Über die Grenze für doppelten Lohn
35’000 Grenzgänger*innen pendeln zum Arbeiten aus Frankreich und Deutschland über die Grenze nach Basel. Eine davon ist die Pflegefachfrau Elise Chiappini. Ein Porträt aus der Herzklinik am Unispital.
Es ist noch kalt, als Elise Chiappini aus dem Aufzug in den Spitalgarten tritt. 6.40 Uhr zeigt die Apple Watch an ihrem Handgelenk. In eiligem Schritt macht sich die Pflegefachfrau auf den Weg ins Klinikum 2, drückt im Lift auf den Knopf für den 8. Stock, Herzklinik. «Komm gut heim», sagt sie zu einer Kollegin, die ihr mit müdem Blick zuwinkt. Schichtwechsel.
Chiappini ist eigentlich kein Morgenmensch. Wenn es geht, lässt sie sich nicht für Frühschichten einteilen. In diesem Sinne ist die bevorstehende Woche eher eine Ausnahme. Frühschichten: vier. Nachdem sich Chiappini umgezogen, ihre Patientenliste geschnappt und sich einen Überblick über die jeweiligen Krankengeschichten verschafft hat, klopft sie noch vor 7.30 Uhr an die erste Zimmertür.
«Guten Morgen», begrüsst sie die beiden älteren Herren gut gelaunt. Ist ja erst Frühschicht eins von vier, erklärt sie später, «in ein paar Tagen bin ich dann schon ein bisschen müder». Drinnen im Patientenzimmer stellt sie sich zuerst vor: «Mein Name ist Elise», sagt sie, wischt energisch mit einem Lappen über das Whiteboard gegenüber der Betten und trägt ihren Namen ein. Wie sie mit Nachnamen heisst, sagt sie meistens nicht.
«Zu kompliziert zum Aussprechen», erklärt Chiappini unterwegs zum nächsten Zimmer. Die Patient*innen würden ausserdem bei ihrem italienischen Nachnamen meinen, sie spreche Italienisch. Ihr Vorname hingegen weist sprachlich in die richtige Richtung, denn Elise ist Französin. Italienisch spricht sie nicht. Dafür Deutsch – eine Voraussetzung für ihre Anstellung beim Unispital.
Die 24-Jährige pendelt vom Sundgau am südlichsten Zipfel des Elsass nach Basel. Damit ist sie eine von rund 35’000 Grenzgänger*innen, die im Kanton Basel-Stadt beschäftigt sind. Rund 1700 davon arbeiten im Unispital.
Die Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz über ein neues Vertragspaket sind abgeschlossen. Als Nächstes wird es vom Parlament beraten. Ende 2024 haben Firmen aus der Region Basel Bajour erklärt, welche Punkte für sie bei den neuen Verträgen besonders wichtig sind – insbesondere mit Blick auf ihre vielen Angestellten aus dem EU-Raum.
Im Alltag merke sie die Grenze zwischen Arbeits- und Wohnort eigentlich nicht. «Ausser, dass die Verkehrsregeln und Strassenschilder ein bisschen anders sind.» Und die Arbeitsbedingungen besser: Vor ihrer Anstellung beim Unispital hat sie 1,5 Jahre auf der kardiologischen Intensivstation in Strassburg gearbeitet. Ihr Arbeitstag sei mit knapp 8,5 Stunden zwar länger als derjenige in Frankreich, dafür pflegt sie weniger Patient*innen gleichzeitig – und verdient mehr als doppelt so viel.
Auch für ihre Arbeitskolleg*innen hat Chiappinis Hintergrund als Grenzgänger*in Vorteile: «Du sprichst ja Französisch, oder?», wird sie an diesem Vormittag gefragt. «Hier ist eine Angehörige eines Patienten, sie hat eine Frage. Kannst du schnell?» Und wie fast immer, wenn Chiappini um etwas gebeten wird, nickt sie und sagt: «Okay, kann ich machen, kein Problem.»
Obwohl der Alltag oft unberechenbar und hektisch ist: Aus der Ruhe bringt sie an diesem Vormittag nichts. Auch nicht der piepsende Notfallalarm aus einem Patient*innenzimmer, bei dem alle Pflegenden in der Nähe sofort losrennen. «Fehlalarm», sagt Chiappini bei der Rückkehr, wischt sich eine Schweissperle von der Stirn und schiebt ihre Brille zurück auf die Nase. «Die Intensivstation in Strassburg war mehr Stress», erklärt sie und zuckt lächelnd mit den Schultern.
Chiappini kam über eine Werbekampagne auf Instagram zum Unispital. Zuvor studierte sie Pflegewissenschaften in Strassburg, bevor sie auf der Intensivstation anfing. Dass sie dann für einen Job über die Grenze schaute, war allerdings naheliegend: In Chiappinis privatem Umfeld im Sundgau arbeiten «fast alle» in der Schweiz, auch in ihrer Familie.
Stellenwechsel bedeutet immer Papierkram, aber im Fall der Grenzgänger*innen kommt ein ganzer Stapel Dokumente obendrauf. Das Unispital braucht eine Ansässigkeitsbescheinigung, in Chiappinis Fall vom französischen Staat, die von der neuen Angestellten ausgefüllt, vom französischen Finanzamt beglaubigt und dann dem Spital übergeben werden muss. Dieses Dokument muss die Pflegefachfrau jedes Jahr aufs Neue ausfüllen. Einmalig musste Chiappini zudem ihr Diplom vom Schweizerischen Roten Kreuz anerkennen lassen. Die Kosten von rund 700 Franken übernahm das Spital.
«Ich habe mit Sprachniveau A1 angefangen und lernte bis B2.»Elise Chiappini
Dazu brauchte sie auch eine Bescheinigung der französischen Behörden – darüber, dass Chiappini ihren Beruf ohne Einschränkung ausüben darf. Ausserdem brauchte Chiappini eine Grenzgänger*innen-Bewilligung. Diese wird von der*dem Arbeitgeber*in bei der zuständigen Behörde beantragt. Hinzu kommen praktische Dinge wie ein Schweizer Lohnkonto. Und ein Auto.
Eine ÖV-Verbindung an ihren Wohnort gibt es keine. Ans Über-die-Grenze-Pendeln, den Verkehr auf dem Arbeitsweg – «ohne Stau: 30 Minuten, mit Stau: 50 Minuten» – und das Unispital hat die Pflegefachkraft sich nun nach zwei Jahren gewöhnt. Sie ist am neuen Arbeitsort angekommen, auch sprachlich. Zu Beginn ihrer Anstellung lernte Chiappini während sechs Monaten intensiv Deutsch und arbeitete parallel halbtags im Unispital. «Ich habe mit Sprachniveau A1 angefangen und lernte bis B2», sagt die Pflegefachfrau stolz.
Jetzt fühlt sie sich im Deutsch so wohl, dass sie auch scherzen kann. «Wo haben Sie die Vene gelassen? Zuhause?», fragt sie einen ihrer heutigen Patienten, während sie seinen Arm absucht. Vor der Chefarztvisite muss ihm ein neuer Zugang für die Infusion gelegt werden. Nach kurzer Suche wird sie dann doch fündig. «Machen Sie, was Sie machen müssen», findet der Patient und dreht seinen Kopf möglichst weit weg von der Einstichstelle. Chiappini reimt: «Eins, zwei, drei – Polizei» und sticht zu. «Ich bin schon fertig, lieber Mann», sagt sie, streicht mit der Hand das Pflaster glatt und macht sich auf den Weg ins nächste Zimmer.
Der Morgen sei ziemlich normal verlaufen, hält Chiappini später in der Mittagspause fest, als sie sich eine Lunch-Tupperdose aus ihrem Jutebeutel fischt. Aber das heisse noch nichts. Man wisse nie, was an so einem Arbeitstag alles passiert. Ob zum Beispiel Notfälle die gewohnten Abläufe unterbrechen oder kurzfristig neue Patient*innen auf die eigene Abteilung verlegt werden. Sicher ist nur, dass Chiappini heute am späteren Nachmittag zurück durch den Spitalgarten ins Parkhaus geht, sich in ihr Auto setzt und zurück nach Frankreich fährt. Und dass morgen Frühschicht zwei von vier ansteht.