«ÖV nicht als Beilage, sondern als Hauptmenü»
Der Autobahn-Ausbau wurde abgelehnt. Das wirft uns nicht zurück auf Null, wie die vielen Ideen bei der Frage des Tages zeigen: Güter auf die Schiene, eine Einhausung über der Osttangente 10-Minuten-Nachbarschaften zur Verkehrsreduktion – oder doch eine Neuprojektierung als Rheintunnel light?
Wie geht es weiter – jetzt, wo der Rheintunnel abgelehnt wurde? Denn das Stauproblem auf der Osttangente, das in Lärm und Ausweichverkehr in den Basler Quartieren mündet, bleibt ja. Das wollten wir bei der Frage des Tages wissen. Über die Hälfte der Abstimmenden fand dabei: Die Lösung muss mehr ÖV sein.
Florian Schreier, VCS-Geschäftsführer beider Basel, schreibt in seinem Kommentar, dass nun «endlich» Velovorzugsrouten, die Tramnetzentwicklung und die trinationale S-Bahn rasch umgesetzt werden müssen. Er nennt das Beispiel der S-Bahn-Haltestelle Solitude bei der Roche, die erst 2029 in Betrieb gehen soll – obwohl lange im Voraus absehbar war, dass die Roche massig Arbeitsplätze ins Quartier bringt, die nun ohne Schienenanschluss sind. Er hofft, dass es bei den Arealentwicklungen im Klybeck, im Dreispitz und in Pratteln vorausschauender laufen wird.
Die Weiterentwicklung des trinationalen S-Bahn-Netzes in Form des Herzstücks greifen auch Aktivist Christian Müller und SP-Präsidentin Lisa Mathys auf. Letztere forderte zudem, dass der Lärmschutz entlang der Osttangente, der «zum Teil vor Jahren beschlossen wurde», nun endlich realisiert werden soll – zum Beispiel durch die Einhausung, also eine Überdachung der Osttangente. Leserin Susanne Bertschi ergänzte um eine ebenfalls schon lange diskutierte Forderung: Tempo 60 auf der Osttangente. Das wäre «einfach, billig und sofort durchführbar», um den Lärm zu reduzieren. Nur das für Strassenplanung federführende Amt Astra hat diese bislang verhindert.
«Indem der Verkehr in der Stadt stark reduziert wird, wird auch der Verkehr auf der Autobahn reduziert werden.»Laurent Schüpbach, Basta-Politiker
Basta-Politiker Laurent Schüpbach findet, Tempo 60 sei beim entsprechenden Willen «innerhalb weniger Tage» umsetzbar. Er greift derweil auch auf, dass die Regierung im Wahlkampf flankierende Massnahmen versprochen hat, um den Verkehr in der Stadt zu reduzieren, sollte der Rheintunnel gebaut werden. So wird zum Beispiel imKlimaschutzaktionsplan zur Erreichung des Netto-Null-Ziels 2037 festgehalten, dass im Fall des Rheintunnel-Baus die Kapazitätserweiterung auf der Autobahn kompensiert werden soll.
Im Aktionsplan werden einige Vorschläge genannt, die man in einem Konzept ausgearbeitet hätte, wenn der Rheintunnel gebaut worden wärel: Verbesserungen für Fuss- und Veloverkehr, ÖV-Priorisieriung, Einbahnregimes, Durchfahrtsperren und Temporeduktionen. Konkrete Massnahmen hätte man in drei bis vier Jahren erarbeitet, erklärt Daniel Hofer vom Bau- und Verkehrsdepartement: «Entsprechend gibt es auch keine konkreten Massnahmen, die wir nun verwerfen müssten.» Ein entsprechendes Konzept will man derweil aber weiterhin als Kompensation für den Zubringer Bachgraben ausarbeiten.
Laurent Schüpbach reicht das nicht. Die flankierenden Massnahmen sollten nicht mehr als «Beilage, sondern als Hauptmenü» betrachtet werden.
Gut zwei Drittel der Abstimmenden bei der Frage des Tages klickten derweil auch die Antwortmöglichkeit «weniger Wachstum» an. Denn Wachstumskritik hat auch in der Autobahn-Abstimmung eine Rolle gespielt, wie diverse Politikanalyst*innen (unter anderem Michael Herrmann) noch am Wahlsonntag festhielten.
Schon im Vorfeld der Abstimmung deutete die SVP diese Wachstums- als Zuwanderungskritik – was sich dann auch in den Abstimmungsanalysen Basler Medien widerspiegelte. Neben der Basler Zeitung («Das Nein zum Rheintunnel ist auch ein Nein zur Zuwanderung») und Prime News («Das Nein zum Autobahn-Ausbau zeigt: Die Zuwanderung ist zu hoch») griffen auch wir von Bajour auf, dass das «Zu-Gross-für-die-Schweiz»-Framing der nationalen Nein-Kampagne SVP-Wähler*innen ansprach.
Eine geografische Analyse des Nein-Stimmenanteils konnte dann allerdings nicht feststellen, dass an Orten mit vielen SVP-Wähler*innen besonders viel Nein gestimmt wurde. Und auch Nachbefragungen zeigte, dass die Begründung für die Nein-Entscheidung der Abstimmenden vielmehr die Sorge vor Mehrverkehr und Klimafolgen war. In diesem Sinne interpretiert auch der Allschwiler Grünen-Politiker Ueli Keller das knappe Abstimmungsresultat: «Gefragt ist weniger Verkehr sowie in vieler Hinsicht generell nicht immer noch mehr. Wie wärs mit: Raus aus der Wachstumsfalle?»
«Das Prinzip, jederzeit von der eigenen Wohnung in alle Himmelsrichtungen gefahren zu werden, ist nicht nachhaltig. Wir müssen bescheidener werden.»Stephan Luethi, alt SP-Fraktionschef
Stephan Luethi, alt SP-Fraktionspräsident, versteht darunter «einen anderen Anspruch» an uns als Bürger*innen: «Das Prinzip, jederzeit von der eigenen Wohnung in alle Himmelsrichtungen gefahren zu werden, besser noch in ein eigenes motorisiertes Vehikel steigen zu können, ist nicht nachhaltig. Wir müssen bescheidener werden.» Weniger könne in der Mobilitätspolitik eben zu einem «Mehr an Lebensqualität» werden: «Weniger Lärm, weniger Luftverschmutzung, weniger Dauerstress, weniger Verblechung ganzer Siedlungsgebiete.»
Für seine Vorstellung eines «alternativen Mobilitätsmodus», den wir uns zu überlegen erlauben und Schritt für Schritt umsetzen sollen, hat die Nachhaltigkeitsforschung den Begriff Suffizienz geprägt (Bajour hat das Konzept mal für das Thema Wohnen unter die Lupe genommen). Es lässt sich am besten mit Genügsamkeit übersetzen. Für den Verkehrsbereich würde es also bedeuten, dass Menschen auf Mobilität verzichten – zum Beispiel, indem sie nicht zur Arbeit pendeln, sondern im Home Office arbeiten. Oder weniger konsumieren, womit auch der Güterverkehr sinken würde.
So leben zu wollen, ist eine individuelle Entscheidung. Aber es gibt auch politische Rahmenbedingungen, die Suffizienz fördern. LDP-Grossrat Michael Hug hat jüngst eine Motion eingereicht, damit der Regierungsrat die Umsetzbarkeit einer «10-Minuten-Nachbarschaft» in Basel prüft. Das Konzept der ETH-Wissenschaftlerin Sibylle Wälty besagt, dass in einer Stadt innert 500 Metern alles erreicht werden muss, was man zum Leben braucht: bezahlbarer Wohnraum, Job, Läden, Verpflegung, Freizeit, ÖV-Anschluss. Die Motion wird wohl in der Dezembersitzung behandelt.
«Wie wäre es, wenn man die ganze Bevölkerung abholt und eruiert, was diese braucht. Nicht nur von 52 Prozent der Abstimmenden.»Sacha Lüthi, LDP-Politiker
Zuletzt gab es zehn Prozent der Abstimmenden bei der Frage des Tages, die «Mehr Strassen» als Lösung der Stauproblematik sehen. Kreativität herrscht bei jenen, die mehr Strassen wollen, bisher derweil nicht: Als einzige Möglichkeit zur Problemlösung kommt für Elisabeth Schneider-Schneiter (HKBB-Präsidentin, Mitte-BL-Nationalrätin) und Daniel Seiler (FDP-Grossrat, ACS-Chef) der Rheintunnel infrage, wie Prime News aufzeigt. Der Rheintunnel ist tot, es lebe der Rheintunnel, quasi.
LDP-Politiker Sacha Lüthi führt das bei der Frage des Tages aber auch darauf zurück, dass das Abstimmungsergebnis denkbar knapp war. Die Bedürfnisse der 47 Prozent der Schweizer*innen und 44 Prozent der Basler*innen, die Ja gestimmt haben, würden bei den anderen Kommentierenden keine Rolle spielen, findet Lüthi. Die Nein-Stimmenden repräsentieren schliesslich nicht die gesamte Bevölkerung und «das Lebensmodell von den anderen ist nicht per se falsch». Er wünscht sich, dass man nun die ganze Bevölkerung abholt und deren Bedürfnisse eruiert. «Dann kann man Lösungen bringen, welche nicht am Rechts-links-Geplänkel scheitern.»