Knobeln über eine gerechte Klassenzuteilung
Ein Algorithmus für die Schulzuteilung? Was Klassen gerechter machen würde, löst auch in Basel dubiose Ängste aus. In der Zürcher Gemeinde Uster hat sich die zuständige Schuldirektorin hingegen entschieden, es trotzdem zu tun.
Immer, wenn es Frühling wird, stecken in der Schweiz tausende Schulzuteiler*innen die Köpfe zusammen und das grosse Knobeln beginnt: Wie werden ausgeglichene Klassen geformt, ohne dass einzelne Kinder zu lange Schulwege haben?
Basel reagiert auf unausgeglichene Klassen mit zusätzlichen Ressourcen für besonders belastete Schulen. Zudem werde versucht, die Klassen an den betroffenen Standorten «wenn immer möglich kleiner zu halten als das gesetzlich vorgeschriebene Maximum», wie das Erziehungsdepartement auf Anfrage schreibt.
«Die Kinder kommen nie dort zur Welt, wo sie sollten, und auch die Schulhäuser sind immer am falschen Ort.»Patricia Bernet, SP-Stadträtin von Uster
Auch die Zürcher Gemeinde Uster kennt das Problem mit der Zuteilung. «Die Kinder kommen nie dort zur Welt, wo sie sollten, und auch die Schulhäuser sind immer am falschen Ort», beschreibt Patricia Bernet das Problem. Sie ist Stadträtin von Uster für die SP und oberste Schulverantwortliche der 36’000-Seelen-Stadt. Also werden Jahr für Jahr Kinder von Schulhaus zu Schulhaus verschoben, je nach Arbeitsweise auf Post-it-Zetteln, handgeschriebenen Listen oder im Excel. «Ein sehr aufwendiger und auch fehleranfälliger Prozess», sagt Bernet. «Ausserdem ist es uns wichtig, dass Schulhäuser und Klassen möglichst chancengerecht zusammengesetzt werden, also keine Schule einen zu hohen Anteil fremdsprachiger oder schulisch besonders schwacher und/oder armutsbetroffener Kinder aufweisen soll – so steht es auch im Gesetz.»
Kein Wunder also hat Bernet die Ohren gespitzt, als sie im Rahmen eines Workshops den Zürcher Politologen Oliver Dlabač kennengelernt hat. Er experimentiert seit Jahren mit einem Algorithmus, der dasselbe macht wie eine Zuteilungsbehörde, die «unendlich viel Zeit und Ressourcen hat und keine Fehler macht», wie er sein Produkt anpreist. Auch das Computerprogramm schaffe keine perfekte Verteilung, aber es komme der optimalen Lösung näher, weil es innert Sekunden tausende Varianten durchspielen könne. «Die Forschung zeigt: Ab 30 bis 40 Prozent sozial und sprachlich benachteiligter Schüler*innen werden die negativen Effekte auf die gesamte Klasse sichtbar – unter diesem Schwellenwert gibt es hingegen keinen systematischen Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung und den Leistungen», sagt Dlabač.
«Die Forschung zeigt: Ab 30 bis 40 Prozent sozial und sprachlich benachteiligter Schüler*innen werden die negativen Effekte auf die gesamte Klasse sichtbar.»Oliver Dlabač, Politologe
Wissenschaftler Oliver Dlabač ist erst über Umwege zum Thema chancengerechte Schulzuteilung gekommen. Ursprünglich forschte er im Bereich sozialer Städtebau. Wenn Blöcke neben Villen stehen, dann steigert sich automatisch die Durchmischung auch an den Schulen. Aber Stadtplanung mit dem Ziel besserer Durchmischung sei langsam, teuer und stosse auf heftigen Widerstand. Am Zürcher Lindenplatz, umgeben von sozial sehr unterschiedlichen Quartieren, konnte er aufzeigen, dass bereits eine minimale Verschiebung der Einzugsgebiete der einzelnen Schulen zu einer wesentlich besseren Durchmischung führen würde.
- In einem ersten Schritt berechnet das Programm für alle Schüler*innen, welche Schulhäuser aufgrund des Schulwegs überhaupt infrage kommen: Nicht zu lang, nicht zu steil, keine zu gefährlichen Strassen kreuzen. Was normalerweise grosse Ortskenntnis voraussetzt, erledigt das Programm datengestützt.
- Danach werden die Schüler*innen kleinstmöglichen statistischen Einheiten zugeordnet, den sogenannten statistischen Strassenblöcken. Das Ziel: Kinder aus der unmittelbaren Nachbarschaft sollen derselben Schule zugeteilt werden und den Schulweg zusammen machen können. Gleichzeitig werden die Strassenblöcken mit anonymisierten, aggregierten Steuerdaten versehen, um die Armutsbetroffenheit der Kinder zu schätzen.
- Jetzt wird der Status quo, also die Zuteilung des vergangenen Jahres, analysiert: Wie würde die Verteilung aussehen, wenn die Kinder aus denselben Strassenblöcken den jeweiligen Schulen zugeteilt würden? Das ergibt eine Ausgangslage, bei der die Kassen in einigen Schulen zu gross und in anderen zu klein würden, ebenso hätten einige Schulen einen überdurchschnittlich hohen Anteil fremdsprachiger oder armutsbetroffener Kinder. Hier setzt der Algorithmus mit Optimierungsversuchen ein.
- Danach wird ausgewertet. Dann wieder ausgetauscht. Wieder ausgewertet. Danach kommt das nächste Schulhaus dran, das übernächste. Und so weiter, bis alle durch sind und – weil es durch die Verschiebungen im Nachbarschulhaus wieder neue Möglichkeiten gibt – beginnt der Algorithmus nochmals von vorne, bis ein optimaler Vorschlag steht.
- Der Vorschlag wird dann von den Zuteiler*innen begutachtet und kann manuell abgeändert werden, etwa wenn an einem Ort eine Baustelle geplant wird. Dann beginnt die Berechnung wieder von vorne, bis Computer und Mensch mit dem Ergebnis zufrieden sind.
Beim Erklären spreizt der Forscher seine Finger und macht eine ganz leicht rotierende Bewegung, wie um zu beweisen, dass die Veränderungen tatsächlich nur sehr gering gewesen wären. Doch er stiess immer wieder auf eine abwartende Haltung der Behörden, nicht nur in Zürich, sondern auch in weiteren Städten, denen er das System vorstellte. Auch in Basel, wo es auch schon zu ersten Gesprächen kam. Überall gilt: Zu gross die Ängste, schliesslich geht es um die Zukunft der Kinder und es wird mit der Zuteilung ein Prozess angefasst, der jetzt schon eine grosse Herausforderung darstellt. Sprich: Ein zu heisses Eisen, fanden die zuständigen Behörden unisono.
Nicht so für Patricia Bernet. «Wir haben uns auch damit beschäftigt, dass es Gegenwind geben wird und uns gefragt: Sind wir bereit, das auszuhalten?» Die Antwort lautete Ja, und so wird Dlabačs Algorithmus in diesem Jahr erstmals im realen Leben eingesetzt, wenn auch (noch) parallel zum bisherigen Zuteilungssystem. Bernet sagt: «Wir fühlen uns verpflichtet, alle Möglichkeiten zu nutzen, die eine Verbesserung der gesetzlich verlangten Chancengerechtigkeit bringen. Dafür wurden wir gewählt und wenn es ein Mittel gibt, das uns überzeugt, dann fühlen wir uns verpflichtet, es einzusetzen.»
Also liessen sie die Computer rattern, verglichen die Ergebnisse der bisherigen Zuteilungsbehörde mit den Resultaten des Algorithmus und kommunizierten den betroffenen Eltern, in welches Schulhaus ihr Kind gehen würde. Und es passierte: Nichts. Einzig einige Lehrer*innen, die Hinweise zu ihren abgehenden Kindern neu digital erfassen mussten, beschwerten sich, dass das Eintragen noch nicht optimal funktioniere. Hier brauche es noch Verbesserungen. «Wir haben in Uster einen grossen Vorteil: Wir haben schon immer zu jenen Eltern den Kontakt gesucht, deren Kinder nicht dem offensichtlichsten Schulhaus zugeteilt wurden. Und das haben wir auch in diesem Jahr gemacht und sind auf wenig bis keinen Widerstand gestossen, wenn wir erklärt haben, dass die Zuteilung in diesem Jahr erstmals computergestützt erfolgte.»
So grossen Ärger und kaum Kritik – kann das sein? Anruf bei Andrea Hofmann, Schulleiterin im Schulhaus Krämeracker. Sie sagt: «Unsere Schule, welche im Vergleich zu anderen Schuleinheiten in Uster mehr fremdsprachige und unterstützungsbedürftige Kinder hat, profitiert, wenn die Klassen besser durchmischt sind. Deshalb war für mich von Anfang an klar, dass ich eine algorithmusbasierte Zuteilung unterstützen werde, wenn es unseren Kindern dient.»
«Ich erwarte, dass sich die Regierung mit dieser Möglichkeit auseinandergesetzt hat und erhoffe mir, dass es mindestens zu einer Pilotphase in Basel kommt.»Edibe Gölgeli, SP-Grossrätin Basel-Stadt
Der erste Einsatz zeige nun jedoch, dass der Algorithmus noch Grenzen habe. «Hinweise von Lehrpersonen zu einzelnen Kindern – zum Beispiel, ob sie weiterhin in derselben Klasse sein sollen oder eher nicht, weil sie sich möglicherweise negativ beeinflussen – werden aktuell noch nicht berücksichtigt. Als Schulleitung unterstütze ich diesen Prozess und optimiere die Vorschläge.» Einen letzten Feinschliff auf Ebene Klasse werde es vermutlich weiterhin brauchen. Es sei wesentlich, dass Eltern wüssten, dass ihr Kind nicht nur eine Zahl sei. «Dies wird selbst mit Computerunterstützung nicht der Fall sein und das soll auch so sein.»
Für Dlabač ist Uster ein Meilenstein: Das Argument, «Ihr System ist gut, aber unerprobt», fällt ab sofort weg. Auch für die Basler Regierung, die sich derzeit mit Dlabačs Algorithmus auseinandersetzt. Grund dafür ist ein Vorstoss von SP-Grossrätin Edibe Gölgeli aus dem Jahr 2021. Weil es sich um ein offenes Geschäft handelt, gibt das Erziehungsdepartement auf Anfrage keine Auskunft zum Thema.
Gölgeli verfolgt das Thema und freut sich, dass es in Uster zu einer ersten Umsetzung gekommen ist. Die Antwort auf ihren Vorstoss erwartet sie nach den Sommerferien. Sie sagt: «Ich erwarte, dass sich die Regierung mit dieser Möglichkeit auseinandergesetzt hat und erhoffe mir, dass es mindestens zu einer Pilotphase in Basel kommt.» Alles andere sei eine verpasste Chance. «Man weiss seit Jahrzehnten, dass der Erfolg von Kindern stark von Herkunft, Bildung und sozioökonomischen Status ihrer Eltern abhängt. Wenn es jetzt ein Tool gibt, das hilft, diese Ungerechtigkeit zu lindern, dann muss man diese Möglichkeit packen.»
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Dieser Text ist entstanden im Rahmen eines Stipendiums von AlgorithmWatch. AlgorithmWatch ist eine gemeinnützige Forschungs- und Advocacy-Organisation mit dem Ziel, Systeme automatisierter Entscheidungsfindung (ADM) und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft zu beobachten und zu analysieren. Mehr Informationen findest du hier.
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