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Kommentar

Gebt uns echten Mutterschutz!

Schwangere, die vor der Geburt aussetzen müssen, sind auf eine Krankschreibung angewiesen. In der Schweiz beginnt der Mutterschutz erst, wenn das Kind schreit. Autorin Ina Bullwinkel begrüsst deshalb einen EVP-Vorstoss für einen kantonalen Mutterschutz, sagt aber: Das ist nicht genug.

02/22/22, 10:42 AM

Aktualisiert 02/22/22, 11:03 AM

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Mutter und Kind müssen bereits vor der Geburt geschützt werden, findet Ina Bullwinkel.

Mutter und Kind müssen bereits vor der Geburt geschützt werden, findet Ina Bullwinkel. (Foto: Unsplash)

Es gibt in der Schweiz keinen Mutterschutz, wie frau es aus anderen europäischen Ländern kennt: vor der Geburt. Theoretisch arbeiten die Schwangeren hierzulande bis zur Entbindung. In der Praxis passiert das nicht oft, die meisten lassen sich nach eigenem oder ärztlichen Ermessen einige Wochen vorher krankschreiben. Die Verantwortung, wann sie sich und ihr Ungeborenes schützen wollen, liegt bei den Gebärenden.

Eins vorweg: Ich bin momentan selbst schwanger, daher betrifft mich das Thema Geburt gerade besonders.

Gute, medizinische Gründe

Wenn mich Verwandte und Freunde aus Deutschland, wo ich sozialisiert wurde, fragen, wann denn mein Mutterschutz beginne, muss ich erst einmal erklären. «Das ist hier etwas anders», hole ich aus.. Mein Gegenüber reagiert jeweils relativ fassungslos, wenn ich sage: Der Mutterschutz beginnt hier erst nach der Geburt. Mit 14 Wochen ist dieser dazu recht knapp angesetzt. Viele Mütter bleiben daher länger unbezahlt zu Hause. Auf Kosten ihrer Rente, aber das nur nebenbei.

Für mich war es ein mittelschwerer Schock zu realisieren, dass sich schwangere Frauen in der Schweiz irgendwann selbst entscheiden müssen, ob sie weiterarbeiten. Das klingt jetzt so, als würden manche einfach beschliessen: «Ich hab keine Lust mehr, tschüss». Dass es genügend medizinische Gründe gibt, ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu arbeiten, scheint bei vielen Entscheidungsträger*innen nicht im Bewusstsein verankert zu sein.

Auch die mentale Vorbereitung sollte nicht unterschätzt werden. Das alles ist wichtig für eine sichere und selbstbestimmte Geburt.

Zwingende Gründe für Mutterschutz sind schwere Schwangerschaftsbeschwerden, Tätigkeiten, die dem Baby schaden oder, in sehr kritischen Fällen, in denen eine Frühgeburt droht. Laut einer Studie kann Mutterschaftsurlaub in der Spätschwangerschaft bei Vollzeit arbeitenden Frauen dazu führen, dass die Geburt später eintritt und Kaiserschnittgeburten verhindert werden. Der eigentliche Geburtsprozess beginnt ausserdem schon viele Tage, manchmal Wochen vor der Entbindung. Der Körper schaltet bereits um auf Geburt und braucht Ruhe und Energie. Auch die mentale Vorbereitung sollte nicht unterschätzt werden. Das alles ist wichtig für eine sichere und selbstbestimmte Geburt.

Damit argumentiert auch EVP-Grossrat Christoph Hochuli, der in einem Vorstoss fordert, in Basel einen vorgeburtlichen Mutterschutz von drei Wochen einzuführen – analog zur Stadt Luzern. Linke, GLP und Mitte haben den Anzug mitunterzeichnet. Darin schreibt Hochuli, Hebammen, Gynäkolog*innen und Pflegefachpersonen im Wochenbett seien sich einig, für den Geburtsverlauf und die Gesundheit von Mutter und Kind sei entscheidend, ob sich Schwangere mit möglichst wenig physischem oder psychischem Stress auf die Geburt vorbereiten konnten. Dieser Satz ist nahezu identisch zum Vorstoss von Flavia Wasserfallen (SP) auf Nationalratsebene. Ihr Vorstoss ist hängig, der Bundesrat aber dagegen, weil zu teuer. Wasserfallen und auch Hochuli betonen, ein fixer Mutterschutz würde den Arbeitgeber*innen zudem Planungssicherheit geben.

Zur Person

Zur Person

Christoph Hochuli ist Vizepräsident der EVP Basel und gehört im Grossen Rat der Mitte/EVP-Fraktion an. Seit dem 1. Februar 2021 sitzt der im Grossen Rat, beruflich ist er als Polizist tätig.

In einem modernen Land wie der Schweiz sollte der Schutz von allen werdenden Müttern und ungeborenen Kindern gesetzlich geregelt und nicht der Grosszügigkeit eines*einer Gynäkolog*in oder dem good will des*der Arbeitgeber*in überlassen sein. Eine einheitliche Regelung für alle wäre nur fair. Mutterschutz beginnt schon lange vor der Geburt, das sollte auch der Staat anerkennen. 

In unseren Nachbarländern sieht es ganz anders aus. In Deutschland gibt es einen sechswöchigen (vorgeburtlichen) Mutterschutz, in Frankreich auch, in Österreich sogar acht Wochen, aber in der Schweiz: 0. Die Schweiz ist das einzige Land in Europa ohne Mutterschutz vor der Geburt. Dazu kommt, dass der bezahlte Mutterschaftsurlaub erst 2005 auf Bundesebene eingeführt wurde.

Das jetzige System funktioniert doch, oder?

Die bürgerlichen Gegner*innen des vorgeburtlichen Mutterschutzes finden, es brauche die Regelung nicht, da die meisten Frauen ja dank Krankschreibung sowieso nicht mehr in den Wochen vor errechnetem Geburtstermin arbeiten würden. Auch Saskia Schenker, Direktorin vom Arbeitgeberverband Basel-Stadt, meint, es sei schon jetzt alles gut abgedeckt. Der Bundesrat argumentiert ausserdem, unter befragten Frauen hätten die meisten lieber einen längeren Mutterschutz nach der Geburt als davor.

Das aber wohl auch, weil der Mutterschaftsurlaub nicht besonders lang ausfällt. Wenn ich mich entscheiden müsste, würde ich auch die freie Zeit mit Kind verlängern.

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Für mich zeigt die Debatte, wie sehr eine staatliche Regelung gebraucht wird. Die Frauen müssen sich momentan den Schutz selbst nehmen, der Staat schützt sie nicht. Nicht jede hat eine*n verständnisvolle*n Arbeitgeber*in, mit dem*der man sich auch nach der Geburt gut stellen muss; manche wollen gern bis zum Schluss durchhalten; andere können vielleicht gar nicht selbst einschätzen, ob ihnen eine frühere Auszeit gut getan hätte.

Meine Hebamme sagte mir, viele Ex-Schwangere würden bereuen, sich nicht früher «rausgenommen» zu haben. Eine Geburt ist kein Spaziergang, das Wochenbett auch nicht und die Zeit danach ebenso wenig. Die Frauen bereuen, nicht mehr Kraft geschöpft, nicht mehr auf ihren Körper gehört zu haben. Nach der Geburt steht Selfcare bei vielen Müttern auch nicht an erster Stelle. Vor allem nicht, wenn es keine Elternzeit gibt und die Care-Arbeit immer noch grösstenteils an ihnen hängen bleibt. Es ist Zeit für einen Mutterschutz, der den Namen verdient.

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