«Überall Tempo 30 wollen wir vermeiden»
In Helsinki gab es ein Jahr lang keine Verkehrstoten. Die Stadt ist fast viermal so gross wie Basel – wo letztes Jahr fünf Menschen auf der Strasse starben. Was kann Basel von der finnischen Hauptstadt lernen? Verkehrsplaner Roni Utriainen sagt es uns.
Roni Utriainen ist gerade ein gefragter Mann. Er muss der ganzen Welt erklären, was Helsinki richtig macht – die finnische Hauptstadt, in der er städtischer Verkehrsingenieur ist. Denn Helsinki konnte jüngst vermelden, dass es ein Jahr lang keine Verkehrstoten gab. Das ist insofern besonders, weil Helsinki nicht gerade eine Kleinstadt ist. Mit 664’000 Einwohner*innen ist es die grösste Stadt, die bislang die «Vision Zero», also null Verkehrstote, erfolgreich umsetzen konnte.
Zum Vergleich: Basel hat 176’000 Einwohner*innen. Die bz zeigt in einer Übersicht mit Zahlen der Kantonspolizei, dass es in den vergangenen zehn Jahren im Schnitt drei Verkehrstote pro Jahr im Kanton gab – 2024 waren es fünf. Der VCS beider Basel bezieht sich nun in einer Medienmitteilung auf Helsinki und fordert, dass auch Basel die «Vision Zero» einführt – und dazu weitestgehend Tempo 30 einführt und den ÖV weiter ausbaut.
Ist das möglich? Wie setzt man so eine Vision um? Um das zu klären, ruft man am besten mal bei dem eben erwähnten gefragten Mann an: Roni Utriainen.
Roni Utriainen, wann hat Helsinki angefangen, einen so starken Fokus auf Verkehrssicherheit zu legen?
Verkehrssicherheit ist seit vielen Jahren ein zentraler Bestandteil der Verkehrsplanung. Vor zehn Jahren wurde die «Vision Zero» erstmals im Strategiepapier zur Verkehrssicherheit erwähnt. Ich würde sagen, dass es aber schon viel länger eine Rolle gespielt hat.
Was ist die Idee der «Vision Zero»?
Sie bestimmt jeden Schritt in unserer Arbeit in der Verkehrsplanung. Wir versuchen einzuschätzen, welche Auswirkungen unsere Pläne jeweils auf die Verkehrssicherheit haben – besonders auf lange Sicht. Die Strassen, die wir heute designen, sind schliesslich für viele Jahrzehnte da.
Gab es in Helsinki viele Verkehrstoten, bevor man die «Vision Zero» implementiert hat?
Ja. Man muss vielleicht dazu sagen: Wir hatten jetzt zwölf Monate ohne Verkehrstote. In den Jahren zuvor waren es rund fünf pro Jahr. Aber früher waren es viel mehr: In den späten 80ern und frühen 90ern gab es rund 30 tödliche Unfälle pro Jahr in Helsinki. Das war auch die Zeit, in der einige Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt wurden und Verkehrssicherheit mehr an Bedeutung gewann.
In Basel gibt es im Schnitt drei tödliche Verkehrsunfälle im Jahr. Glauben Sie, Helsinkis Zero-Jahr könnte auch Zufall gewesen sein und nächstes Jahr sind es wieder fünf?
Es ist schwierig, die Zukunft vorherzusagen. Es braucht schon auch Glück, aber ohne langfristige Arbeit in verschiedenen Bereichen der Verkehrssicherheit sind zwölf Monate ohne Verkehrstote nicht möglich.
«Wir kriegen kein negatives Feedback – wenn, dann nur weil wir nicht an einigen Orten noch keine Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt haben.»Roni Utriainen, Verkehrsingenieur von Helsinki
Auf der Website von Helsinki sind zahlreiche Massnahmen aufgelistet, mit denen Helsinki die Verkehrssicherheit erhöht: Speed Bumps, erhöhte Zebrastreifen, Kreisel, Verkehrsinseln. Reicht es also nicht, einfach nur Tempo-30-Schilder aufzustellen?
Diese baulichen Massnahmen sind alle sehr gut, weil sie es verhindern, schneller zu fahren. Über die Jahre haben wir zum Beispiel auch die Strassen enger gemacht. Als Autofahrer*in hat man das Gefühl, weniger Platz zu haben – und fährt dann langsamer.
Was ist die effektivste Massnahme, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen?
Verkehrssicherheit hat mehrere Ebenen. Man sollte die Fahrzeuge sicherer gestalten, aber auch das Verhalten und die Haltung der Strassennutzer*innen ist sehr wichtig – an einem Zebrastreifen entscheiden Autofahrer*innen nämlich immer noch selber, ob sie langsamer fahren wollen. Um das den Leuten bewusst zu machen, hat das Finnische Verkehrssicherheitsbeirat auch Medienkampagnen durchgeführt. Aber klar, Geschwindigkeitsbegrenzungen sind schon am günstigsten und einfachsten in einer Stadt umsetzbar. Damit hat man einen grossen Impact.
Wie weit fortgeschritten ist Helsinki da?
Rund 60 Prozent der Strassen in Helsinki haben eine Beschränkung auf 30 Stundenkilometer. Einen grossen Teil haben wir 2019 umgesetzt, als viele Wohngegenden und auch Zentrumsgebiete zu Tempo-30-Zonen wurden. Gerade diesen Sommer haben wir in der Nähe von Schulen weitere Tempo-30-Zonen eingeführt.
Hat die Einführung von so viel Tempo-30-Zonen nicht zu einem Aufschrei geführt?
Im Vorfeld gab es sehr wohl Diskussionen und es gab Verbände, die dagegen waren. Aber nach der Einführung haben wir kaum oder eigentlich gar kein negatives Feedback erhalten. Es ist eher andersrum: Wenn wir Rückmeldungen erhalten, dann geht es darum, warum wir an diesem oder jenem Ort noch nicht das Tempo reduziert haben. Denn die niedrigen Geschwindigkeitsbegrenzungen haben offensichtlich auch die Lebensqualität in den Wohnquartieren erhöht.
«Würde es überall Tempo 30 geben, würden Autofahrer*innen vielleicht durch Wohngebiete statt Hauptstrassen fahren. Das wollen wir vermeiden.»Roni Utriainen, Verkehrsingenieur von Helsinki
Ist der Plan denn, diese Tempo-30-Quote noch zu erhöhen?
Es ist möglich, aber konkrete Pläne gibt es derzeit nicht. Unsere Vision in Helsinki ist derzeit aber, dass auf Hauptstrassen ein Verkehrsregime von normalerweise Tempo 40 und manchmal Tempo 50 herrscht – Tempo 30 betrifft dann alle anderen Strassen. Wenn es überall Tempo 30 gäbe, würden manche Fahrer*innen vielleicht statt der Hauptstrassen durch Wohngebiete fahren – weil es ja gleich schnell ist. Das wollen wir vermeiden, deshalb soll man auf den Hauptstrassen schneller fahren können. Davon profitiert übrigens auch der öffentliche Verkehr.
Wie werden denn Geschwindigkeitsübertretungen bestraft?
Auf den Hauptstrassen haben wir in den vergangenen Jahren rund 60 Blitzer installiert. Das Blitzer-Netzwerk haben wir gemeinsam mit der Polizei entwickelt, die für die Durchsetzung der Verkehrsregeln zuständig ist und dann auch Bussen vergeben kann. Wie teuer die Bussen sind, hängt dann davon ab, wie schnell man gefahren ist – und wie hoch das Jahreseinkommen ist. Eine überhöhte Geschwindigkeit kann also vor allem dann teuer werden, wenn man viel verdient.
Hat sich das Verhalten der Verkehrsteilnehmer*innen verändert, seit die Kameras aktiv sind?
Ja. Wir haben gemessen, wie schnell vor und nach der Installation der Kameras gefahren wurde. Insbesondere das Rasen hat abgenommen – nicht nur in den Abschnitten vor den Kameras, aber auch dahinter.
Und hatte es eine Auswirkung auf die Anzahl von Unfällen?
Dazu haben wir noch keine aussagekräftigen Daten, dazu sind die Kameras noch zu neu. Für Unfallanalysen brauchen wir mehrere Jahre an Daten.
«In den letzten 20 Jahren ist das Zu-Fuss-Gehen viel beliebter geworden. Es macht rund die Hälfte der Trips in der Stadt aus.»Roni Utriainen
Haben die ganzen Regulierungen dazu geführt, dass man in Helsinki auf andere Verkehrsmittel umsteigt?
Das ist schwierig zu sagen, weil wir nicht im Detail wissen, warum Menschen sich für und gegen ein Verkehrsmittel entscheiden – und ob das zusammenhängt mit Verkehrsregulierungen. Was wir anhand von jährlichen Umfragen wissen, ist, dass Zu-Fuss-Gehen heute viel beliebter ist als Anfang des Jahrtausends. Laufen macht rund 40 bis 50 Prozent der Trips auf dem Stadtgebiet aus.
Wie weit sind denn die Strecken, die man in Helsinki so zu Fuss zurücklegt?
Laufen ist in einem Umkreis von ein bis zwei Kilometern beliebt. Helsinki ist eine eher dichte Stadt, meistens befinden sich Einkaufsmöglichkeiten und auch der Arbeitsplatz in diesem Radius. Bei einem Radius von bis zu fünf Kilometern ist das Velo immer noch beliebt. Daran arbeiten wir im Moment. Für viele ist aber auch der öffentliche Verkehr eine gute Option.
Wie wollt ihr in Helsinki Velofahren attraktiver machen?
Wir wollen Velostrassen von hoher Qualität zwischen den wichtigsten Wohngegenden und dem Stadtzentrum errichten. Das heisst: Velofahrende müssen eine Strecke haben, auf der weder andere Fahrzeuge noch Fussgänger*innen unterwegs sind. Das ist ganz wichtig – die Abtrennung muss auch mehr sein als ein weisser Strich auf dem Asphalt. Bestenfalls sind die Velostrassen breit genug, damit sich Velofahrer*innen überholen können.
«Bei niedrigeren Geschwindigkeiten kommt es zu weniger Staus und der Verkehr läuft flüssiger.»Roni Utriainen
Haben die Geschwindigkeitsbegrenzungen für Autos auch negative Effekte? Gibt es jetzt mehr Staus, wenn die Autos langsamer fahren müssen?
Nein. Wenn die Geschwindigkeit niedriger ist, braucht man einen kleineren Sicherheitsabstand. Entsprechend haben mehr Autos Platz auf der Strasse – das bedeutet, dass es eigentlich weniger Staus gibt und der Verkehr flüssiger läuft, wenn die Tempolimits niedrig sind. Das ist ein rein physikalischer Fakt.
Es gibt auch die Sorge, dass ein reduzierter Verkehr dazu führt, dass die Geschäfte in der Innenstadt weniger Kundschaft haben und dann weniger verdienen.
In Helsinki haben wir Umfragen gemacht, mit welchen Verkehrsmitteln die Menschen in das Stadtzentrum kommen, wenn sie einkaufen gehen. Der Anteil an Autos ist eher gering. Natürlich kann man mit Helsinki immer noch zum Einkaufen ins Zentrum fahren – aber andere Verkehrsmittel sind in diesem Fall beliebter. Wir haben eben auch ein gutes Netzwerk an Zügen, U-Bahn, Busse und Trams.
Wir haben in Basel auch ein dichtes Tramnetz. Wie sieht es in Helsinki da mit Unfällen und Sicherheitsmassnahmen aus?
Tödliche Unfälle, in die Trams involviert sind, sind sehr selten. Trams fahren hier sehr langsam, vor allem in Fussgängerzonen. Um Unfälle mit Autos zu vermeiden, gibt es meistens Ampeln an Kreuzungen, wo Autostrassen Tramlinien kreuzen. Und wenn Strassen und Tramlinien nebeneinander geführt werden, können Autos beispielsweise nicht immer über die Tramlinie in eine Querstrasse abbiegen.
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Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und übersetzt.