Mut zur Verletzlichkeit
Was sich diese Woche in der Bundespolitik abspielt, spiegelt eins zu eins ein gesellschaftliches Ringen. Das Ringen um mehr Verletzlichkeit in Führungspositionen. Ein Kommentar.
Was sich diese Woche in der Bundespolitik abspielt, spiegelt eins zu eins eine gesellschaftliches Ringen, das auch du und ich vielleicht im Alltag spüren.
Was ist eine gute Führungsfigur? Wie verfügbar muss sie sein? Wie verletzlich darf sie sein?
Angefangen hat das Ringen mit Simonetta Sommaruga, die hinstand und sagte: «Ich trete zurück.» Sie sortiert ihr Leben nach dem Schlaganfall ihres Mannes neu. Sie zeigt: Manchmal kommt, plakativ gesagt, die Liebe vor der Karriere. Im traditionellen Führungsverständnis, bei dem unaufhörliches Leisten und emotionales Aushalten als einzige Art gilt, wird einem das als Schwäche ausgelegt. Grad darum ist Verletzlichkeit bei Mächtigen auch eine Stärke: Man schwimmt gegen den Strom.
Dann kam die Diskussion um die Vereinbarkeit im Bundesrat – losgetreten von der SP-Spitze, die nicht nur ein Frauenticket, sondern auch familienfreundlichere Strukturen in der Regierung vorschlägt. Und sofort kam die Frage in der Öffentlichkeit auf: Geht das, Mutter kleiner Kinder und Bundesrätin sein?
Wir von Bajour drehten den Spiess in unserer Frage des Tages am Dienstag um und fragten: Kann ein guter Bundesrat ein guter Vater sein?
Wir wollten hier nicht die Rabenelternkarte ausspielen, sondern darüber nachdenken: Kann man sich auf seine Kinder einlassen, für sie sorgen, wenn man 24/7 für das Land da ist?
Das Verdikt von Euch, liebe Bajour-Leser*innen, hat mich überrascht. 47 Prozent sind der Überzeugung: Das geht. Mit der richtigen Unterstützung. So plädiert beispielsweise der Unternehmer Hannes Gassert dafür, dass man das Amt reformiert und neun Departemente einführt. Interessant auch der Austausch zwischen Doris Singer und Philipp Whitefield.
Ich selbst bezweifle das. Da ich glaube: Das Amt ringt einem eine Härte, eine Leistungsbereitschaft ab, die einem manchmal das Herz verschliesst für seine Familie. Nicht aus Bosheit, sondern weil der Marathon anders nicht zu leisten ist. Kinder erfordern eine gewisse Offenheit, die mit Verletzlichkeit einhergeht. Als Bundesrat kann man sich Verletzlichkeit nicht leisten.
Aber: Ich wünsche mir Landeseltern, die sich Herz und Verletzlichkeit erlauben. Die braucht es, um gute Chef*innen zu sein. Viele wünschen sich das, glaube ich. Daher hat Simonetta Sommarugas Rücktrittsrede so berührt.
Oder wie Wirtschaftsjournalistin Olivia Kühni über Personen in Machtpositionen schreibt: «Ständige Präsenz, Kontrolle, individuelle Machtdemonstration werden weniger wichtig – stattdessen zählen Organisation, Teamarbeit, Vertrauen und gemeinsame Ergebnisse mehr. Das bevorzugt bestimmte Menschen – darunter, ja, gerade junge, erwerbstätige Mütter, die supergut in Organisation, Teamarbeit und Vertrauen sind, sonst wären sie weg vom Fenster. Und es benachteiligt andere.» Nämlich die, deren Stärke uneingeschränkte Präsenz war.
Entlarvend offen Präsenz gezeigt hat Daniel Jositsch an seiner eigenen Pressekonferenz. Er hat ganz deutlich gemacht, dass er schon gerne Bundesrat wäre und es schon diskriminierend findet, dass die SP-Spitze zwei Frauen vorschlagen will. Für den SP-Sitz, den bisher eine Frau (Sommaruga) hatte. Ich schrieb am Nachmittag spontan (und ich gebe es zu, ein wenig empört) einem Politnerd meines Vertrauens: «Tut sich Jositsch einen Gefallen damit? Ich mein, ich als Bürgerin will doch keine Leaderfigur, die dermassen offensichtlich das Ego über die Frauen und die Parteikolleg*innen stellt?»
Mh, vielleicht hat Jositsch sich doch verletzlich gezeigt bei dieser ganzen Sache. Da sprach ziemlich viel verletzter Stolz aus seinem Auftritt. Aber ich denke, er wollte nicht verletzlich wirken. Und das ist der Punkt: Ich glaube, es gibt immer mehr Menschen, welche Politiker*innen mehr Vertrauen aussprechen, die auch mal bewusst Schwäche zeigen. Doch der Prozess dahin hat erst angefangen.