Drei Jahre Krieg
Seit vier Jahren lebt die ukrainische Schriftstellerin Eugenia Senik in der Schweiz. Seit drei Jahren herrscht in der Ukraine Krieg. Und seit einem Jahr ist Senik Mutter. Ein persönliches Plädoyer, für die eigene Sache zu kämpfen.
«Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt
Und lässt andere kämpfen für seine Sache
Der muss sich vorsehen: denn
Wer den Kampf nicht geteilt hat
Der wird teilen die Niederlage.
Nicht einmal den Kampf vermeidet
Wer den Kampf vermeiden will: denn
Es wird kämpfen für die Sache des Feinds
Wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.»
Bertolt Brecht «Koloman Wallisch Kantate»
Seit dem 24. Februar 2022 sind bereits drei Jahre vergangen, und es ist viel geschehen. Vor drei Jahren gab die Welt der Ukraine und Kyiv nur zwei bis drei Tage, bevor sie fallen sollten. Doch nun sind es bereits drei lange Jahre, in denen die Ukraine standhaft bleibt und heldenhaft weiterkämpft. Die Welt war überrascht vom ukrainischen Widerstand – die Ukrainer*innen jedoch nicht. Wir kämpfen seit Jahrhunderten um unsere Existenz.
Nicht nur die Welt und Europa haben sich verändert, sondern auch viele von uns. Und nicht immer zum Guten. Nach drei Jahren habe ich ein starkes Flashback-Gefühl zum 24. Februar 2022. Obwohl heute keine russischen Panzer in Richtung Kyiv rollen, spüre ich im Februar 2025 dasselbe Gefühl einer nahenden Katastrophe.
Sie ist noch unsichtbar, spielt sich auf diplomatischer Ebene ab – wie ein Tsunami, den man noch nicht sieht, aber bereits mit dem Körper spürt. Doch diesmal droht die Katastrophe nicht nur der Ukraine, sondern ganz Europa, ja der gesamten Welt.
Genau das braucht man am meisten in Zeiten der Katastrophe – Zusammenhalt, das Gefühl, die Schulter des Nächsten zu spüren.Eugenia Senik
Auch dieses Jahr fahren wir nach Bern zur Friedensdemonstration. Diesmal sind wir eine Person mehr – unser kleiner Sohn kommt mit. Die Ukrainer*innen wissen, wie man auf der Strasse protestieren geht. Wenn Ungerechtigkeit alle Warnlinien überschreitet, vergessen wir interne Streitigkeiten und stehen zusammen. Wir verlassen unsere Häuser und demonstrieren gemeinsam.
Wir setzen ein Zeichen: Ungerechtigkeit und Diktatur sind nicht zu dulden. Uns ist bewusst, dass eine Demonstration allein nicht viel verändern wird. Doch in vielen Städten und Ländern der Welt gehen Menschen gleichzeitig auf die Strassen. So fühlt man sich nicht allein. Und genau das braucht man am meisten in Zeiten der Katastrophe – Zusammenhalt, das Gefühl, die Schulter des Nächsten zu spüren.
Im Jahr 2022, zu Beginn des Angriffskrieges, zeigten Menschen aus aller Welt eine unerwartete und überwältigende Solidarität. Sie waren erschüttert über die Aggression gegen Freiheit und Demokratie, und viele wollten auf verschiedenste Weise helfen. Doch mit der Zeit wurde diese Hilfe immer weniger. Tatsächlich bekommen Geflüchtete Unterstützung vom Staat, auch weiterhin. Das finde ich richtig.
Die ukrainische Schriftstellerin Eugenia Senik lebt seit August 2021 in der Schweiz. Aufgewachsen ist Senik im Osten der Ukraine, in Luhansk. Für Bajour schrieb sie 2022 unter dem Titel «Der Krieg & ich» ein persönliches Tagebuch über ihre Sicht auf den russischen Angriffskrieg.
Doch die Menschen, die in der Ukraine geblieben sind, brauchen meiner Meinung nach grössere Hilfe. Mein Mann und ich entschieden uns deshalb, diese Menschen finanziell zu unterstützen, die zu Hause geblieben sind. Mit der Zeit wurde uns klar, dass manche hier den Geflüchteten nicht besonders wohlgesonnen sind. Immer wieder wird diskutiert, wann sie in die Ukraine zurückkehren werden. Auch deshalb bleiben viele dort, trotz Raketen und Sirenen – sie wollen niemandem zur Last fallen.
Viele politische Kräfte, getragen von ihren Wähler*innen, mögen keine Geflüchteten, wollen aber gleichzeitig die Ukraine nicht militärisch unterstützen. Einen Widerspruch sehen sie darin nicht.
Dennoch kenne ich viele von euch persönlich, die die Ukraine auch nach drei Jahren weiterhin unterstützen. Ich bewundere euch und danke euch von Herzen. Doch die notwendige Hilfe, um diesen Krieg zu beenden, bleibt immer noch begrenzt. Man philosophiert jahrelang über eine Welt ohne Waffen und Kriege und hat keine Vorstellung davon, was dieser Krieg für Europa bedeutet. Man zeigt Besorgnis, schüttelt den Kopf, will aber die illusorische «rote Linien» nicht überschreiten. Man bleibt viel zu höflich gegenüber einem Aggressor, erlaubt ihm, seine Gewalt auszuüben, ohne ihn ausreichend zu bestrafen.
Ein guter Freund schrieb mir einmal ein bekanntes Pseudo-Bertolt-Brecht-Zitat: «Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.» Ich mochte diese Worte, die ich noch vor dem Februar 2022 von ihm hörte. Sie klangen naiv, träumerisch, aber auch schön und wünschenswert. Doch seit drei Jahren klingen sie für mich zu naiv.
Dann stiess ich auf eine Erweiterung dieses Zitats, ebenfalls anonym: «Dann kommt der Krieg zu euch!» Treffender hätte es nur Brecht selbst in seiner «Koloman Wallisch Kantate» ausdrücken können: «Es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.»
Hätten die Ukrainer den von Russland erklärten Krieg nicht angenommen, um ihre Existenz zu verteidigen, gäbe es noch mehr gefolterte, vergewaltigte, entführte und verschwundene Erwachsene und Kinder. Als hätte die Welt aus 2014 nichts gelernt. Im Gegensatz dazu haben die Ukrainer*innen gelernt: Ein Diktator lässt sich nicht besänftigen. Er wird immer mehr und mehr verlangen. Das ist uns klar. Deshalb haben Ukrainer*innen keine Wahl – sie müssen aus allen Kräften bis zum Ende kämpfen.
«Man agiert zu zurückhaltend und gibt der Ukraine nur so viel Hilfe, dass sie weder verliert noch gewinnt.»Eugenia Senik
Auch wenn die Welt den Geflüchteten aus der Ukraine grosszügig geholfen hat und die Ukraine immer wieder gute Militärhilfe erhielt, bin ich nach diesen drei Jahren von der Welt und von Europa enttäuscht. Europa, das ich so liebe, zeigt immer noch nicht die Stärke, die es eigentlich hat.
Man hätte sich gegen einen Aggressor vereinen können, um ihn zurückzuschlagen, doch man agiert zu zurückhaltend und gibt der Ukraine nur so viel Hilfe, dass sie weder verliert noch gewinnt. Man lässt sie langsam verbluten.
Diese Werte sind mir fremd. Das möchte ich meinem Sohn nicht beibringen. Ich hoffe, dass er einmal den Mut haben wird, für Gerechtigkeit aktiv einzustehen – die Schwachen zu schützen, anstatt nur mit besorgtem Blick zuzusehen. Deshalb kommt er jetzt schon mit zur Friedensdemonstration. In der Schweiz ist es noch möglich, ohne Waffen zu kämpfen.
«Die Eltern in der Ukraine fürchten, dass der Krieg so lange dauern wird, bis ihre kleinen Kinder erwachsen sind und selbst kämpfen müssen.»Eugenia Senik
Ich bin dankbar, mit meinem Sohn in einem (noch) friedlichen Land zu sein. Er hat mich jedoch in eine Gruppe von Eltern im Krieg hineingeführt. In einem Land, das sich im Krieg befindet, sind Eltern von Anfang an unruhig. Nicht nur wegen der Raketen. Die Eltern in der Ukraine fürchten, dass der Krieg so lange dauern wird, bis ihre kleinen Kinder erwachsen sind und selbst kämpfen müssen.
Egal, wie alt die Soldat*innen sind, die im Krieg sterben – ich fühle mich mit ihren Eltern verbunden. Und es schmerzt mich doppelt so sehr seit der Geburt meines Kindes. Ich frage mich, was passiert, wenn die Welt weiterhin so zögerlich und unsicher auf die russische Aggression reagiert.
Was, wenn die Ukraine immer weniger Hilfe bekommt und am Ende nur noch auf sich selbst zählen kann? Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass mein Volk bis zum Ende kämpfen wird – weil es um seine Existenz geht. Um die Existenz der Ukraine als Staat. Um die Existenz der Ukrainer*innen als Nation.
«Ich hoffe sehr, dass Europa früh genug aufwacht und sich an seine eigenen Werte erinnert.»Eugenia Senik
Für uns ist es ein existenzieller Krieg. Wird er Jahrzehnte dauern und in einen Partisanenkrieg übergehen? Wird mir mein erwachsener Sohn eines Tages sagen: «Mama, ich will kämpfen gehen.»? Seit seiner Geburt bin ich unruhig und stelle mir diese Fragen. Was würde ich ihm antworten? Denn ich kann mir im schlimmsten Albtraum nicht vorstellen, meinen Sohn zu verlieren – nur weil ein Diktator beschlossen hat, ein freies Land zu erobern, und die Welt viel zu langsam darauf reagiert.
Nach drei Jahren Krieg weiss ich, was ich ihm antworten würde: «Wenn ich dich nicht aufhalten kann, mein liebster Sohn, dann komme ich mit.»
Doch ich hoffe sehr, dass Europa früh genug aufwacht und sich an seine eigenen Werte erinnert. Ich hoffe, dass mein Sohn und andere Kinder in 20 Jahren nicht kämpfen müssen. Aber dafür müssen wir alle unser gemütliches Zuhause verlassen, zusammenstehen und aktiv handeln – bevor es zu spät ist.