Fliegen Mücken zum Mond? 

Über politische Teilhabe dürften die Basler*innen demnächst abstimmen. Ein Kulturprojekt zeigt, dass Integration und Mitbestimmung viel früher anfängt: Im gemeinsamen, öffentlichen Raum.  

Goran
«Da li komarci noću lete prema mjesecu?» Zu Deutsch: «Fliegen Mücken in der Nacht auch in Richtung Mond?» Foto: Goran Basic.

Sollen Herr und Frau XY bei der politischen Gestaltung mitreden dürfen? Im Stadtkanton besitzen 37 Prozent der Bevölkerung keinen Schweizer Pass. Um auch ihnen eine Stimme zu geben, hat der Regierungsrat kürzlich eine erneute Abstimmung über das kantonale Stimm- und Wahlrecht für Migrant*innen befürwortet. Doch proaktive Integration beginnt lange vor der politischen Teilhabe, im sichtbaren Alltag.

«Wenn Menschen mit Migrationshintergrund den öffentlichen Raum mitgestalten oder sich darin wiedererkennen, steigert dies die Identifikation mit der Gesellschaft», erklärt  Rohit Jain, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Eidegnössischen Migrationskommission EMK das von ihnen im Juni lancierte Programm «Neues Wir»

Wie eine solche kulturelle Teilhabe in der Praxis aussehen und wodurch puzzleartig ein «Neues Wir» geschaffen werden könnte, zeigen derzeit die beiden Kultur- und Bildungsarbeiterinnen Franziska Baumgartner und Patrizia Mosimann. Mit der Plakat-Aktion «Was treibt dich um?», die vom EKM mitfinanziert und in Basel noch bis Ende August, also heute Mittwoch, an 50 verschiedenen Standorten zu sehen ist, versuchen sie, am Rheinknie verbreitete, im öffentlichen Raum aber unterrepräsentierte Erstsprachen sichtbar zu machen. 

«Es geht nicht an, dass eine kleine Gruppe von Schweizer*innen mit Deutungsmacht bestimmt, was Kultur ist», erklärt Mosimann. Es gehe um Zusammenarbeit und insbesondere um gegenseitiges Lernen. 

«Auch meine Freunde finden die Aktion mega cool!»
Kismet, 18

Und wie sieht das aus? Die Plakate sind lebensgross und bunt. Auf ihnen prangen Schriftzüge in fünf verschiedenen Sprachen, die nicht für alle Menschen in der Stadt lesbar sind. Zum Beispiel: «Da li komarci noću lete prema mjesecu?» Zu Deutsch: «Fliegen Mücken in der Nacht auch in Richtung Mond?»

Es sind kreativ sichtbar gemachte Gedanken, die Menschen aus dem Kleinbasel beschäftigen, auf die die Macher*innen zugegangen sind. Menschen wie die 18-jährige Kismet. Oder den 36-jährigen Igor. Neben Türkisch und Bosnisch werden auch Fragen in Armenisch oder Tamilisch ausgehängt, ebenso in Tigrinya. 

Kismet stellte eine Frage nach Angst vor Veränderung. Die Schülerin sagt: Sie sei ein nachdenklicher Mensch, der mit der steten Angst durch das Leben gehe, das zu verlieren, was sie gerade habe. Veränderung bedeutet für sie Kontrollverlust, und damit könne sie schlecht umgehen. Ihr türkischer Migrationshintergrund äussere sich im Alltag eher als Vordergrund. Sie sei religiös und trage ein Kopftuch. «Ich werde oft als Araberin gesehen.» Kismet kennt die Macher*innen der Plakat-Aktion von einem früheren Kunstprojekt. Sie freut sich, auch dieses Mal dabei zu sein. Und sagt: «Auch meine Freunde finden die Aktion mega cool!»

«Die Frage steht für eine Art und Weise, wie man die Welt anschaut, wie man durch die Welt geht, fragend halt, so wie ich das tue.»
Igor, 36

Und Igor und die Mücken? Den SRF-Kulturredaktor beschäftigen solche philosophischen Fragen schon seit seiner Jugend. Ohne zu beantworten, ob die Tierchen denn nun nachts tatsächlich Richtung Mond fliegen. Darum gehe es auch nicht, sagt der Wahlbasler. «Die Frage steht für eine Art und Weise, wie man die Welt anschaut, wie man durch die Welt geht, fragend halt, so wie ich das tue.» Ihm seien auch andere Fragen im  Kopf herum geschwirrt: «Weisst du eigentlich, wie fest ich dich liebe?», zum Beispiel. Es gebe unterschiedliche Fragen, solche, die an einen einzigen Menschen gerichtet seien. Oder solche, mit denen sich Menschen aus dem kulturellen Raum, in seinem Fall Bosnien, identifizieren könnten. 

Dass die Aktion durch ihre offene Konzipierung bewusst darauf verzichtet, Klischees zu bedienen, wonach Menschen mit Migrationshintergrund bestimmt Existenzielles oder Fragen der Identität beschäftigen müssten, findet Igor «cool». Er selbst macht in seinem Alltag kaum Diskriminierungserfahrungen, entspricht keinen stereotypen Erwartungen. Er hat weisse Haut, schaut westlich aus. «Ich könnte locker Schweizer sein», sagt er. Der Medienschaffende räumt allerdings ein: «Ich bin eine Ausnahme», so war er seines Wissens 2014 der erste -ic bei SRF 2 Kultur. Sein Nachname habe ihm aber doch auch schon einen anonymen, rassistischen Leserbrief eingebracht: «Das war ein beschissenes Gefühl.»

 

«Man kann Dinge so sorgfältig wie möglich angehen, aber man kann nicht 100 Prozent sicherstellen, dass eine Aktion gelingt.»
Katrin Grögel, Basler Kulturchefin

Nicht nur Kismet und Igor sowie die drei weiteren Protagonist*innen, die auf den Plakaten zu lesen sind, sollen im Rahmen der Aktion Fragen stellen. Die Plakate sind interaktiv, ein QR-Code lädt die Betrachte*innen dazu ein, eigene Fragen in ihrer Erstsprache zu verschicken. Dadurch sollen Personen zum Mitmachen animiert werden, die sich bisher vom Ausstellungsraum Klingental, den die beiden Frauen mit ihrem Vermittlungsformat °Kläranlage° bespielen, nicht angesprochen gefühlt haben. Mosimann erklärt: «Die Fragen werden gesammelt und in einem späteren Schritt aufbereitet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.» Im Rahmen des offiziellen Eröffnungsfests der Kaserne Ende September (23.9.–24.9.) können Besucher*innen die gesammelten Fragen diskutieren. 

Die Basler Kulturchefin Katrin Grögel, deren Abteilung Kultur ebenfalls «divers gestalten» möchte, sieht darin zumindest den Versuch, Theorie in Praxis zu leben. Sie sagt: «Der Ansatz des Ausstellungsraumes Klingental ist interessant, insbesondere die Hands-on-Ebene, das Aufsuchen des Kontaktes mit Menschen aus dem Quartier.» Und weiter: «Man kann Dinge so sorgfältig wie möglich angehen, aber man kann nicht 100 Prozent sicherstellen, dass eine Aktion gelingt.» Es handle sich um ein Testfeld, niemand habe die Weisheit mit dem Löffel gegessen, wir alle seien Lernende. 

Auch Mosimann ist überzeugt: «Dieser erste Versuch wird natürlich nicht gleich zu einer Lösung führen. Es kommen anstrengende Aushandlungen auf uns zu.»  

Am Ende wird wohl das Stimmvolk an der Urne über die gesellschaftliche Teilhabe der Migrant*innen entscheiden - und damit einen Schritt in Richtung ein «neues Wir» machen, oder eben nicht. Die SVP hat Widerstand angekündigt.

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Valerie Zaslawski

Das ist Valerie (sie/ihr):

Nach einem ersten journalistischen Praktikum bei Onlinereports hat Valerie verschiedene Stationen bei der Neuen Zürcher Zeitung durchlaufen, zuletzt als Redaktorin im Bundeshaus in Bern. Es folgten drei Jahre der Selbständigkeit in Berlin, bevor es Valerie zurück nach Basel und direkt zu Bajour zog, wo sie nun im Politikressort tätig ist.

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