind es Dschihadisten. Zumindest gibt es islamistische Gruppierungen innerhalb der Rebellen-Gruppe. Wir werden also erst noch sehen, ob Syrien wirklich ein Land für alle Religionen und alle Minderheiten sein wird.
Was denken Sie, wie verhält sich die Türkei als nördliches Nachbarland nun? Wird sie versuchen, das kurdische Gebiet Rojava im Nordosten Syriens, wo die Kurd*innen seit dem Bürgerkrieg eine Selbstverwaltung etabliert haben, zu zerschlagen?
Rojava ist Ankara schon lange ein Dorn im Auge. Die Türkei wird nun versuchen, den Kurden in Rojava das Leben schwer zu machen. Sie möglichst in Schach zu halten beziehungsweise wird der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan versuchen, sein türkisch-kontrolliertes Gebiet zu vergrössern.
Bülent Pekerman hat die ersten 15 Jahre seines Lebens in Zentralanatolien verbracht. Sein politisches Engagement erklärt er mit seinem Background, «also damit, dass ich kurdische Wurzeln habe. Kurd*innen sind, glaube ich, immer einen Touch politisch, denn wo sie leben – in der Türkei, in Syrien, im Iran, im Irak – werden sie unterdrückt». Pekermans Verhältnis zur Türkei ist ambivalent. Er war viele Jahre nicht mehr da, unter anderem weil er auch in der Öffentlichkeit keinen Hehl aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Politik macht.
Erdogan sagte allerdings, die Türkei habe kein Auge auf das Territorium eines anderen Landes geworfen. Sind solche Aussagen nicht ernstzunehmen? Nein, sind sie nicht. Und sie entsprechen auch nicht dem, was derzeit im Grenzgebiet passiert: Die von der Türkei unterstützten islamistischen FSA-Kämpfer (Freie Syrische Armee) haben versucht, in kurdisch-syrische Gebiete vorzudringen. Auch am Montag gab es Angriffe südlich der türkischen Grenze. Das Ziel von Erdogan ist die Zerstörung der Selbstverwaltung. Die Kämpfe gehen dort also weiter – und ich fürchte, dass sie noch blutiger werden.
Was bedeuten die Kämpfe für die Kurd*innen auf türkischer Seite?
Die Kurden in der Türkei beobachten die Geschehnisse in Syrien natürlich mit grossem Interesse. Was dort passiert, betrifft sie ebenfalls. Es ist viel Euphorie vorhanden im Moment. Sollten in Syrien nun demokratische Strukturen aufgebaut werden, dürften auch die türkischen Kurden profitieren. Demokratische Strukturen sind die Hoffnung und der Wunsch der Kurden weltweit.
Kann man also damit rechnen, dass sich auch die Situation der Kurd*innen in der Türkei verbessert?
Solange Erdogan regiert, wird es bezüglich der Kurdenfrage keine positiven Signale geben.
Doch der Wunsch nach einem geeinten Kurdistan ist nach wie vor gross?
Ja, der jahrhundertealte Wunsch ist immer noch vorhanden. Doch Kurden sind von ihrer Sprache und Kultur her sehr vielfältig, und die kurdisch bewohnten Gebiete sind auf vier Länder verteilt, daher ist es schwierig, in naher Zukunft eine Einheit zu bilden. Man wünscht sich in Syrien und der Türkei und im Iran demnach ähnliche Strukturen wie im Irak, wo die Kurden teilautonom sind.
Demokratische Strukturen sind die Hoffnung und der Wunsch der Kurden weltweit.Bülent Pekerman, GLP-Grossrat
Kurden in der Türkei können sich also immer noch vorstellen, innerhalb der Türkei mit einer demokratisch basierten Verfassung zusammen zu leben?
Ja, aber eine demokratische Gleichstellung wäre dafür Voraussetzung.
Gilt Rojava dabei als Vorbild?
Rojava ist ein einzigartiges Projekt im Nahen Osten, eine Selbstverwaltung, in der es nicht nur Kurden, sondern auch Araber oder Jesiden, Christen und Juden. Es ist demokratisch legitimiert. Von dem her: Ja. Von Rojava kann man lernen.