Impfpflicht ab 65 Jahre – und alles ist gut?
Im Spital liegen vor allem Ungeimpfte über 60 Jahre. Jetzt gibt es den Vorschlag, eine Impfpflicht für die Menschen über 65 einzuführen. Ist das sinnvoll?
Die Intensivstationen kommen zunehmend an ihre Grenzen, Corona ist wieder voll da. Zahlen des BAG zeigen: Die meisten Schweizer Covid-Patient*innen im Spital sind
zwischen 60 und 69 Jahre alt und ungeimpft. Nach einer Auswertung des SRF-Datenteams wurden zuletzt pro 100'000 Einwohner*innen mehr als achtmal so viele Ungeimpfte über 60 Jahre hospitalisiert wie Geimpfte im gleichen Alter. Knapp gesagt: Wären alle Alten geimpft, wäre die Lage auf den Intensivstationen um einiges entspannter. Gibt es eine einfache Lösung, um eine Überlastung abzuwenden?
Ja, meint die Aargauer Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel und fordert eine Impfpflicht für alle Menschen über 65 Jahren. Sie argumentiert mit der Solidarität gegenüber den Jungen: «Die Jungen haben in den letzten zwei Jahren viele Opfer gebracht. Immer ging es in der Pandemie um den Schutz der älteren Menschen.» Diese müssten Gegenrecht halten. «Es braucht nun auch eine gewisse Solidarität der älteren Menschen ab 65 Jahren gegenüber den Jungen.»
Wie sehen das Menschen um die 65 oder älter? Ist es fair, eine bestimmte Altersgruppe herauszupicken, während auch (ungeimpfte) Kinder und jüngere Erwachsene Pandemietreiber*innen sind? Wir haben Senior*innenvertreter*innen und (Alt-)Politiker*innen im betroffenen Alter aus der Region gefragt.
Elisabeth Schneider-Schneiter:
«Grundsätzlich unterstütze ich die freiwillige 2G-Regel des Bundesrates. Wenn sich aber die epidemiologische Situation weiterhin verschärft, dann werden wir nicht um 2G herumkommen. Weil die Altersgruppe ab 65 Jahren besonders gefährdet ist, macht eine Impfpflicht ab 65 Jahren dann Sinn. Nach Artikel 22 Epidemiengesetz haben die Kantone die Möglichkeit, eine Impfung für besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen für obligatorisch zu erklären, sofern eine erhebliche Gefahr besteht. Das liegt meines Erachtens vor, wie die nachfolgende Graphik selbstredend bestätigt. Die Spitäler sind primär wegen über 65-jährigen nicht Geimpften überlastet, obwohl diese Gruppe eine hohe Durchimpfung hat. Eine kleine Gruppe nicht geimpfter älterer Menschen bringt das Gesundheitswesen an die Belastungsgrenze oder darüber hinaus.»
Christine Wirz-von Planta:
«Die ältere Generation ist per se ‹impfwilliger› als die jüngere Generation, deshalb wäre die Einführung einer Impfpflicht ausschliesslich für diese Gruppe nicht adäquat, zudem würde damit eine ‹Ungleichheit› geschaffen, die bekanntlich gar nicht gut ankommt.
Ich verstehe nicht, dass sich nicht alle solidarisch gegenüber der ganzen Bevölkerung, der Wirtschaft/Gastronomie/Tourismus, zur Entlastung der Situation im Gesundheitswesen, zur Vermeidung von horrenden Ausgaben an Steuergeldern, die nota bene besser eingesetzt werden könnten, und schlussendlich zum eigenen Schutz (etwas Egoismus darf schliesslich sein), impfen lassen. Damit wäre auch das Gespenst der vielzitierten ‹Zweiklassengesellschaft› vom Tisch. Trotzdem bin ich gegen eine Impfpflicht, auch wenn diese sinnvoll wäre, aber es ist das Recht jedes Einzelnen, eine Impfung zu verweigern. Auch wenn diese Eigenverantwortung sich eindeutig zum Schaden der Allgemeinheit auswirkt. Dieser Punkt, Impfverweigerer schaden der Allgemeinheit, sollte breiter diskutiert werden, finde ich.»
Beat Schaller:
«Ich bin von der Idee einer Impfpflicht überhaupt nicht begeistert. Das Recht auf körperliche Integrität muss gewahrt bleiben. Der Staat darf nicht das Recht bekommen, eine Impfung aufzudrängen. Ich sehe das sehr kritisch.
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Impfquote zu erhöhen. Einmal durch Zwang und einmal durch Überzeugung. Was hier gemacht wird, setzte von Anfang an auf Zwang und viel zu wenig auf Überzeugung. Es wird zwar immer von Eigenverantwortung gesprochen, das ist aber das Gegenteil von Zwang.
Ich spreche mich grundsätzlich gegen eine Impfpflicht aus, egal welche Gruppe das betrifft. Klar ist die Situation in den Spitälern gerade problematisch, aber eine Spritze von Staates wegen zu setzen, widerspricht meinem liberalen Geist. Die Verantwortlichen müssten jetzt darauf setzen, die Bevölkerung hinter sich zu versammeln und sie nicht mit Zwangsmassnahmen gegen sich aufzubringen.»
Susanne Leutenegger-Oberholzer:
«Ich bin für die Impfpflicht zur Bekämpfung der Pandemie. Der Vorschlag von Frau Humbel ist immerhin eine Bewegung in die richtige Richtung. Eine Etappe. Ob es allerdings zielführend ist, die Forderung ausgerechnet auf die über 65-Jährigen zu beschränken, ist fraglich. Die Älteren haben ja oft eh schon eine gute Abdeckung bei der Impfung. Frau Humbel hat sich wahrscheinlich nicht getraut, eine generelle Impfpflicht zu fordern. Die Schweiz muss jetzt endlich von den Besten lernen. Österreich zeigt, wie man es machen muss. Mit dem Lock down und der Ankündigung der Impfpflicht, ist es gelungen, die Neuinfektionen von 15000 auf 5000 herunterzubringen. In Deutschland wird die Impfpflicht mit der neuen Regierung auch kommen. Ich finde es angesichts des Bedrohungspotenzials mehr als erstaunlich, mit welcher Realitätsferne die Diskussion bei uns geführt wird. Denken wir daran, wie viele Seuchen erst mit der generellen Impfung ausgerottet werden konnten. In meiner Schulzeit gab es gar keine Diskussion, wir mussten zum Impfen antraben. Nach meinem Empfinden ist die Diskussion heute auch etwas ein Luxusproblem eines reichen Landes. Aber beachten wir: Heute wird die Schweiz im Ausland bereits als Hochrisikoland eingestuft. Damit wird die Laisser-faire-Politik zum Standortrisiko für die Schweiz. Der Bundesrat muss jetzt rasch handeln und die gesetzliche Grundlage für die Impfpflicht prüfen bzw. schaffen. Danach gibt es eine breite demokratische Diskussion. Bei der Impfreihenfolge sollte man dann nicht nach dem Alter, sondern nach sachlichen Kritiken vorgehen und zuerst bei dem grössten Risikotreiber beginnen.»
Heinz Weber, Graue Panther:
«Wir sind unabhängig von weltanschaulichen und medizinischen Gründen gegen eine Impfpflicht. Wir halten nichts von einer Pflicht, die sich nicht kontrollieren lässt und nicht durchsetzbar ist. Auch für eine bestimmte Altersgruppe halten wir eine solche Pflicht daher für nicht sinnvoll.»
Michael Harr, Pro Senectute:
«Wir finden gut, dass es die Impfmöglichkeit gibt und empfehlen, sie zu nutzen. Die Impfung hilft, mit der Pandemie zu leben und eine Überlastung des Gesundheitssystem zu verhindern. Trotzdem unterstützen wir eine Impfpflicht für über 65jährige nicht. Eine Altersgrenze von 65 erscheint uns willkürlich. Das ist eh schon die Gruppe, die eine besonders hohe Impfquote aufweist und auch jetzt bei den Booster-Impfungen eine besonders grosse Nachfrage zeigt. Die älteren Menschen sind ohnehin eine Gruppe, die es gewöhnt ist, sich impfen zu lassen, etwa gegen die Grippe. Wir finden es heikel, einzelne Gruppen wie die Älteren für eine Impfpflicht herauszuziehen. Manche sprechen in diesem Zusammenhang von Altersdiskriminierung. Pauschal einer ganzen Gruppe die Impfpflicht aufzuerlegen, halten wir nicht für ergiebig. Denn das Alter allein ist nicht entscheidend. Die über-65-Jährigen sind keine homogene Gruppe, deswegen sollte man sie auch nicht so behandeln.»
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