Eine Mutter will ihre Kleinkinder ännet der Grenze impfen lassen. Ein Roadtrip.
Ein Basler Kind nach dem anderen steckt sich mit Corona an. Eine Mutter wollte das nicht riskieren und fuhr mit ihren beiden Töchtern in den Schwarzwald, um sie ohne Zulassung zu impfen. Ganz wohl war ihr dabei nicht. Und aus Angst vor Reaktionen bleibt sie lieber anonym.
Am dritten Adventssonntag bin ich mit meinen kleinen Töchtern drei Stunden über die Grenze in den Schwarzwald gefahren, um sie impfen zu lassen. Off-label – also mit einem Impfstoff, der für Kinder unter fünf Jahren offiziell noch nicht zugelassen ist, in einer Arztpraxis, in der ich noch nie zuvor gewesen bin, und mit einem Haftungsausschluss in der Tasche.
Es war noch neblig, als wir frühmorgens in Basel zum Bahnhof aufgebrochen sind, die Strassen glatt, und ich unglaublich erleichtert, als wir drei dann tatsächlich im ICE sassen und unser Znüni auspacken konnten.
In den zwölf Jahren, die ich als Journalistin arbeite, habe ich noch nie einen Text anonym* veröffentlicht, und dachte auch nicht, dass das jemals nötig sein würde. Allein den Termin zu organisieren, hat sich angefühlt, als würde ich Waffen im Darknet bestellen.
«Die meisten Kinder haben eher milde Krankheitsverläufe und müssen nicht ins Spital, aber das könnte sich mit der Omikron-Variante ändern.»
Über Wochen, in denen die Coronafälle unter Kindern immer weiter anstiegen, habe ich auf Twitter mitverfolgt, wie Eltern verzweifelt nach Arztpraxen suchten, die ihre Kinder unter 12 Jahren off-label impfen würden, auch Kinder ohne Vorerkrankungen.
Ein Off-Label-Use ist zwar nicht illegal und kommt bei vielen Medikamenten vor; wenn etwas schief geht, haftet aber weder der Hersteller noch die Ärztin noch der Bund. Ich las von Rettungssanitätern und Intensivärztinnen, die ihre eigenen Kinder längst unter der Hand geimpft hatten (und dafür im Netz beschimpft wurden), und von einer bekannten Virologin und Mutter, die die Kinderimpfung ebenfalls empfahl.
Trotzdem hatte ich lange Zweifel. Es gibt ja nicht umsonst aufwendige Impfstudien, offizielle Zulassungsverfahren und eine Eidgenössische Kommission für Impffragen, die gerade bei Kindern lieber zweimal hinschaut. Schliesslich haftet der Bund für Impfschäden, sobald eine Impfung behördlich empfohlen wird.
«Ich versuche Twitter zu meiden, bis ich von einer Freundin höre, deren siebenjähriges Kind auf der Intensivstation liegt und beatmet werden muss.»
Mitte Dezember wurde die Impfung für Kinder von fünf bis elf Jahren in der Schweiz endlich zugelassen, alle Kinder unter fünf Jahren werden aber noch mindestens bis zum Frühjahr warten müssen. Meine jüngere Tochter ist zwei, meine ältere Tochter ist vier und wird erst Ende März fünf Jahre alt. Nach Einschätzung von Virolog*innen wird sich jedes ungeimpfte Kind bis dahin infiziert haben.
Jetzt kann man diskutieren, wie schlimm das wäre. Die meisten Kinder haben eher milde Krankheitsverläufe und müssen nicht ins Spital, aber das könnte sich mit der Omikron-Variante ändern. Vor allem weiss man bis heute nicht genau, wie stark Kinder von Long Covid betroffen sind.
Andererseits sind meine Töchter nicht mal komplett gegen alle anderen Kinderkrankheiten geimpft, und ich setze sie auch jeden Tag im Strassenverkehr einer Gefahr aus, wenn ich mit ihnen aufs Velo steige. Meine Mutter rät mir, auf den Schutzengel zu vertrauen, der Vater meiner Töchter findet meine Sorge übertrieben, unsere Kinderärztin will auf die offiziellen Empfehlungen warten.
Ich lasse meinen Töchtern Blut abnehmen, um Antikörper zu finden, falls sie eh schon längst Covid-19 gehabt haben, und versuche in der Zwischenzeit, Twitter zu meiden. Bis ich von einer Freundin höre, deren siebenjähriges Kind auf der Intensivstation liegt und beatmet werden muss.
Obwohl Expert*innen davon ausgehen, dass Kinder die Infektion im Durchschnitt gut durchmachen, bleibt ein gewisses Risiko bestehen: Long Covid und das PIMS-Syndrom sind als Folgen einer Ansteckung ein realistisches Szenario.
Wie viele Kinder tatsächlich von einem schweren Verlauf oder Langzeitfolgen betroffen sind, darüber gehen die Meinungen auseinander. Pädiatrie Schweiz schätzt die Krankheitslast für Kinder als eher gering ein, wird aber aus der Wissenschaft stark dafür kritisiert.
Am nächsten Tag postete ich in einer Chat-Gruppe meine Suche nach einer Off-Label-Impfung für zwei Kinder unter fünf Jahren ohne Vorerkrankungen, meiner Postleitzahl und der Entfernung, bis zu der ich bereit bin zu fahren.
Noch am selben Tag kommt eine Privatnachricht zurück, in der ich gebeten werde, zunächst mal ein Foto von meinem Impfausweis zu machen. Zum Schutz der Ärzte und Ärztinnen müsse man sicherstellen, dass die Adressen nicht in die Hände von Querdenker*innen gelangen. Offenbar wurden einige Arztpraxen schon von Impfskeptiker*innen beschimpft und bedroht.
Weil ich Journalistin bin, muss ich ausserdem garantieren, die Anonymität aller Beteiligten zu wahren. Dann bekomme ich mehrere Kontakte, bei denen ich mich melden kann. Die nächste Praxis liegt jenseits der Grenze, mehrere hundert Kilometer entfernt, off-label geimpft wird nur sonntags.
«Eigentlich läge es doch in der Verantwortung von uns allen, die Kinder zu schützen. Weil diese Solidarität aber nicht funktioniert, kümmern sich jetzt die Eltern, die Zeit und Ressourcen dafür haben, selbst um den Schutz ihrer Kinder.»
Als mein Freund davon hört, fragt er halb im Scherz, ob das eine Sekte sei. Er würde lieber auf die Zulassung warten, hat aber grundsätzlich nichts gegen die Impfung. Bis er den Haftungsausschluss mit unterschreiben muss. Dort steht: «Bei der Verwendung des Impfstoffes Comirnaty® von BioNTech/Pfizer für Kinder unter 5 Jahren können Restrisiken nicht ausgeschlossen werden. Dies bedeutet, dass auch das Risiko für mögliche irreversible Schädigungen oder der Tod eines Kindes nicht mit wissenschaftlicher Sicherheit beurteilt und das Eintreten derartiger Risiken definitiv nicht ausgeschlossen werden kann.» Er schaut mich ungläubig an. «Willst du das wirklich verantworten?»
Daran muss ich immer wieder denken, als sich die Regionalbahn von Station zu Station in den Schwarzwald vorarbeitet, die Ortschaften immer kleiner werden und die Schneeberge auf den Dächern grösser. Eigentlich läge es doch in der Verantwortung von uns allen, die Kinder zu schützen. Weil diese Solidarität aber nicht funktioniert, kümmern sich jetzt die Eltern, die Zeit und Ressourcen dafür haben, selbst um den Schutz ihrer Kinder. Alle anderen Kinder unter fünf Jahren sind der Durchseuchung ausgesetzt.
Du uns auch deins?
Die Arztpraxis liegt direkt am Rathaus, nur drei Gehminuten vom Bahnhof entfernt, aber der Parkplatz davor ist leer, die Praxisräume sind dunkel und niemand öffnet auf unser Klingeln. Meine Töchter schauen mich erwartungsvoll an, sie freuen sich schon auf das Eis, das ich ihnen versprochen habe.
Auf dem Smartphone sehe ich, dass ich zwei Adressen verwechselt habe: Die Impfpraxis ist sechs Kilometer und zehn Minuten mit dem Auto entfernt. Unser Termin ist in zehn Minuten und wir haben kein Auto, noch nicht mal Kindersitze.
Die Eltern mit dem kleinen Jungen auf dem Arm, die sich ebenfalls in der Adresse geirrt haben, nehmen uns trotzdem in ihrem Auto mit. Sie zögern kurz, als ich sie darum bitte. Kein Wunder, ich verfluche mich selbst. Was, wenn wir jetzt einen Unfall haben, meine vierjährige Tochter ohne Kindersitz auf dem Rücksitz in der Mitte, ich neben ihr mit der Kleinen auf dem Schoss? Diesem Risiko setze ich sie aus, um sie vor einem anderen Risiko zu schützen? Bin ich noch bei Trost?
Als wir auf den Parkplatz einbiegen, übergibt sich meine kleine Tochter in meinen Schoss. Die Familie, bei der wir mitfahren durften, bleibt gelassen. Sie sind vor allem erleichtert, dass keine Querdenker vor dem Eingang warten und uns am Impfen hindern.
Trotz Verspätung und stinkender Kleidung werden wir in der Praxis herzlich begrüsst und kommen sofort an die Reihe, eine Spende in die Kaffeekasse ist freiwillig. Über die Krankenkasse abrechnen lassen sich Off-Label-Impfungen nicht, normalerweise müssen Eltern die Kosten um die 30 Euro daher selbst tragen.
Laut Epidemiengesetz kommt der Bund für eine Entschädigung im Fall von Impfschäden auf, wenn die Impfung behördlich empfohlen wurde und der Schaden nicht anderweitig gedeckt ist.
Am 14. Dezember 2021 hat das Bundesamt für Gesundheit und die Eidgenössische Kommission für Impffragen EKIF die Covid-19-Impfung für Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren empfohlen. Die Impfstoffe sollen ab Januar zur Verfügung stehen. Für alle Kinder unter fünf Jahren wird es wohl noch Monate dauern, bis ein Impfstoff zugelassen ist.
Ich verstehe, dass unsere Kinderärztin auf Nummer sicher gehen will und auf die offiziellen Empfehlungen der Behörden wartet, die wiederum erst alle Risiken ausschliessen möchten, um nicht haften zu müssen. Aber schon bei den Schwangeren hat sich gezeigt, dass diese Mechanismen für eine Pandemie zu langsam sind. Zumal man die Kinder weder durch den Einbau von Luftfiltern in Schulen und Kindergärten noch durch eine Maskenpflicht in der Primarschule – bis jetzt, ab Januar gilt in Basel eine Maskenpflicht ab der 1. Klasse – noch durch konsequente Teststrategien in Kitas schützt, weil Pädiatrie Schweiz die Krankheitslast für Kinder durch Covid-19 noch immer als vergleichsweise gering einschätzt.
Falls sich das als falsch herausstellt, werde ich mir Vorwürfe machen, dass ich meine Kinder nicht habe impfen lassen, obwohl ich die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Falls sie an der Impfung sterben oder unheilbare Folgeschäden davontragen, übernehme ich ebenfalls persönlich die Verantwortung dafür. Das habe ich unterschrieben.
Ich finde es beschissen, dass ich eine solche Entscheidung treffen muss, weil niemand sonst ein potentielles Risiko eingehen will – oder das reale Risiko für zu gering hält. Meine ältere Tochter spürt bislang zum Glück keine Nebenwirkungen von der Impfung. Die jüngere habe ich am Sonntag dann doch nicht impfen lassen, ich habe mich nicht getraut.
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* Name der Redaktion bekannt