«Jeder hat eine Verantwortung, andere vor dem Virus zu schützen»
Drei Impfstoffe gegen Covid-19 sind in greifbarer Nähe. Jetzt ist die Frage: Wer wird zuerst geimpft? Wird es zur Pflicht werden? Sollten Geimpfte mehr Privilegien bekommen? Wir haben bei einem Medizinethiker nachgefragt.
Astra Zeneca, Biontech, Moderna – diese drei Pharmaunternehmen haben bereits angekündigt, wirkungsvolle Impfstoffe gegen Corona entwickelt zu haben. Die Schweiz hat sich bei Moderna bereits 4,5 Millionen Impfdosen gesichert, bei Astra Zeneca sogar bis zu 5,3 Millionen Dosen.
In Basel-Stadt sollen laut Gesundheitsdepartement zuerst die Risikopersonen geimpft werden, das seien etwa 40'000 Menschen. Es gibt bereits Pläne, eine Impfzentrum bei der Messe einzurichten, offiziell bestätigt ist das aber noch nicht, auch wenn vieles dafür spricht. Noch ist vieles ungeklärt, aber das Thema Impfen wird in den kommenden Wochen und Monaten sehr wichtig werden. Zu den ethischen Fragen rund ums Impfen gegen Covid-19 gibt David Shaw, Medizinethiker von der Uni Basel, interessante Einblicke.
David Shaw hat einen Doktortitel in Bioethik und einen Master in Philosophie und medizinischem Recht. Seine Spezialgebiete sind Ethik in der Forschung und wissenschaftliche Integrität sowie ethische Fragen zu Organspende. Shaw lebt teilweise in der Schweiz und teilweise in Schottland. Wegen der Corona-Pandemie arbeitet er im Moment aber ausschliesslich aus dem Homeoffice in Schottland.
Ein wirksamer Impfstoff könnte dieser elenden Corona-Situation ein Ende bereiten. Wäre es nicht das Beste, der Bund würde einfach eine Impfpflicht für alle durchsetzen?
David Shaw: Dass der Staat auf eine Impfpflicht verzichtet, ist eigentlich Standard. Es gibt aber Länder, wo Kinder zum Beispiel gegen Masern geimpft sein müssen, damit sie einen Kindergarten oder eine Schule besuchen dürfen. Um Corona zu bekämpfen, müssen wir die Menschen allerdings so gut es geht mitnehmen.
Wäre eine Impflicht nicht das einfachste Mittel, alle mitzunehmen?
Wenn man etwas zur Pflicht erklärt, kann das den Widerstand erhöhen und weniger Menschen lassen sich impfen. Deshalb muss man versuchen, die Menschen zu überzeugen, dass der Impfstoff sicher ist. Mit Corona ist das aber ein Problem, weil er in so kurzer Zeit entwickelt wurde.
Was schlagen Sie vor?
Es könnte für die Schweiz eine gute Idee sein, an alle Haushalte einen Brief zu schreiben und zu erklären, warum die Impfung sicher ist und sie keine Gefahr darstellt. So hat es zum Beispiel Schottland vor. Diese Erklärung muss aber recht generell formuliert sein, weil es verschiedene Impfstoffe geben wird und noch nicht klar ist, wer welchen bekommt.
«Verschweigt man die Risiken und es kommt zu Nebenwirkungen, ist das Vertrauen komplett zerstört.»
Sind denn alle Impfstoffe sicher?
Wahrscheinlich sind sie alle sicher. Ich persönlich möchte mich impfen lassen, aber vorher die Daten sehen zu möglichen Nebenwirkungen, und auch dazu, wie die Impfversuche abgelaufen sind. Es gibt z.B. noch Fragen zum Impfstoff von Astra Zeneca dessen 90-prozentige Wirksamkeit nur auf eine kleine Stichprobe zurückgehen soll.
Glauben Sie, es wird Nebenwirkungen geben?
Die Impfstoffe werden mögliche Nebenwirkungen haben, da sollte man transparent sein. Aber diese werden nicht so schlimm sein, dass Menschen abgeschreckt sind, aber das ist eine ethische Frage: Man möchte niemanden verletzen, aber Impfungen können zum Beispiel blaue Flecken, Kopfschmerzen oder Halsschmerzen verursachen. Diese Dinge muss man in Kauf nehmen, um sich zu schützen. Es wäre unethisch, diese Risiken nicht offenzulegen. Denn verschweigt man sie und es kommt zu Nebenwirkungen, dann ist das Vertrauen komplett zerstört.
Die Regierung sollte also auf Vertrauen setzen, nicht auf Zwang. Gehört das zur ethischen Verantwortung einer Regierung?
Es gibt in jedem Fall eine ethische Verantwortung der Regierung – vielleicht nicht unbedingt, das Vertrauen herzustellen. Aber Vertrauen zu schaffen, ist der beste Weg, um die Zahl der Impfungen zu steigern. Und das muss ethisch korrekt geschehen. Der beste Weg, um möglichst viele Menschen zu impfen, wäre medizinisches Personal zu ihren Wohnungen zu schicken. Das ginge aber nur, wenn es einen strengen Impfzwang gäbe. Aber das ist nicht erstrebenswert.
«Wer im Spital arbeitet, hat eine berufliche Verantwortung, Patient*innen zu schützen.»
Wer wird als Erstes geimpft und warum?
Die Menschen in den Pflegeheimen sind zuerst dran, weil sie alt und einem höheren Risiko ausgesetzt sind, an Covid-19 zu erkranken. Das Personal im Gesundheitswesen ist einem genauso hohen Risiko ausgesetzt, aber das ist nicht, warum sie früher geimpft werden. Sie werden geimpft, damit ihre Patient*innen geschützt werden. Sie haben immer noch eine höhere Priorität als jemand, der von zu Hause aus arbeitet.
Was ist, wenn Pfleger*innen oder Ärzt*innen eine Corona-Impfung verweigern?
Jeder hat eine Verantwortung, andere vor dem Virus zu schützen – sei es durch Abstand halten, das Tragen einer Maske oder durch eine Impfung. Aber wenn man in einem Spital arbeitet, hat man eine berufliche Verantwortung, die Patient*innen zu schützen. Das heisst, es spricht zumindest etwas dafür, eine Corona-Impfung für diejenigen zur Pflicht zu machen, die im Spital arbeiten. Manche Krankenhäuser haben die Vorgabe, das Pfleger*innen und Ärzt*innen gegen die Grippe oder die Masern geimpft sein müssen, ähnliches könnte bald für Corona gelten. Man muss sich bewusst sein: Das dient dazu, die Bevölkerung bestmöglich zu schützen.
Es gibt jetzt schon Proteste gegen die Impfstoffe und Menschen die ankündigen, dass sie sich verweigern wollen. Ist es ethisch vertretbar, eine Impfung inmitten einer Pandemie abzulehnen?
Menschen, die für eine unkontrollierte Herdenimmunität sind und gegen Lockdown sind oft auch gegen die Wissenschaft. Und wer gegen die Wissenschaft ist, neigt auch dazu, gegen Impfungen zu sein. Deshalb ist es etwas ironisch, dass die Menschen, die keinen Lockdown wollen auch diejenigen sein könnten, die eine Impfung ablehnen, obwohl diese weitere Lockdowns verhindern könnte. In der Ethik nennen wir solche Menschen «free riders» – sie profitieren von den Handlungen anderer, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Für jemanden, der gegen Impfungen ist, ist es komfortabel, denn es muss nicht die gesamte Bevölkerung geimpft werden, um den benötigten Schutz zu erreichen. Aber auch mit Herdenimmunität kann es zu kleinen Corona-Ausbrüchen kommen.
Allerdings gibt es auch Leute, die sich so schnell wie möglich impfen lassen möchten, aber der Impfstoff ist knapp. Wie wird entschieden, wer zuerst darf?
Das ist ein spannendes Thema, denn zu Beginn der Pandemie ging es noch darum, wer das Bett auf der Intensivstation bekommt, wenn diese überlastet ist. Die Reihenfolge beim Impfen ist anders als die Triage auf der Intensivstation. Denn wer alt, krank und besonders gefährdet ist, bekommt in so einem Fall wahrscheinlich kein Bett, sondern die Person mit der grösseren Überlebenschance. Eine Impfung bekommen hingegen diejenigen zuerst, die am schwächsten sind.
Wer wird ausserdem bevorzugt?
Es ist nicht die Frage, wer die Impfung bekommt, sondern wer die Impfung zwei oder drei Wochen vor allen anderen bekommt. Es wird eine Reihenfolge geben müssen, aber ich glaube, es wird genug Impfstoff geben, um die Hochrisiko-Gruppen zu behandeln und gleichzeitig andere zu impfen. Es ergibt keinen Sinn, falls zu Beginn nur zehn Menschen aus der Top-Gruppe geimpft werden können und die freien Kapazitäten nicht genutzt werden.
«Es könnten andere Restriktionen für geimpfte Menschen gelten.»
Es kann sein, dass Ältere oder Kranke gar nicht geimpft werden wollen. Was dann?
Wenn jemand im Pflegeheim nicht geimpft werden möchte, könnte man ihm einen Anreiz bieten und sagen: «Du darfst wieder Besucher in deinem Zimmer haben, wenn du geimpft bist.»
Also lieber mit Anreizen schaffen als mit Strafen?
Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, aber es könnten unterschiedliche Restriktionen für Menschen mit oder ohne Impfung eingeführt werden – unabhängig davon, ob man in einem Pflegeheim untergebracht ist oder nicht. Man könnte die Menschen von einer Impfung überzeugen, wenn mit ihr bestimmte Privilegien verbunden sind wie in ein Restaurant zu gehen. Ich bezweifle, dass Regierungen das tatsächlich erwägen würden. Und die Menschen müssen auch begreifen, dass eine Impfung am Anfang noch nicht bedeutet, dass wir wieder alles tun können, was wir wollen, dazu braucht es noch mehr Daten.
Die CVP-Nationalrätin Ruth Humbel brachte den Vorschlag ein, dass Geimpfte mehr Freiheiten bekommen könnten wie etwa Stadionbesuche. Beweisen solle man das durch das Vorweisen eines Immunitätsausweises. Was halten Sie von der Idee?
Wenn der Bund nicht für die Impfung bezahlt, dann kann jemand mit viel Geld einfach hingehen, sie kaufen und er oder sie bekommt alle damit verbundenen Privilegien. Dann gibt es Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Sie würden deshalb vielleicht nicht stigmatisiert werden, aber sie wären in jedem Fall benachteiligt, weil sie nicht die gleichen Möglichkeiten hätten wie Geimpfte. Angestellte wie Busfahrer*innen oder Verkäufer*innen könnten plötzlich unter grossem Druck stehen, sich impfen zu lassen, weil die Arbeitgeber*innen sich so absichern wollen.
«Armutsbetroffene sind dem Virus häufiger ausgesetzt.»
Fördert das Corona-Virus ein «survival of the richest» – wer viel Geld hat, profitiert?
Ein Land hat natürlich die Pflicht, seine Bürger zu schützen. Die Schweiz hat sich bereits 9,8 Millionen Impfstoffdosen gesichert, das sind etwa zwei pro Person. Grossbritannien etwa kaufte 4-5 Dosen pro Person, aber Kanada beschaffte 10 Dosen pro Kopf. Das erscheint etwas gierig. Es ist also ein «survival of the richest» im internationalen Vergleich, denn arme Länder können sich das nicht leisten. Den finanziellen Vorteil gibt es auch auf lokaler Ebene.
Inwiefern sind in Basel-Stadt Armutsbetroffene benachteiligt?
Menschen, die auf der sozioökonomischen Leiter tiefer stehen, haben ein viel grösseres Risiko, an Covid-19 zu erkranken, weil für sie häufiger Homeoffice keine Option ist, sie häufiger auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen und so dem Virus stärker ausgesetzt sind. Ausserdem haben diese Menschen häufig ein geringeres Verständnis von Gesundheit, sodass sie sich seltener an Hygienevorschriften halten oder weniger darüber wissen.
Was wird sich ändern, wenn die Impfung verfügbar ist?
Die Geduld mit den Corona-Auflagen nimmt bereits ab, aber sobald der Impfstoff da ist, werden die Menschen noch ungeduldiger werden. Es lässt sich schon jetzt beobachten, dass die Menschen weniger Abstand halten, wenn sie Masken tragen. Und sobald wir geimpft sind, werden die Menschen weder Abstand halten noch Masken tragen. Nach wenigen Monaten wird das auch gehen, aber nicht sofort.
Wie lange geht es denn, bis genug Menschen geimpft sind, so dass wieder Normalität einkehrt?
Ich denke und hoffe, dass genügend Menschen bis zum späten Frühling oder Sommer 2021 geimpft sein werden, sodass dann die Lage fast wieder normal ist.