Ich + Ich + Ich ≠ Wir
Rasant! Im neuen Stück des «Jungen Theaters Basel» wollen sieben junge Menschen zusammen ein Gedicht schreiben. Sie scheitern mit Brillanz und Witz. «Writer's Room» wirft interessante Fragen auf, bilanziert Autor Felix Schneider.
Haben Sie schon einmal versucht, mit anderen zusammen einen Text zu schreiben oder eine Aktion zu organisieren? Ja? Dann müssen Sie sich «Writer’s Room» von Sebastian Nübling (Regie), Lucien Haug (Text), Jackie Poloni (Sound) und den Spieler*innen des «Jungen Theaters Basel» anschauen. Sie werden amüsiert rauskommen, weil sie lachend sehen konnten, dass es andere beim Übergang vom Ich zum Wir genauso schwer haben, wie Sie es hatten, und Sie werden sich ein paar neue und intelligente Fragen stellen.
Die gesamte Hinterwand der Bühne ist ein riesiger Bildschirm, auf dem ein schnelles Twitter- bzw. Google-Docs-Gewitter losgeht. Gepard und Waschbär, Elch, Axolotl und andere anonyme Gestalten schleudern Sätze, Assoziationen, Themen ins gemeinsame Dokument und dann auf die Leinwand. Allmählich kristallisiert sich heraus, dass sie zusammen einen Text schreiben wollen, und zwar (ausgerechnet!) ein Gedicht. Bald erscheinen die Schreibenden auch leiblich auf der Bühne: Sieben junge Menschen, die in den nächsten 90 Minuten zwei Parallelaktionen in Szene setzen. Mit ihren Handys halten sie live das Schreib-Gewitter am Laufen, und auf der Bühne zeigen sie die gruppendynamischen Prozesse, die ablaufen, wenn sieben Individuen sich zusammenraufen wollen.
Wo bleiben Gemeinsamkeit und Zusammenhang? Genau diese Frage setzt die Gruppendynamik in Gang. Auf höchstem Niveau, denn diese Jugendlichen sind intellektuell und rhetorisch brillant.
Es entstehen auch längere Texte. Eine berichtet, wie sie ihre Wut, die sie nirgends loswird, in den Wäscheberg vor ihr schreit. Starke Bilder also, aber die Texte bleiben alle Ich-Botschaften, und die Gruppe macht die schmerzliche Erfahrung, dass viele Ichs noch kein Wir ergeben. Wo bleiben Gemeinsamkeit und Zusammenhang?
Genau diese Frage setzt die Gruppendynamik in Gang. Auf höchstem Niveau, denn diese Jugendlichen sind intellektuell und rhetorisch brillant. Ob Ökologie oder Psychologie – sie sind in allen zeitgenössischen Diskursen zu Hause. Aus gutem Willen und braven Vorsätzen entwickeln sich Spannungen und Streit. Rollen bilden sich heraus: Der Vielredner, die abgründig Schweigende, der Organisator, der Manipulator, die Beleidigte. Und natürlich kann man jede Gruppe in die Luft sprengen, wenn man, sobald sich ein Konsens anbahnt, Grundsatzfragen stellt, z. B. wozu überhaupt Gedichte? Erste dramatische Abgänge aus der Gruppe sind zu verzeichnen: «Ich verlasse die Gruppe, das ist besser für Euch», doch die Abtrünnigen werden wieder zurückgeholt.
Schnell und präzise präsentieren die Jugendlichen die scharfen Dialoge, die vom Autor Haug gestaltet wurden. Der überbordenden Bewegungsfreude dieser Spieler*innen zuzusehen, ist ein Genuss.
Unzählige Vorschläge werden gemacht, um zu einer Gemeinsamkeit zu kommen: Themen suchen, die alle interessieren. Gemeinsamkeiten unter den beteiligten Personen suchen. Verwandtschaften zwischen den vorhandenen Texten suchen. Fotos helfen vielleicht … Alles wird ausprobiert, nichts funktioniert wirklich. Was wiederum zu vielen Erklärungsversuchen führt. Eine sagt: Vielleicht haben wir so hohe Erwartungen an ein mögliches Kollektiv, dass es gar nie zustande kommen kann.
Solche ziemlich abstrakten Inhalte sind theatralisch attraktiv umgesetzt. Schnell und präzise präsentieren die Jugendlichen die scharfen Dialoge, die vom Autor Haug gestaltet wurden. Der überbordenden Bewegungsfreude dieser Spieler*innen zuzusehen, ist ein Genuss. Dem Regisseur fallen tausend Varianten der Auf- und Abtritte, der tänzerischen und musikalischen Bewegungen ein. Er spielt virtuos mit den Möglichkeiten der Textprojektion, des Lichts, der Publikumsansprache. Er hat eine Theaterform gefunden, die es seinen Laien erlaubt, professionelle Leistungen zu zeigen. Der raffinierte Sound unterstützt trefflich.
Regisseur Sebastian Nübling hatte in Basel mit Boris Nikitin zusammen «Die Dämonen» produziert. Das war das herausragende Basler Theaterereignis der letzten Spielzeiten. Ganz so sensationell ist seine neue Arbeit nicht, aber er zeigt auch hier, über welch reiche Theaterfantasie er verfügt.
Was bleibt sind Fragen
Allerdings sei auch gesagt: «Writer’s room» ist zu lang. Gegen Ende ist einfach eine Drehung zu viel eingebaut. Allzu vieles wird wiederholt. Eine Kürzung täte dem Abend gut. Ganz am Ende wird das Publikum animiert, auf die Bühne zu kommen und auf ausgerolltes Papier zu schreiben. Das hat leidlich funktioniert. Die meisten, die sich zum Schreiben animieren liessen, haben Kommentare zum Abend abgegeben, viele haben sich bedankt.
«Writer’s Room» verweigert die Lösung und die Wende zum Positiven. Die sieben Spielenden finden nicht zum Wir zusammen, deuten aber mögliche Wege an, die auszuprobieren sich lohnen könnte. Man verlässt die Vorstellung amüsiert und nachdenklich. Könnte es sein, dass gerade die Literatur und insbesondere die Lyrik sich am allerwenigsten für kollektive Arbeitsweisen eignet? Und auch als Bezirk des Individuellen bestehen bleiben sollte? Wäre es gewinnbringender gewesen, die Mühen, die es kostet, den Narzissmus zu überwinden, gar nicht am Beispiel der Literatur, sondern an handfesteren und alltäglicheren Aktivitäten aufzuzeigen? Zum Beispiel am Verfassen eines Flugblattes? Oder bei der Organisation eines Arbeitsablaufs?
Nicht schlecht, wenn das Theater Fragen produziert!
Das Stück «Writer's Room» wird noch am 14., 15., 16., 18., 19. und 20. November in der Reithalle der Kaserne Basel gezeigt, Vorstellungsbeginn ist jeweils um 20 Uhr. Mehr Informationen gibt es hier.