Wenn zwei Weltbilder aufeinander prallen
Zwei Menschen, zwei Meinungen, eine Diskussion. Beim Projekt «#Lasstunsreden» kommen Andersdenkende miteinander ins Gespräch. Bajour hat den Dialogtag mitverfolgt.
Es ist Dialogtag im kHaus: Kurz vor Beginn ist es im Turmzimmer noch ganz still, dabei soll hier gleich ein Workshop mit spannenden Diskussionen stattfinden. Die Teilnehmer*innen müssen erst noch zusammengesucht werden, denn der Veranstaltungsort gleicht durch die verschiedenen Treppenhäuser und Eingänge einem Labyrinth. Nachdem auch die letzten Gäste eingetrudelt sind, manche schon miteinander getuschelt und die zwei ebenfalls anwesenden Hunde es sich gemütlich gemacht haben, kann es losgehen.
Die Veranstalter*innen Lea Suter und Ivo Scherrer von Pro Futuris, dem Think & Do Tank der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft SGG, geben eine kurze Einführung ins Projekt #Lasstunsreden (siehe Box). Die Stiftung habe sich zum Ziel gesetzt, die demokratische Kultur in der Schweiz zu stärken und wolle «zu einer offenen, lernenden und handlungsfähigen Demokratie beitragen», sagen sie. Die Anwesenden, rund 20 Personen, hören gespannt zu. Auffällig viele Frauen sind vor Ort und nicht einmal eine Handvoll Männer. Dafür sind viele unterschiedliche Generationen vertreten. Alle sind miteinander per Du.
«#Lasstunsreden» ist ein Projekt von Pro Futuris, dem Think + Do Tank des Vereins Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG). Es soll Begegnungen und Austausch zwischen Andersdenkenden ermöglichen, damit sich die Projektteilnehmer*innen an einer Auseinandersetzung von unterschiedlichen Meinungen beteiligen können. Nachdem es im Jahr 2022 einen nationalen Probelauf gegeben hat, wird das Projekt nun im Rahmen der Dialogwoche in Basel durchgeführt. My Country Talks und Bajour sind Partner*innen. Im Vorfeld konnten die Teilnehmer*innen einen Ja/Nein-Fragenkatalog beantworten und wurden aufgrund gegensätzlicher Positionen zusammengeführt. In einem gemeinsamen Gespräch soll in einem Dialog ein Meinungsaustausch stattfinden. Fragen, die sich unter anderem mit den Abstimmungen vom 18. Juni 2023 beschäftigen, bilden die inhaltlichen Schwerpunkte. Die Veranstalter*innen geben den Teilnehmer*innen Tipps, wie ein konstruktives Gespräch durchgeführt werden kann. Die Dialogwoche findet noch bis zum 18. Juni statt.
Die eigentliche Diskussion
Von der Theorie in die Praxis. Die erste Frage lautet: «Geht die Basler Polizei zu repressiv mit Demonstrant*innen um?» Veranstalterin Lea hat dafür ein Seil ausgelegt, auf dem sich die Teilnehmer*innen positionieren sollen. Wer ganz oben im Raum steht, findet Ja und wer ganz unten steht, meint Nein. Und die, die keine klare Meinung haben? Die sollen sich irgendwo in der Mitte hinstellen. Die Teilnehmer*innen verteilen sich aufgrund der physischen und tatsächlichen Position in Zweiergruppen an die kleinen Tischen im Raum.
Die Zweiergespräche des Dialogtags laufen folgendermassen ab: Zuerst hört Person B Person A zu, wie sie zur gestellten Frage steht und macht Notizen. Nach ein paar Minuten kann Person B Rückfragen stellen, danach wird gewechselt. Erst jetzt kommt es zur eigentlichen Diskussion.
Bevor die Teilnehmer*innen des Workshops in Zweierteams aufgeteilt werden, wartet die erste Aufgabe auf sie: herausfinden, was «Dialog» für sie bedeutet.
Die Diskussionen sind sofort angeregt. Ein Teilnehmer findet, in einem Dialog gebe es auch Grenzen und ein solcher sei nicht mit allen möglich. Vor allem während der Pandemie habe man das gemerkt. Eine Frau meint darauf, ein Dialog sei ein Austausch zwischen zwei Menschen, müsse aber nicht zwingend ein Gespräch sein. Andere finden, sie vermissten das Zuhören, und nochmals andere betonen, wie wichtig es sei, Begrifflichkeiten zu definieren. Veranstalter Ivo stellt klar, dass die Kunst eines Dialogs sei, keine Spaltung zwischen den Gesprächsführer*innen hervorzubringen.
Helena und Génia
Da wären zum Beispiel Helena und Génia. Die beiden fallen auf: Helena ist mit ihren 19 Jahren eine der Jüngsten im Raum und Génia, Kommunikationsberaterin, ist mit ihren 62 Jahren schon etwas älter. Die Maturandin und Kolumnistin Helena nimmt selbst auch an Demos teil, Gesprächspartnerin Génia nicht.
Helena findet Demos «mega wichtig» für die Demokratie und meint, dass dadurch die politische Meinung ausgedrückt werden könne. Sie könne nicht verstehen, warum die Polizei beispielsweise bei FCB Fanmärschen nicht eingreife, bei friedlichen politischen Demonstrationen hingegen schon. Génia muss näherrücken, damit sie auch alles versteht, es ist plötzlich wahnsinnig laut im Turmzimmer. Génia wiederum fühle sich in grossen Menschenmengen nicht wohl, sagt sie, eigene Erfahrungen habe sie demnach nur bedingt. Sie informiert sich vor allem über die Medien. Auch sie findet es «heavy», wie sich das Verhalten der Polizei, aber auch der Demonstrierenden entwickelt habe. Die Polizei soll ihrer Meinung nach nicht repressiv gegen die Demonstrierenden vorgehen, sondern für Schutz sorgen. Da sind sich die beiden weitgehend einig. Und sie sprechen sich für geschützte Plätze aus. Am Ende des Gesprächs haben beide das Gefühl, voneinander gelernt zu haben, wie sie sagen. Sie fanden den Austausch «sehr spannend».
In einer anschliessenden Austauschrunde stellen Teilnehmer*innen fest, dass das Gespräch interessanter ist, wenn die Meinungen unterschiedlich sind.
Doch Fragen zu finden, bei denen die Meinungen stark auseinander gehen, ist gar nicht immer so leicht, wie sich gleich herausstellen wird. Das Thema Verkehr schafft es dann doch, genügend zu polarisieren. Zweite Frage: «Soll die Basler Innenstadt autofrei werden?»
Lilian und Martin
Auch Lilian und Martin kommen ins Gespräch. Lilian ist 66 Jahre alt und ehemalige Taxi- und Busfahrerin für Krankentransporte sowie Stadtführerin. Martin ist 63 Jahre alt und evangelisch-reformierter Pfarrer sowie Co-Leiter des Pfarramts für Industrie und Wirtschaft in den beiden Basel.
Lilian hat aufgrund ihrer beruflichen Erfahrungen dazu eine klare Meinung: Nicht alle Menschen könnten den öffentlichen Verkehr nutzen und sind auf private Transporte angewiesen. Deshalb lehnt sie eine autofreie Innenstadt ab. Können Ausnahmebewilligungen Lilian umstimmen, möchte Martin, der das Ganze etwas anders sieht, wissen. Komplett umstimmen nicht, aber so könnte man vielleicht darüber diskutieren, antwortet seine Gesprächspartnerin. Bereits heute gebe es viele autofreie Zonen, sagt sie. Sie findet es ausserdem wichtig, dass Velos und E-Trottis bei dem Gedankenexperiment mitgedacht werden: «Diese können für Fussgänger*innen noch gefährlicher sein, weil sie leiser sind.» Martin meint daraufhin: «Auch diese Verkehrsteilnehmer*innen müssen Verantwortung übernehmen.» Doch er «geniesse es wahnsinnig», wenn er im Urlaub autofreie Städte besuche. Lilian unterbricht Martin, entschuldigt sich aber gleich wieder dafür.
Am Ende dreht sich das Gespräch darum, ob Menschen rücksichtslos sind (Lilian findet ja: «alle!») und ob Menschen ein Bewusstsein für andere Menschen fehlt (Martin sagt: «Manche Autofahrer*innen halten sich nicht an 30er-Zonen und sind besonders für Kinder gefährlich!») Liliane redet viel, Martin weniger. Doch die hitzige Diskussion wird unterbrochen. Das Gespräch mit Martin empfand sie als «kurz und knackig», er sagt über Liliane: Sie kommt richtig «ins Feuer».
In den Meinungen ernst genommen werden
Eines wurde an diesem Dialogtag bereits klar: Menschen haben ein grosses Bedürfnis, sich zu äussern, individuelle Erfahrungen zu teilen. Die Leute wollen in ihren Meinungen ernst genommen werden, auch wenn das Gegenüber einen anderen Standpunkt vertritt. Insbesondere der Dialog zwischen den Generationen wurde geschätzt. Babyboomer*innen hätten die Möglichkeit erhalten, Vorurteile zu durchbrechen. Die jüngeren Altersgruppen ebenso.
Der Event im Turmzimmer des kHauses war erst ein Vorgeschmack, eine Übungsanlage und eine Einführung für ausführlichere Gespräche, die die Teilnehmer*innen noch vor sich haben. Dann sollen sie weitere Fragen noch intensiver diskutieren. Die Teams werden möglichst kontrovers zusammengesetzt, damit unterschiedlichste Haltungen aufeinander treffen.
Ein solches Zweiergespräch werden zum Beispiel auch Helena und Martin miteinander halten. Helena hat sich für #Lasstunsreden angemeldet, weil das Projekt sie interessiert. Sie selbst schreibt eine Kolumne, bei der es um Probleme der Jungen gehe und deswegen würde sie sich sowieso sehr für den Generationenaustausch interessieren. Für sie ist das Projekt eine «Horizonterweiterung», diese Erfahrung habe ihr gezeigt, dass der Austausch zwischen Jung und Alt funktioniere, und auch das Bedürfnis danach bestehe. Martin hat sich angemeldet, weil er es wichtig findet, dass sich Menschen äussern können und in den Dialog treten. Er mache sich Sorgen, wie sich die «Dialogkultur» entwickelt.
Das Fazit
Obwohl unterschiedliche Meinungen aufeinander trafen, konnten produktive Gespräche entstehen. Oder gerade deshalb? Beide Seiten waren dazu bereit, einander zuzuhören und sich gegenseitig ausreden lassen. Davon zeugt auch der anschliessende Apéro in der Sonne am Rhein. Hier liessen die Teilnehmer*innen ihre Gespräche gemeinsam ausklingen.
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