Lehre als Erfolgsmodell?
Letztes Wochenende zogen rund 400 Lernende in Basel durch die Innenstadt und forderten bessere Arbeitsbedingungen. Wir haben bei unserer Community und bei Betrieben nachgefragt, ob die Lehre heute noch attraktiv ist.
Lernende klagen über ungleiche und zu geringe Bezahlung, zu wenig Ferien und einen teils wenig wertschätzenden Umgang seitens ihrer Auszubildenden. Die Lernendenvereinigung Scorpio rief daher am letzten Wochenende zu einer Demonstration in Basel auf. Im Vorfeld haben zwei lernende junge Frauen mit Bajour über ihre Beweggründe gesprochen. Kurz darauf fragten wir in unserer Frage des Tages danach, ob die Lehre heute überhaupt noch attraktiv ist. Eine beachtliche Mehrheit unserer Community von 76 Prozent findet: Ja. Die Standpunkte der Auszubildenden und besonders die Forderung nach mehr Lohn stossen nicht immer auf Verständnis.
«Lernende sind Menschen in der Ausbildung, die noch Unterstützung bekommen.»Beatrice Isler-Schmid, Vorstandsmitglied Die Mitte
So ist Beatrice Isler-Schmid, Vorstandsmitglied Die Mitte, bezüglich des Lohns der Meinung, dass der Lehrlingslohn keinesfalls existenzsichernd sein müsse: «Der überwiegend grössere Anteil der Lernenden wohnt noch daheim», schreibt sie und fügt an: «Lernende sind keine Billiglohnarbeitenden, sondern Menschen in der Ausbildung, die noch Unterstützung bekommen.»
Weg in alle Richtungen offen
Dieser Ansicht ist auch Elektro-Installateur Patrick Bossard, der angestellter Leiter Berufsbildung in einem grossen Unternehmen ist. Ihn erstaunt, dass über das Thema so heftig debattiert wird. Denn die jungen Leute würden auch während einer weiterführenden Schule und auch anschliessend keinen Lohn erhalten. Er schreibt: «Hingegen ist man nach der Lehre arbeitsmarktfähig, verdient, gerade im Handwerk, so gut, dass dann ein eigener Haushalt gegründet werden kann und der Weg weiter nach oben in alle Richtungen offen steht.»
«Die Lehre ist für Betriebe ein Erfolgsmodell und eine wichtige Investition in die eigene Zukunft.»Andreas Meier, Stv. Direktor Handelskammer beider Basel
Darauf verweist auch Andreas Meier, Stv. Direktor Handelskammer beider Basel (HKBB): «Jede abgeschlossene Lehre bildet den Start in eine vielversprechende berufliche Zukunft. Die Durchlässigkeit unseres Ausbildungssystems eröffnet vielfältige Möglichkeiten für eine erfolgreiche Karriere», schreibt er. Einige der ehemaligen Lernenden der HKBB hätten die Berufsmaturität erworben, an der Fachhochschule studiert und seien nun «als top ausgebildete Fachkräfte in der Wirtschaft sehr gefragt».
Meier sieht die grosse Stärke einer Lehre im Bezug zur Praxis: «Lernende erleben, was es heisst, in einem Beruf zu stehen, das Gelernte anzuwenden, konkrete Probleme zu lösen, mit unterschiedlichen Ansprechpartnern umzugehen, Teil eines Teams zu sein und Verantwortung zu übernehmen.» Besonders im Hinblick auf den Fachkräftemangel sei die Lehre auch für Betriebe ein Erfolgsmodell und eine wichtige Investition in die eigene Zukunft.
Ein Kollektiv von Lernenden aus allen Branchen hat eine Demo für bessere Bedingungen in der Lehre organisiert. Im Gespräch berichten zwei junge Frauen von Diskriminierung und grossem Druck.
Auch Jelena El Assali von der Stiftung LBB Lehrbetriebe beider Basel, ist der Ansicht, dass die Lehre jungen Menschen «einen idealen Übergang von der Schule in die Arbeitswelt» bietet: «Sie ermöglicht ihnen, schrittweise in den Beruf hineinzuwachsen, theoretisches Wissen direkt in die Praxis umzusetzen und wertvolle Berufserfahrung zu sammeln.» Zudem würden die Lernenden von Anfang an ein eigenes Einkommen erhalten und wichtige soziale sowie fachliche Kompetenzen entwickeln, die ihnen sowohl im Berufsleben als auch persönlich zugutekommen könnten.
Gründe für Lehrabbrüche
Das klingt anders als einige der Lernenden die Situation wahrnehmen. Immerhin brechen 10 bis 13 Prozent der Lernenden ihre Lehre wieder ab. Woran liegt das? Andreas Meier von der HKBB sagt: «Die Gründe für Lehrabbrüche sind so unterschiedlich wie die Jugendlichen selbst. Der Übertritt von der Schule in die Arbeitswelt spielt dabei eine grosse Rolle und sollte seitens Schule und Lehrbetrieb sorgfältig begleitet werden.» Konkret würden die jungen Menschen mit den Anforderungen der Lehre konfrontiert, während sie gleichzeitig mit eigenen Entwicklungsthemen beschäftigt seien.
«Viel mehr Jugendliche brechen ein Gymnasium oder eine FMS ab als eine Lehre.»Patrick Bossard, Elektro-Installateur und angestellter Leiter Berufsbildung
«Manchmal scheitert es aber auch an den eigenen Erwartungen, der Beruf passt einfach nicht oder das Umfeld ist zu wenig unterstützend», so Meier. Bei der HKBB wüssten die Lernenden vom ersten Tag an, dass sie Schwierigkeiten jederzeit mit ihren begleitenden Praxisbildner*innen besprechen können. Oder sich in letzter interner Instanz an den Direktor als obersten Personalverantwortlichen wenden können.
Anlaufstellen bei Problemen
El Assali vermutet, dass auch eine falsche Vorstellung vom gewählten Beruf ein Grund für den Lehrabbruch sein kann: «Jugendliche müssen sich früh für eine Berufslaufbahn entscheiden und erkennen erst im Berufsalltag, dass ihre Wahl möglicherweise nicht die richtige war», sagt sie. Die LBB führt im letzten Lehrjahr immer eine Umfrage durch, um die Zufriedenheit der Lernenden kontinuierlich zu verbessern. Es gebe zudem mehrere Anlaufstellen für Lernende bei Fragen oder Problemen: «Unsere Berufsbildner begleiten die Lernenden nicht nur bei ihrer täglichen Arbeit, sondern unterstützen sie auch fachlich und persönlich. So stellen wir sicher, dass unsere Lernenden in jeder Situation die nötige Unterstützung erhalten.»
«Eine Berufslehre bietet viele Chancen für den beruflichen Aufstieg auf der Karriereleiter.»Daniel Seiler, FDP-Grossrat
Eine so umfassende Betreuung kann wohl kaum in jedem Betrieb gewährleistet werden. Bei Konflikten zwischen den Lehrvertragsparteien kann allerdings die Fachstelle Lehraufsicht helfen. Auch Patrick Bossard verweist darauf, dass die Lehraufsicht bei Verstössen einschreiten kann. Zudem merkt er an, dass in Basel viel mehr Jugendliche ein Gymnasium oder eine FMS abbrechen als eine Lehre. Seiner Ansicht nach sei es vor allem wichtig, das «Erfolgsrezept der Schweiz», sprich die Berufsbildung, zu stärken. Auf das «weltweit einmalige duale Berufsbildungssystem» verweist auch Daniel Seiler: «Eine Berufslehre bildet die solide Basis für die berufliche Weiterentwicklung und bietet viele Chancen für den beruflichen Aufstieg auf der Karriereleiter», findet der FDP-Grossrat.
Änderung der Traditionen
Bajour-Leser Peter Sidler allerdings sieht die Anliegen der Lernenden als «wichtig und berechtigt» an. Denn die Auszubildenden würden im Vergleich mit den FMS- und Gym-Schüler*innen «zwei komplett verschiedene Schul- und Arbeitskulturen» erleben: «Die Kälte, Härte und Länge eines Lernenden-Tages ist nicht zu vergleichen mit dem wertschätzenden Klima während eines Schultages.» Aus seiner Sicht können sich Schüler*innen gesehen und ernst genommen fühlen, was auf Lernende viel weniger zuträfe. Sidler schreibt: «Es braucht keine Image-Kampagne für die Lehre, sondern die Änderung von jahrzehntelangen Lehr-Traditionen.»
In unserer Frage des Tages haben wir darüber disutiert, ob die Lehre heute noch attraktiv ist. Wie ist deine Meinung?
Dafür spricht auch die Umfrage der Gewerkschaft Unia unter den Lernenden. Die Mehrheit von ihnen gab an, während der Arbeit unter Stress zu leiden und sich nach der Arbeit erschöpft zu fühlen. 92,4 Prozent empfinden Stress am Arbeitsplatz, 53,2 Prozent von ihnen häufig oder immer. Mehr als die Hälfte der Lernenden gab in der Umfrage an, mehr als neun Stunden pro Tag zu arbeiten, was über dem gesetzlichen Rahmen liegt. Ein Viertel von ihnen überschreitet diese Stunden wöchentlich, wie SRF berichtet. Weil mehr als die Hälfte der Befragten angab, dass ihr Betrieb noch nie vom Amt für Berufsbildung kontrolliert worden sei, resümiert Unia, dass es in den Lehrbetrieben an Aufsicht durch die Behörden fehle.
Aus Sicht von Scorpio gibt es nach wie vor Luft nach oben, was die Arbeitsbedingungen in der Lehre angeht. Wie Sandra Eichenberger, Leiterin Kommunikation im Erziehungsdepartement (ED), zu Bajour sagt, sei die Attraktivität der Lehre ein «zentrales Anliegen» im ED. Patrick Bossard lobt Erziehungsdirektor Mustafa Atici, noch kein halbes Jahr im Amt, schon heute, weil er etwas unternehme, um das «Erfolgsrezept der Schweiz, die Berufsbildung, zu stärken». Die Erwartungen, dass der Lehrberuf wieder attraktiver wird, sind offensichtlich vorhanden und Atici wird auch daran gemessen werden, ob ihm das in den kommenden Jahren gelingt.