«Die Bauarbeiter sind jeden Tag massiv unter Druck»
Die Baustellen in der Region stehen still – die Bauarbeiter*innen protestieren gegen eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Lucien Robischon von der Basler Gewerkschaft UNIA erklärt, warum die GAV-Verhandlungen schleppend verlaufen.
Lucien Robischon, warum legen die Bauarbeiter*innen heute ihre Arbeit nieder?
Es ist eine aktuelle Protestwelle in der ganzen Schweiz, die heute die Region erreicht. Das heisst: Hier in Basel, in Baselland und im Aargau stehen die Baustellen still. Die Bauarbeiter gehen auf die Strassen, um sich gegen Abbauforderungen zu wehren – der Baumeisterverband will ihre Arbeitsbedingungen verschlechtern. Heute stehen alle Bauarbeiter zusammen, um ein Zeichen zu setzen und zu sagen, so geht es nicht weiter.
Was läuft denn nicht gut in der Baubranche?
Die Bauarbeiter sind jeden Tag massiv unter Druck. Die Tage werden immer länger. Man hat gleichzeitig einen Fachkräftemangel, denn es gibt immer weniger Lehrlinge. Das sind alles Indizien, dass es in die falsche Richtung geht. Konkret geht es um den Landesmantelvertrag (LVM) – also den Gesamtarbeitsvertrag, der die Arbeitsbedingungen regelt für alle Bauarbeiter in der Schweiz. Wir sind jetzt in den letzten Zügen der Verhandlungen.
Weil man sich bei den Verhandlungen nicht einig wurde, kommt es jetzt zum Streik. Was ist passiert?
Die Positionen sind einfach noch sehr weit auseinander. Für die Bauarbeiter ist es klar, man muss die Arbeitsbedingungen verbessern und nicht verschlechtern. Man muss die Baubranche attraktiver machen. Wir haben schon im Verlauf des letzten Jahres Umfragen gemacht auf sämtlichen Baustellen und die Forderungen mit den Bauarbeitern erstellt. Es geht darum, dass man die Arbeitszeit eingrenzen kann.
Lucien Robischon ist Gewerkschaftssekretär bei der Gewerkschaft UNIA Aargau-Nordwestschweiz. Er vertritt die UNIA in der Basler Sektion des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Ausserdem ist er Arbeitnehmervertreter in der Paritätischen Berufskommission für die Region Basel, welcher für die Umsetzung des LMV in der Region verantwortlich ist.
Wie sieht der Alltag von Bauarbeiter*innen heute aus?
Im Sommer hat man zum Teil einen Neun-Stunden-Tag. Dann macht man noch eine Überstunde, weil der Beton spät geliefert wird. Manche haben noch lange Reisewege, weil sie von Basel nach Zürich gehen oder umgekehrt. Aber die ersten 30 Minuten Reisezeit vom Magazin auf die Baustelle sind nicht bezahlt – das ist Gratisarbeit. Der Stau wird nicht mitgezählt. Wir fordern, dass die Reisezeit ab der ersten Minute bezahlt wird.
Machen diese 30 Minuten der Reisezeit, die derzeit nicht vergütet werden, wirklich so einen Unterschied?
Ja, wenn man das hochrechnet, schon. Es gibt Bauarbeiter, die sind eineinhalb Jahre auf Baustellen eingeteilt, die weit weg sind, wo sie anderthalb Stunden Hin- und Rückweg haben. Das sind einfach sehr lange Arbeitstage. Und wenn man das eindämmen würde, würde sich die Firma vermutlich zweimal überlegen, ob sie nicht eher wieder mehr lokal oder regional bauen wollen.
Der Baumeisterverband, der die Arbeitgeber*innenseite vertritt, sagt, dass der aktuelle Vorschlag für den LVM keine Verschlechterung der jährlichen Arbeitszeit bedeuten würde. Warum behaupten Sie dann, dass das eine Verschlechterung ist?
Im Moment hat man eine jährliche Arbeitszeit von maximal 2112 Stunden. Es gibt aber einen Arbeitszeitkalender, in dem eine Mindestarbeitszeit von 37,5 Stunden und eine Höchstarbeitszeit von 45 Stunden festgelegt ist. Der Baumeisterverband möchte das kippen und sagen, die normale Arbeitszeit ist zwischen 0 und 50 Stunden. Und er möchte, dass man minus 150, 250 Überstunden machen kann. Das heisst: Im Winter, wenn es tendenziell weniger Arbeit hat, kann der Chef sagen, er brauche seine Arbeiter ein paar Tage nicht – und im Sommer soll das dann alles nachgearbeitet werden.
«Ich keine Baustelle, die wegen Hitze eingestellt wurde.»Lucien Robischon, UNIA
Medial wird immer wieder auch die Samstagsarbeit zum Thema gemacht.
Heute muss ein Bauunternehmen bei der Paritätischen Kommission anmelden, wenn am Samstag gearbeitet wird. Die Bauarbeiter, die dort eingesetzt werden, bekommen 25 Prozent Lohnzuschlag. Diesen möchte der Baumeisterverband streichen. Sie möchten auch nicht, dass es die Meldepflicht gibt, sondern dass die Firma selber entscheiden kann.
Mit der Samstagsarbeit sollen hitzefreie Tage kompensiert werden, richtig?
Es entspricht nicht der Realität, dass es hitzefreie Tage gibt, auch wenn der Baumeisterverband das jetzt behauptet. Er sagt, sie möchten nur am Samstag arbeiten lassen, wenn es unter der Woche heiss wäre und man deswegen die Baustelle pausieren muss – aber man kann ja heute schon samstags arbeiten lassen. Ausserdem kenne ich keine Baustelle, die wegen Hitze eingestellt wurde. Von daher gibt es diese Realität leider noch nicht. Wir haben aber ein grosses Interesse an einer Regelung. Dazu müsste man aber erstmals definieren, ab wie viel Grad oder bei welcher Luftfeuchtigkeit Hitze herrscht. In früheren Vertragsrunden war das eine unser zentralen Forderungen.
Verhandlungen gibt es in der Baubranche alle paar Jahre. Wieso findet man keinen Gesamtarbeitsvertrag, der einfach mal für alle stimmt?
Der jetzige LMV basiert auf Kompromissen, die man in all den Jahren immer gemacht hat zwischen den Sozialpartnern. Darauf wollen wir aufbauen, um einen Schritt in eine Modernisierung zu machen, um Attraktivität herzustellen, um den Fachkräftemangel zu bekämpfen. Der Baumeisterverband will aber eine völlig neue Grundlage schaffen. Ich habe das Gefühl, der Verband macht einfach maximalen Druck, um zu schauen, wie weit man gehen kann. Die Stimmen der Bauarbeiter werden nicht ernst genommen.
Am 7. November ist die Demonstration von Bauarbeiter*innen in der Basler Innenstadt geplant, sie zieht um 11 Uhr beim De-Wette-Park los. Die Demonstration reiht sich ein in eine Protestwelle, die bereits im Tessin, in der Romandie und in Bern stattgefunden hat und kommende Woche in der Region Zürich, der Zentralschweiz und der Ostschweiz weitergehen soll.
Die Arbeit auf dem Bau ist anstrengend. Ist das ein Beruf, der überhaupt unseren modernen Anforderungen an einen zeitgemässen Arbeitsvertrag entsprechen kann?
In Österreich zum Beispiel haben sie das erreicht. Dort schaffen sie einfach zwei Wochen lang jeden Freitag länger und haben dafür den dritten Freitag frei. Die Arbeitsstunden bleiben genau gleich, aber sie haben dann ein Drei-Tages-Wochenende als Erholungszeit. Das kommt älteren Bauarbeitern entgegen, aber erfüllt auch die Wünsche von jüngeren Bauarbeitern, die dann einen Papi-Tag einführen können. Mit solchen Vorteilen könnte man in den Berufsschulen werben – im Gegensatz dazu, wenn der Baumeisterverband mehr Samstagsarbeit ohne Zuschläge fordert.
Über 70 Prozent der 80’000 Bauarbeiter*innen in der Schweiz sind in einer Gewerkschaft. Warum ist der Organisierungsgrad so hoch?
Das hat auf dem Bau eine lange Tradition, dass man sich gewerkschaftlich organisiert. Man hat auch sehr positive Beispiele. Die Rente mit 60 ist auch auf eine Protestwelle zurückzuführen. Es gab 2002 einen Streik.
«Wenn kein LMV mehr gilt, wäre es ein bisschen wie im Wilden Westen.»Lucien Robischon, UNIA
Wenn man bis Ende Jahr keine Einigung findet, läuft der aktuelle LMV aus – was bedeutet das?
Das nennt sich vertragsloser Zustand. Die Unternehmen müssen sich nicht mehr an den alten LMV halten – nur noch an das Obligationenrecht, das sind aber nur unterste Minimalbestimmungen. Man könnte dann zum Beispiel die 50-Stunden-Woche einführen und muss sich nicht mehr an die Mindestlöhne halten. Die Firmen können günstiger offerieren – aber auch Firmen aus dem Ausland müssen sich nicht mehr an Mindestlöhne halten. Es wäre ein bisschen wie im wilden Westen. Die Schwarzarbeit würde zunehmen, weil es keine Kontrollen mehr gäbe. Und es gäbe sicher flächendeckend weitere Proteste und Streiks.
Das klingt so, als wäre dieser Zustand für Arbeitnehmer*innen schlechter als für Arbeitgeber*innen.
Die Arbeitgeber haben auch viele Vorteile mit dem LMV. Der Konkurrenzkampf und der Druck sind kleiner, weil der LMV gleich lange Spiesse macht und für eine gewisse Wettbewerbsberuhigung sorgt. Man kann sich Weiterbildungen finanzieren lassen. Man kann gezielte Kontrollen machen, damit es keinen Wettbewerbsnachteil gibt. Wenn es keinen LMV mehr gibt, fällt das alles weg. Die Firmen haben durchaus auch ein grosses Interesse, dass man einen guten LMV hat.