«Chancengleichheit gibt es nicht»
An der Gesamtkonferenz der Basler Volksschulen ging es um Stolpersteine, die Schüler*innen überwinden müssen. Zu oft gelingt das nicht und sie erlangen keinen Abschluss. Bildungsexperte und Baselbieter Landrat (Mitte) Pascal Ryf ordnet ein.
In Basel haben 15 Prozent aller 25-Jährigen keinen Abschluss auf der Sekundarstufe II. Wie steht Basel im schweizerischen Vergleich da?
Basel-Stadt ist nach Genf auf dem zweitletzten Platz. Am besten stehen die Kantone in der Innerschweiz da, dort liegt die Zahl der Schülerinnen und Schüler ohne Abschluss bei rund fünf Prozent. In Appenzell Innerrhoden beenden sogar 99 Prozent aller Schülerinnen und Schüler ihre Ausbildung.
An der Gesamtkonferenz (GEKO) war von Stolpersteinen die Rede, die im Laufe der Ausbildung überwunden werden müssen. Wo liegen diese in Basel und welche Massnahmen ergreift der Kanton?
Es gab in Basel bereits diverse Vorstösse im Grossen Rat zu dem Thema, unter anderem von Claudio Miozzari. Die Antworten des Regierungsrats zeigen, dass er die Handlungsfelder noch nicht wirklich erkannt und definiert hat. Wirkliche Lösungen wurden bisher nicht präsentiert. Aber es ist klar: Die hohen Lehr- und Ausbildungsabbrüche in Basel-Stadt sind ein grosses Problem. Fast ein Viertel der Jugendlichen bricht die Lehre ab.
Pascal Ryf (Mitte) ist seit 2015 Baselbieter Landrat und seit 2022 Gemeinderat in Oberwil. Im Amtsjahr 2023/24 war er als Landratspräsident tätig. Von 2019-2023 präsidierte er die landrätliche Bildungs-, Kultur- und Sportkommission. Ryf ist ehemaliger Lehrer und Schulleiter. Seit 2018 ist er Geschäftsführer der Stiftung fit4school und der educampus AG.
Weiss man, warum das so ist?
Schweizweit ist zu beobachten, dass Frauen eine höhere Abschlussquote haben als Männer, und dass Schweizerinnen und Schweizer bessere Chancen haben als Kinder aus Familien, die zugezogen sind. Der sozioökonomische und der sprachliche Hintergrund spielen also eine zentrale Rolle.
An der GeKo wurde deutlich, dass die Eltern eine bedeutende Rolle spielen. Die Kinder, die Zuhause unterstützt werden, haben grössere Chancen.
Die Eltern sind ein sehr wichtiger Punkt. Der Kanton muss daher versuchen, die Eltern noch stärker in die Verantwortung zu nehmen. Erziehungsdirektor Mustafa Atici spricht in diesem Zusammenhang zurecht von Chancengerechtigkeit, nicht von Chancengleichheit. Es ist leider ein Fakt, dass es schlichtweg keine Chancengleichheit gibt. Es muss aber das Ziel sein, eine Chancengerechtigkeit herzustellen.
Wie kann das gelingen?
Chancengerechtigkeit bedeutet, dass alle Kinder und Jugendlichen die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, um ans Ziel zu gelangen. Wenn die Eltern nicht in der Lage sind, ihr Kind zu unterstützen, ist der Kanton gefragt. Er kann die Eltern mehr einbinden und die Lehrerinnen und Lehrer bei ihrer Arbeit unterstützen.
Erziehungsdirektor Mustafa Atici hat die Bedeutung der Kindergarten- und Primarschulzeit angesprochen.
Da stimme ich zu. Auf der Stufe Primarschule kann man Eltern bereits durch gezielte Schulungen und Sensibilisierungsmassnahmen viel mehr unterstützen und in die Verantwortung nehmen. Die Eltern müssen auf dem Weg ihrer Kinder mitgenommen werden. Es müssen Ressourcen freigesetzt werden, damit es gelingt, die Laufbahn der einzelnen Kinder zu begleiten und zu beobachten.
Woher weiss ich, was für mein Kind das Beste ist?
Das gilt es gemeinsam mit dem Kind und den Lehrpersonen herauszufinden. Eltern müssen früh darüber aufgeklärt werden, welche Möglichkeiten es in der Schweiz und in unserem dualen Bildungssystem gibt. Eine Errungenschaft finde ich auch die Einführungsklasse, die wieder beliebter gemacht werden sollte.
«Wenn der Start gelingt, stehen den Kindern viele Wege offen, egal, ob sie ans Gymnasium gehen oder eine Lehre machen möchten.»Pascal Ryf, Bildungsexperte
Was ist gut an der Einführungsklasse, also dem Konzept, die erste Klasse in zwei Jahren zu absolvieren?
Die Kinder werden extrem stark in einer kleinen Gruppe unterstützt und so geschult, damit sie einfacher in den Regelunterricht einsteigen können. Wenn man den Menschen, besonders auch jenen mit Migrationshintergrund, wirklich bei der Integration helfen möchte, braucht es von Anfang an intensive Unterstützung. Und daher sind die Einführungsklassen Gold wert. Wenn Kinder von Anfang an das Gefühl haben, der schwächste Part der Klasse zu sein, dann hinterlässt das psychologisch auch Spuren. Wenn man aber in einem Setting ist, in dem alle die gleichen Startbedingungen und Förderung im Sinne der Chancengerechtigkeit haben, fühlen die Kinder sich unterstützt.
...und nicht abgehängt.
Genau. Wer sich von Anfang an abgehängt fühlt und überfordert ist, ist schnell demotiviert. Bei diesen Kindern besteht das Risiko, dass sie immer das Schlusslicht bleiben. Wenn der Start gelingt, stehen den Kindern viele Wege offen, egal, ob sie ans Gymnasium gehen oder eine Lehre machen möchten.
An der GeKo wurde gesagt, dass eine Kooperation von Schule und Wirtschaft wichtig für die Berufswahl der Kinder und Jugendlichen ist.
Das stimmt. Das Lehrpersonal und die Wirtschaft müssen vernetzter arbeiten und sich regelmässig austauschen. Ein Beispiel ist das Programm Schule trifft Wirtschaft. Es sollte obligatorische Anlässe für Schülerinnen, Schüler und Eltern geben, an denen Leute aus der Wirtschaft die Lehre als attraktiven Berufsbildungsweg vorstellen. Viele denken ja heute: Wenn ich mich fürs Studium entscheide, habe ich einen guten Job und ich verdiene viel. Das ist völlig falsch. Es gibt auch viele Studierende, die das Studium abbrechen.
Auch die Quote der Schüler*innen, die ihre Ausbildung am Gymnasium oder an der FMS abbrechen, ist hoch. Wo liegen hier die Gründe?
Ich bin der Ansicht von Regierungspräsident Conradin Cramer, der als damaliger Erziehungsdirektor einen Shitstorm ausgelöst hat, weil er gesagt hat, die Maturitätsquote in Base sei viel zu hoch. Ich finde enorm wichtig, dass der duale Bildungsweg, der ja wirklich ein Erfolgsmodell in der Schweiz ist, von Anfang an viel stärker vermittelt wird. Schon in der Primarschule muss den Eltern aufgezeigt werden, dass gute Schülerinnen und Schüler nicht zwingend das Gymnasium besuchen müssen.
Warum nicht, wenn sie gute Noten haben?
Der Druck, das Gymnasium zu besuchen, hat enorm zugenommen. Das hat auch mit Expats zu tun, die das duale Schulsystem nicht kennen. In den angelsächsischen Ländern oder Deutschland ist es nahezu normal, Matur zu machen. Hier muss ein Umdenken stattfinden, gerade im Hinblick auf den Fachkräftemangel. Die Berufslehre muss wieder gestärkt werden.
Wobei wir wieder bei der Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft sind …
Ja, es liegt doch auf der Hand. Wenn Leute aus der Wirtschaft frühzeitig in Schulen gehen und von ihren Berufen berichten, haben die Kinder und Jugendlichen schneller konkrete Ziele vor Augen. Viele Kinder wollen Polizist werden, weil sie sich darunter etwas vorstellen können. Es gibt aber viel, viel mehr spannende Berufe. Und um den eigenen Weg zu gehen, muss man ein Ziel vor Augen haben.
«Der Kanton muss den Lehrbetrieben und den Lernenden zur Seite stehen, damit es seltener zu Ausbildungsabbrüchen kommt.»Pascal Ryf, Bildungsexperte
Die Schule ist also gefordert, nicht nur mit den Eltern, sondern auch mit der Wirtschaft zusammenzuarbeiten. Wie kann der Kanton unterstützend wirken und den Lehrer*innen «den Rücken freihalten», wie Atici sagt? Neben der Förderung der Grundkompetenzen und der sprachlichen Frühförderung müssen die Eltern stärker einbezogen werden. Zudem sollte die Attraktivität der Berufslehre gesteigert werden. Der Kanton sollte dafür sorgen, dass Lernende in Betrieben begleitet werden. Wenn es Probleme während der Lehre gibt, hat ein KMU nicht immer die Kapazitäten, die Lernenden zu unterstützen. Der Kanton muss den Lehrbetrieben und den Lernenden zur Seite stehen, damit es seltener zu Ausbildungsabbrüchen kommt.
Sie meinen, diese Investition lohnt sich, weil der Kanton insgesamt davon profitiert, wenn mehr Jugendliche ihre Ausbildung abschliessen?
Ja, natürlich. Wenn jemand mit 25 keine Ausbildung hat, steigt das Risiko extrem, dass die Person arbeitslos ist oder in prekären Arbeitsverhältnissen beschäftigt wird und schlussendlich Sozialhilfe beziehen muss. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist das natürlich nicht gut. Wir alle profitieren zudem davon, wenn wir ausgebildete Fachkräfte haben. In dieses Ziel zu investieren lohnt sich.
Vielen Dank für das Gespräch.