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«Eine Erbschaftssteuer wäre am wirksamsten»

Am 26. September stimmt die Schweiz über die 99-Prozent-Initiative ab. Die Ökonomin Isabel Martínez erklärt im Interview, weshalb eine Erbschaftssteuer effizienter wäre, um Vermögensungleichheit zu bekämpfen.

09/20/21, 10:10 AM

Aktualisiert 09/20/21, 11:23 AM

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Eine Erbaschaftssteuer wäre der direktere Weg, um gegen die ungleiche Vermögensverteilung anzugehen, findet Isaebl Martinez. (Bild: Unsplash)

Eine Erbaschaftssteuer wäre der direktere Weg, um gegen die ungleiche Vermögensverteilung anzugehen, findet Isaebl Martinez. (Bild: Unsplash) (Foto: Vita Vilcina via Unsplash)

Dieser Artikel ist zuerst am 19. September 2021 in das Lamm erschienen. Das Lamm gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

In einer Woche stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die 99-Prozent-Initiative ab. Laut Initiativkomitee soll damit vor allem die Vermögensungleichheit in der Schweiz bekämpft werden. Wir haben mit der Ökonomin Isabel Martínez darüber gesprochen, warum die Ungleichheit so gross ist und wie sie am besten zu bekämpfen wäre.

Das Lamm: Sie forschen seit Jahren über Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Schweiz. Was können Sie beobachten?

Isabel Martínez: Die Einkommensungleichheit in der Schweiz ist über die letzten 100 Jahre relativ stabil geblieben. Jüngst gibt es einen leichten Anstieg, der auf die allerhöchsten Einkommen zurückzuführen ist. In Bezug auf die Einkommensungleichheit und die Entwicklung der Top-Einkommen liegt die Schweiz international im Mittelfeld.

Anders sieht es jedoch bei der Vermögensungleichheit aus. Diese ist in allen Ländern höher als die Einkommensungleichheit, aber die Schweiz weist international gesehen eine hohe Vermögensungleichheit auf. Wiederum war hier der stärkste Anstieg bei den höchsten Vermögen zu beobachten. 

Was sind die wichtigsten Faktoren für diese Entwicklung?

Wir können nicht abschliessend erklären, welches die Gründe hierfür sind. Klar spielt die Globalisierung eine Rolle, von welcher bestimmte Gruppen stärker als andere profitieren, oder etwa die expansive Geldpolitik der letzten zehn Jahre. 

Für die höchsten Einkommen spielt in der Schweiz seit den 90er-Jahren wohl auch die sogenannte „anreizkompatible Vergütung“, die Praxis der Auszahlung von individuellen Boni, eine grosse Rolle. Diese Praxis nahm ihren Anfang in den USA und schwappte in den Schweizer Finanzsektor über. Inzwischen ist diese Praxis in den meisten Branchen gang und gäbe und trägt zur Einkommensungleichheit bei.

Wie sieht es bei den Vermögen aus?

In Bezug auf die ansteigende Vermögensungleichheit haben in der Schweiz die Erbschaften eine essenzielle Rolle gespielt. Die Bilanzdaten der 300 „Superreichen“ in der Schweiz zeigen, dass es sich bei über 80 Prozent der Schweizer:innen um Erb:innen handelt. Bei ausländischen Staatsangehörigen auf dieser Liste ist die Anzahl der Erb:innen mit knapp 70 Prozent zwar geringer, aber ebenfalls hoch.

Kann die 99-Prozent-Initiative als steuerpolitische Massnahme dieser Entwicklung entgegenwirken?

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wäre natürlich eine Erbschaftssteuer am wirksamsten – nun hat die 99-Prozent-Initiative aber nichts mit Erbschaften zu tun. Aus ökonomischer Sicht wäre die Einführung einer Erbschaftssteuer aber viel effizienter. Denn Erbschaften erhält man, ohne jegliche Leistung erbracht zu haben. Mit der 99-Prozent-Initiative wird hingegen zur Kasse gebeten, wer sein Vermögen produktiv einsetzt, während reiner Konsum aussen vor gelassen wird.

Können Sie dies genauer erläutern?

Nehmen wir an, wir beide besitzen 50 Millionen Franken. Ich kaufe mir mit meinen 50 Millionen Franken ein Anwesen und mache es mir dort gemütlich – grob gesagt betrifft mich dann die 99-Prozent-Initiative eigentlich nicht. Sie hingegen investieren Ihre 50 Millionen Franken in Start-ups, die – ich formuliere es extra etwas überspitzt – erfolgreich Produkte entwickeln, die auf das Wohl von Mensch und Planet fokussieren. Dann zahlen Sie im Rahmen der Initiative im Gegensatz zu mir Steuern auf Ihre Kapitaleinkommen. Das Gedankenspiel zeigt auch, dass man so die Vermögensungleichheit nur indirekt angeht.

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Was wäre denn der direktere Weg?

Wie schon erwähnt ist meiner Meinung nach eine Erbschaftssteuer am sinnvollsten, wenn man Vermögensungleichheit bekämpfen will – zusammen mit der Vermögenssteuer, die in der Schweiz schon existiert.

Zwar könnte auch eine extrem progressive Einkommenssteuer eingeführt werden, um Ungleichheit zu reduzieren. Laut Lehrbuch laufen sehr progressive Einkommenssteuern aber Gefahr, dass sie Leistungsanreize schwächen. Weshalb sollte ich noch 60 Stunden pro Woche arbeiten, wenn ich am Schluss dasselbe habe, wie wenn ich 20 Stunden gearbeitet hätte? Das Ausmass dieser Anreizwirkung ist jedoch unklar. Sicherlich reagieren die Menschen auf Steuern, aber die Realität ist komplexer und vielschichtiger. Es zählen nicht nur Steuern. Und es reagieren nicht alle gleich.

Gibt es Studien hierzu?

Es ist grundsätzlich schwierig, hierzu saubere empirische Studien anzustellen. Die Steueränderung muss einerseits genügend gross und für die Leute verständlich sein. Zudem müssen andere wichtige Bedingungen berücksichtigt werden. Bei grossen Steueränderungen handelt es sich meist um umfangreiche Programme. Eine höhere Besteuerung könnte etwa mit einer Verbesserung des Kinderbetreuungsangebotes einhergehen, was wiederum einen positiven Anreiz auf das Arbeitsangebot hat. 

Wir selbst untersuchten in einer Studie während einer Bemessungslücke Ende der 90er-Jahre im Zuge der Umstellung von der damaligen Vergangenheits- zur gängigen Gegenwartsbemessung in der Schweiz eigentlich das Umgekehrte. Dabei handelte es sich um eine zwar nur vorübergehende, aber sehr grosse Steuersenkung – das Einkommen wurde während ein bis zwei Jahren de facto nicht besteuert – aber die Reaktion auf dem Arbeitsmarkt lag praktisch bei null. Allerdings handelte es sich nur um eine temporäre Steuersenkung. Andere Studien finden, dass Zweitverdiener:innen und Junge stärker auf Steuererhöhungen reagieren als Arbeitnehmende, die gut im Arbeitsmarkt integriert sind.

Zudem konnte beobachtet werden, dass Personen mit hohen Einkommen und Vermögen sehr wohl auf grosse Steueränderungen reagieren — unter anderem, indem sie versuchen, ihre Steuern kurzfristig zu optimieren und zum Beispiel Einkommen vom einen ins andere Steuerjahr verschieben.

Zur Person

Zur Person

Isabel Martínez ist Postdoc an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich. Sie forscht zu Einkommens- und Vermögensungleichheit in der Schweiz und steuert regelmässig Daten zu Top-Einkommen und Vermögen in der Schweiz zum Netzwerk WID.world bei, das globale Ungleichheit erforscht. Sie ist zudem Mitglied der Schweizerischen Wettbewerbskommission WEKO, wo sie den Schweizerischen Gewerkschaftsbund SGB vertritt. (Foto: Florian Bachmann)

Was bedeutet dies in Bezug auf die 99-Prozent-Initiative?

Eine Initiative, welche das Steuersystem komplizierter macht – und dies ist bei der 99-Prozent-Initiative der Fall – läuft immer Gefahr, Steueroptimierung zu begünstigen. Und davon profitieren in erster Linie die Reichen.

So schafft die Initiative einen Unterschied zwischen Kapital- und Arbeitseinkommen. Es spielt plötzlich eine Rolle, woher das Geld kommt und ich fange mir beispielsweise an zu überlegen, ob ich nicht besser einen Teil meines Kapitaleinkommens als Lohn ausweisen könnte.

Noch viel wichtiger scheint mir im vorliegenden Fall aber der Umgang mit Kapitalgewinnen. Die Schweiz kennt im Gegensatz zu vielen anderen Ländern bis anhin keine Kapitalgewinnsteuer, weil sie Vermögen bereits versteuert. Im internationalen Vergleich haben nur wenige Länder eine Vermögenssteuer. Dies folgt einer einfachen Logik: Entweder man versteuert das Vermögen oder den realisierten Kapitalgewinn. Wir versteuern über unsere Vermögenssteuer die Kapitalgewinne eigentlich jedes Jahr schon indirekt, und zwar völlig unabhängig davon, ob sie realisiert wurden oder nicht.

Was heisst dies konkret?

Wenn mein Aktienpaket an Wert gewinnt, zahle ich in der Schweiz Vermögenssteuer darauf, unabhängig davon, ob ich dieses Paket verkauft habe oder nicht. In den USA, wo Kapitalgewinne versteuert werden, zahle ich diese Einkommenssteuer nur, wenn ich den Gewinn durch den Verkauf des Aktienpakets auch tatsächlich realisiere.

Mit der 99-Prozent-Initiative würden diese realisierten Kapitalgewinne auch in der Schweiz als Einkommen besteuert werden und dies verkompliziert das Steuersystem. Denn: Wenn wir realisierte Kapitalgewinne besteuern, müssen wir konsequenterweise realisierte Kapitalverluste abzugsfähig machen. Bei der Unternehmenssteuer ist dies der Fall.

Sogenannte Verlustvorträge erlauben es, in einem Jahr angehäufte Verluste mit den Gewinnen späterer Jahre zu verrechnen und somit die Steuerprogression zu glätten. Und diesem legalen Steuertrick ist auch zu verdanken, dass Donald Trump über Jahre keine Einkommenssteuer bezahlt hat. Sie sehen: Diese Situation schafft ein riesiges Steueroptimierungspotential.

Die Initiative könnte also die unerwünschte Wirkung haben, dass mehr Geld am Fiskus vorbeigeschleust wird?

Ganz ehrlich, diese Initiative würde ja lediglich Leute mit hohen Vermögen treffen. Vorgeschlagen sind Vermögenseinkommen ab 100’000 Franken – um solche Einkünfte zu erzielen, müsste man über ein Vermögen von 3 Millionen oder mehr verfügen. 

Es würde mich aber nicht wundern, wenn bei Annahme der Initiative unser bürgerliches Parlament bei der Umsetzung die Grenze weiter oben ansetzen würde, sodass sie bei weniger Steuerpflichtigen greift, als von den Initiant:innen beabsichtigt. 

«Die Diskussion um die Doppelbesteuerung finde ich total hinfällig. Die Erb:innen, die Nutzniesser:innen dieses Vermögens, die nichts dafür tun mussten, müssen keinen Rappen zahlen.»

Die effektive Wirkung der Initiative scheint also gering. 

Wahrscheinlich wären die eigentlichen Gewinner:innen dieser Initiative die Steuerberater:innen. In den USA beispielsweise konnte beobachtet werden, wie solche Steuerreformen vermehrt Steuerberater:innen aufs Tapet brachten. Eine Untersuchung in Chile hat gezeigt, dass die Umsetzung von OECD-Richtlinien ein Steuerberatungsbusiness ins Leben rief, das dort zuvor gar nicht existierte.

Trotz womöglich geringer effektiver Wirkung argumentieren die Gegner:innen der Initiative, dass eine Besteuerung der Vermögenseinkommen über 100’000 CHF zu 150 Prozent unfair sei. Es würden damit Einkommen besteuert, welches gar nie realisiert worden sei. 

Die Gegner:innen machen sich hier den marketingtechnisch eher schlecht formulierten Kampagnentext zunutze. Die Formulierung 150 Prozent mag zwar konfiskatorisch klingen, ist es aber in keiner Weise. Es handelt sich letztlich um eine Erhöhung des Steuersatzes, wie es bei progressiven Steuern immer der Fall ist. 

Zudem wenden wir dasselbe Konzept in der Schweiz auf die „privilegierte Dividendenbesteuerung“ an – einfach umgekehrt. Die privilegierte Dividendenbesteuerung kommt zum Zug, wenn ich 10 Prozent oder mehr Beteiligung an einem Schweizer Unternehmen habe.

Das heisst: Anstatt die 10’000 Franken ausgeschütteten Dividenden müssen bei einer privilegierten Dividendenbesteuerung von 80 Prozent nur 8’000 Franken versteuert werden. Der effektive Steuersatz auf die 10’000 Franken fällt also geringer aus, als wenn es sich zum Beispiel um Arbeitseinkommen handeln würde. Der Bund und Kantone haben dies 2009 eingeführt mit der Begründung, dass der Gewinn des Unternehmens bereits versteuert wurde, weshalb die Einkommenssteuer auf Dividenden abgeschwächt werden soll.

Das Argument der Doppelbesteuerung wird ja auch immer wieder von Gegner:innen einer Erbschaftssteuer, die sie vorschlagen, aufgeworfen – das Erbe sei ja bereits mit der Einkommenssteuer besteuert worden.

Die Diskussion um die Doppelbesteuerung finde ich total hinfällig. Die Erb:innen, die Nutzniesser:innen dieses Vermögens, die nichts dafür tun mussten, müssen keinen Rappen zahlen. 

Was man einfach sehen muss: Eine Erbschaftssteuer wäre sinnvoll, um Ungleichheit zu reduzieren, indem sie über längere Zeitspannen einen Ausgleich schaffen könnte – ein Teil des Vermögens würde von den Reichsten abfliessen. Zudem wäre sie effizient, weil sie Leistungsanreize kaum tangiert.

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