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Kein Spielzeug: Noahs Grosi und LKW-Fahrerin Sandra Bircher fährt mit grösserem Geschütz.

Noah und sein Lastwagen-Grosi

Wie geht es den Grosseltern, die trotz Corona-Warnungen ihre Enkel hüten?

Im letzten Herbst wurde bei Noah* im Kindergarten das Thema Briefe und Pakete behandelt. Für den Fünfjährigen ein Heimspiel: Seine Grossmutter, Sandra Bircher *, transportiert beruflich Pakete. Nicht mit Elektroroller oder Lieferwagen, nein: Grossmama Bircher fährt die ganz grossen Brummis. Lastwagen bis zu 40 Tonnen. Und jetzt, während Corona, sitzt Noah manchmal neben ihr im Führerstand. Ein junger Assistent mit Schuhgrösse 31.

Bircher gehört zu den Grossmüttern, die auch während der Corona-Pandemie ihr Enkelkind hüten. Entgegen der Empfehlung des Bundesrats.

Die Nachricht des Corona-Delegierten Daniel Koch an der Medienkonferenz vom 5. März war unmissverständlich. Es sei derzeit nicht sinnvoll, die Enkelkinder von den Grosseltern hüten zu lassen, sagte er. «Wir müssen alles tun, um die Älteren zu schützen.» Damit fiel jedoch für unzählige Eltern ein Pfeiler der Kinderbetreuung weg: Fast jede zweite Grossmutter hütet einmal pro Woche das Enkelkind, bei den Grossvätern ist es jeder Dritte. Das zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik.

Am 13. März spitzte sich die Situation zu: Der Bund gab bekannt, dass die Schulen und Kindergärten wegen Corona geschlossen werden. Die Handhabung der Kitas war den Kantonen überlassen. In Basel blieben die Kindertagesstätten zwar offen, jedoch nur für Kinder, deren Eltern in systemrelevanten Berufen arbeiten. Die Devise war klar: Die Kinder sollten wenn immer möglich zu Hause betreut werden. Nur: Wer kümmert sich um die Kleinen, wenn die Eltern gleichzeitig im Home-Office sind? Was, wenn man alleinerziehend ist? In einem selbständigen Beruf arbeitet?

«Ich bin jung und gehöre nicht zur Risikogruppe.»
Sandra Bircher*, Grossmami und LKW-Fahrerin.

Sandra Bircher weiss um die Diskussionen. Und sie weiss auch, dass sich manche enervieren über die angeblich sorglosen Senioren und Seniorinnen. In den Kommentarspalten im Netz liest man davon, wie «egoistisch» und «unsolidarisch» sich Grosseltern verhielten, die weiter ihre Enkelkinder hüten. «Aber ich halte die Hygienemassnahmen immer ein», sagt Bircher am Telefon. «Und vor allem: ich bin jung und gehöre nicht zur Risikogruppe.» Sie ist 56 Jahre alt und kerngesund, wie sie von sich sagt.

Die Risikogruppe ist in der Familie Bircher eine Generation weiter oben angesiedelt. «Meine Mutter wurde vor zwei Wochen 80 Jahre alt. Ich stand mit meiner Tochter und Noah auf der Strasse, die Mutter stand unter der Tür und wir sangen ihr ein Geburtstagslied.» Wenn sie ihren Eltern etwas vorbeibringen muss, trägt sie Maske. «Ich bin vorsichtig, aber ich habe keine Paranoia», sagt die 56-Jährige. Man müsse das Risiko abwägen.

Kein typisches Grossmami

Bircher hat keine Mühe, sich neuen Situationen zu stellen. Sie erzählt, wie sie die letzten 20 Jahre im Büro sass. Buchhaltung, Steuern, Treuhand, solche Sachen. Vor sieben Jahren wurde an ihrem Arbeitsplatz umstrukturiert und sie musste über die Klinge springen. Parallel dazu zog die zweite Tochter aus und kurz darauf wurde sie von ihrem langjährigen Partner verlassen: «Ich sass zuhause und dachte mir: Jetzt ist alles weg.» Dann entschied sie sich, das LKW-Billett zu machen. Schon zuvor war sie oft mit einem Kollegen in dessen Lastwagen unterwegs. Sie merkte: Die Freiheit im Führerstand ist ansteckend. «Es macht mir einfach Freude, unterwegs zu sein, ich will nicht die ganze Zeit nur am Schreibtisch sitzen.»

«Ich bin vorsichtig, aber ich habe keine Paranoia.»
Sandra Bircher*, Grossmami und LKW-Fahrerin.

Jetzt fährt die Baslerin mehrmals in der Woche mit dem Roller zum LKW-Stützpunkt rüber, holt den LKW und fährt damit in den Postbahnhof, wo sie Paketpost holt und an Postfilialen ausliefert. Und manchmal wird sie dabei nun eben von Noah begleitet. «Der Kleine hat Freude daran», erzählt die 56-Jährige. «Er ist begeistert von allem was Räder hat. Manchmal schaut er stundenlang dem Verkehr zu.» Bircher wohnt in der Nähe des Bruderholzspitals, besonders angetan haben es Noah deshalb die Krankenwagen.

Auch vor Corona übernahm Bircher manchmal Hütedienst. Ihre Tochter ist alleinerziehend und hat eine Stelle im Verkauf mit unregelmässigen Arbeitszeiten. Und Noah leidet seit ein paar Wochen an einem chronischen Husten. «Nichts Ansteckendes», wie Bircher betont, aber der Kindergarten schickte ihn schon vor Corona nach Hause.

Auch bei der Tagesmutter, bei der Noah schon länger ist, war Noah nicht erwünscht. Die anderen Eltern hätten sich besorgt gezeigt. Bircher erzählt mit trockenem Humor, wie sich ihre Tochter irgendwann im März bei ihr meldete: «Sie rief mich an und sagte mir, ‹ich halte es nicht mehr aus, ich schmeiss den Kleinen bald aus dem Fenster.›» Die 56-Jährige lacht. Das war natürlich übertrieben. Man muss die Dinge so nehmen wie sie sind. Und manchmal bleibt halt nichts anderes als Galgenhumor.

Irgendwie muss es ja gehen

Ein Einzelfall ist Bircher nicht. Die Situation rund um die Kinderbetreuung sorgte bei vielen Familien für Verunsicherung. In der Gärngschee-Facebookgruppe erzählten zahlreiche Eltern, wie sie in Corona-Zeiten versuchen, gleichzeitig Beruf, Kinder und Erholung unter einen Hut zu bringen, während die ganze Welt sich in einem Zustand der Schockstarre befindet. Der Tenor lautet: Irgendwie muss es ja gehen.

Einige berichten über unflexible Arbeitgeber, andere wiederum zeigen sich dankbar über das Entgegenkommen ihrer Chefs. Und Dritte, wie Raffaela Hartmann, müssen auf die Grosseltern zurückgreifen: Weil es keine andere Möglichkeit gebe.

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Bei Alleinerziehenden ist das Stresslevel besonders hoch. Bircher weiss von ihrer Tochter: «Irgendwann kommt man als alleinerziehende Mutter an seine Grenzen.» Sie springt gerne ein. Und ist es sich von Berufs wegen gewohnt, mit wenig Schlaf auszukommen. Sechsmal pro Woche hat Bircher Frühschicht: Dann steht sie um halb 4 Uhr auf, fährt mit dem Roller zum LKW-Stützpunkt und setzt sich dort ans Steuer. «Früh aufstehen hat mich nie gestört, man hört die Vögel pfeifen, die Strassen sind verwaist. Man verpasst etwas, wenn man lange schläft.» Der chronische Husten von Noah habe sich gebessert, erzählt Bircher ein paar Tage später am Telefon, er sei jetzt wieder gesund. Eigentlich könnte er jetzt wieder zur Tagesmutter, aber das Leben auf der Strasse ist für den Fünfjährigen spannender. Dann niest Bircher am Telefon, die Verbindung wird unterbrochen. «Tut mir Leid», meldet sie sich kurz darauf, «ich habe dich aus Versehen aus der Leitung geworfen. Eine neue Form von Social Distancing!»

*Namen geändert

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