Pussy-Riot-Aktivistin: «Putins Gang ist eine wehleidige Truppe»

Olga Borisova sagt, der Feminismus hat das Zeug dazu, Putin zu zerstören. Ein Interview mit einem Mitglied der Punk-Legenden vor der Show in Basel.

Pussy Riot
Olga Borisova (Mitte) neben Maria Alyokhina (links) und Diana Burkot von Pussy Riot an einer Medienkonferenz Anfang Juni in Porto. (Bild: ESTELA SILVA / Keystone)

Wir erreichen Olga Borisova im Hotel auf Teneriffa, wo das Kollektiv gerade tourt. Auf Instagram postet die Russin, die eine Woche nach Kriegsausbruch nach Georgien ausreiste, bizarre Videos friedlicher Wonne. Surfer*innen im Meer. Senioren bei der Polonaise auf einer Strandparty. 

In der Ukraine geht auch an diesem Tag das Sterben weiter. Und auch das zeigen diese Bilder, ohne dass Borisova sie kommentiert. Die zerfetzte Gleichzeitigkeit unserer Gegenwart zwischen Krieg und Caipirinha und Kunstbetrachtung. In Basel ist zum Beispiel gerade mal wieder die Art. 

Das Performance-Kollektiv Pussy Riot hat den Ruf, der erzbiederen und «geldgeilen» (Borisova) russischen Elite inklusive Waldimir Putin höchstselbst ans Schienbein zu treten. Seit dem berühmten Auftritt 2012 in der Moskauer Christ-Erlöserkathedrale («Gottesscheisse!») ist die Bande Kult. Drei Mitglieder mussten damals wegen «Rowdytums aus religiös motiviertem Hass» für zwei Jahre ins Gefängnis. 

Marija Aljochina, genannt Masha, war eine von ihnen. Zusammen mit Olga Borisova hat sie ein Buch geschrieben, «Riot Days». Die Performance in Basel basiert auf diesem Buch, Olga ist der kreative Kopf hinter der Show. Zur Zeit tourt das Kollektiv durch Europa, ein Teil der Erlöse durch den Ticketverkauf geht an ein Spital in der Ukraine.  

Olga Borisova, hatten Sie heute Kontakt nach Russland? 

Ja, klar. Es ist nicht verboten, dorthin zu telefonieren. Das Internet funktioniert noch. 

Und was hören sie?

Depression. Die Stimmung für mich und meine Freundinnen ist verzweifelt. Aber obwohl es eine dunkle Zeit ist, gibt es neuen Aktivismus. Viele westliche Journalist*innen fragen mich, warum protestiert in Russland niemand? Aber nur weil man hier nichts davon hört, heisst das nicht, dass keine Proteste stattfinden. Die Anti-Kriegs-Bewegung lebt. 

Wie sieht der Anti-Kriegs-Protest aus?

Es gibt eine relativ neue Gruppe, sie lässt sich als «feministische Anti-Kriegs-Widerstandsbewegung» übersetzen. Sie arbeitet wie eine Guerilla. Eine der Aktivistinnen nahm sich den Supermarkt als Plattform vor, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie riss die Preisschilder von den Produkten und ersetzte sie durch Aufkleber mit neuen Zahlen. Daneben stand: «Russland begeht Kriegsverbrechen in der Ukraine, so viele Kinder wurden von der russischen Armee getötet». 

Was ist mit der Frau passiert?

Sie wurde verhaftet und unter einem der neuen Strafgesetze angeklagt, die erlassen wurden. Es gibt viele solcher neuer Gesetze. Als Minimalstrafe sind fünf Jahre Gefängnis vorgesehen, aber es können auch fünfzehn Jahre sein. Doch es gibt weitere Aktionen. Kritische Graffiti, Informationen, Flugblätter. Viele Menschen, die vorher nicht politisch aktiv waren, sind beunruhigt. Manche von ihnen werden zu Aktivist*innen. 

Gibt es Kontakte zwischen Russ*innen und ukrainischen Geflüchteten in Russland?

Es gibt offizielle Geflüchteten-Aufnahmelager, aber das ist Bullshit. Die Leute, die dort arbeiten haben den Auftrag, die Ukrainer*innen auf die russische Linie zu bringen. Indem sie zum Beispiel mit den Kindern nur Russisch sprechen. Aber es gibt auch versteckte, inoffizielle Hilfe für Geflüchtete. Auf Telegram organisieren sich Leute um Ukrainerinnen zum Beispiel gratis die Haare zu schneiden. Oder mit Ihnen ins Museum zu gehen. Freundinnen von mir beteiligen sich an dieser Hilfe.

«Viele Aktionen finden sozusagen zwischen den Zeilen im Alltag statt. Manche trauen sich auch mehr.»
Olga Borisova, Pussy-Riot-Aktivistin

Was erzählen ihre Freundinnen über den Kontakt mit ukrainischen Geflüchteten?

Das sind schlimme Geschichten. Eine Freundin hat Kontakt mit einem älteren Ehepaar aus Mariupol, das über einer Woche unter den russischen Bomben im Bunker sass. Diese Menschen sind traumatisiert. Viele haben Gewicht verloren wegen dem Hunger. 

Sie sprechen vor allem von Freundinnen. Was sind das für Leute, die sich an den versteckten Kriegsprotesten beteiligen?

Es sind in der Tat vor allem Frauen, so weit ich das überblicke. Es ist schwer, sie zu beschreiben, aber aufgrund der Instagram-Accounts, die die Aktionen dokumentieren, würde ich sagen, das findet überall in Russland statt. Sie haben Koordinatorinnen in jeder Stadt. Basierend auf den Fotos von den Aktionen würde ich sie als eher jung beschreiben. So alt wie ich vielleicht. Ich bin 27.

Kriegen wir darum wenig mit über die Proteste in Russland, weil sie im Versteckten stattfinden?

Das ist einer der Gründe, viele Aktionen finden sozusagen zwischen den Zeilen im Alltag statt. Manche trauen sich auch mehr. Ein Mann hielt auf dem roten Platz in Moskau ein Schild in die Luft, auf dem stand: «Nein zum Faschismus». Er wurde festgenommen. Im Protokoll hiess es, das sei eine Diskreditierung der russischen Armee. Das ist auch so ein neuer Strafartikel. Es gibt aber praktisch keine unabhängigen Medien mehr, die über Proteste berichten könnten. Auch darum weiss man im Rest der Welt nichts darüber. 

Verändern die Proteste etwas in den Köpfen der Menschen?

Ich glaube an Protest auf der Strasse. Aber wir können den übrigen Kontext nicht ignorieren. 

Welchen Kontext?

Zum Beispiel, dass immer noch viel Geld nach Russland fliesst für Gas und Öl. Dieses Jahr ist aus russischer Sicht profitabler als das vergangene, wenn man alleine die Umsätze aus dem Verkauf dieser Ressourcen zum Massstab nimmt. Und das trotz drei Monaten Krieg. Wie können die Leute auf der Strasse die Lage ändern, wenn das System auf Geld gebaut ist? 

«Ja, Putin ist ein Monster. Aber ich glaube in erster Linie hat er einfach eine Scheissangst, seine Macht und sein Geld zu verlieren.»
Olga Borisova, Pussy-Riot-Aktivistin

Ist es heuchlerisch, im Westen nach russischen Protesten zu fragen, wenn wir weiterhin Geld ausgeben für russisches Öl und Gas?

Auf jeden Fall. Ich verstehe, dass man nicht alle Leitungen zu den Ressourcen auf einmal kappen kann. Aber es ist Zeit, Menschenleben an erster Stelle zu setze. Nicht das Gas zum Kochen oder Benzin.

Die Schweiz hat die Sanktionen der Europäische Union übernommen. Das hat Diskussionen bezüglich der Neutralität ausgelöst. Was ist davon in Russland zu spüren?

Ich war überrascht, als ich las, dass die Schweiz Stellung bezog und die Sanktionen übernahm. Gut so, aber man hätte die Sanktionen schon 2014 erlassen sollen, als Russland die Krim annektierte. Zur Wirkung kann ich nur so viel sagen: Die Schweiz ist ein sehr begehrtes Land für russische Bonzen. Ein bisschen mehr Tiefenforschung zu den Verbindungen wäre gut. 

Wie meinen Sie das?

Die Schweizer Banken sollen wirklich alle Konti preisgeben und einfrieren. Die Villen müssen enteignet werden. Man muss diesen Leuten wehtun. Die Eliten sind eine wichtige Gruppe in dieser besonderen Situation. Putins Gang ist eine wehleidige Truppe. 

Wie kann Putin gestoppt werden?

Es braucht eine Konsolidierung von Kräften. Externe plus interne. Putin ist keine One-Man-Show. Er ist ein System, das er um sich herum gebaut hat. In diesem System dreht sich alles um Geld. Und der Angst, das zu verlieren. Putin ist getrieben von Angst. Manche Menschen zeichnen ihn als ein riesiges psychologisch komplexes Monster. Ja, er ist ein Monster. Aber ich glaube in erster Linie hat er einfach eine Scheissangst, seine Macht und sein Geld zu verlieren. 

Sehen Sie eine Bedrohung für Putin?

Russland produziert nichts, was die Welt braucht. Ausser Gas und Öl. Das ist dumm. Denn wegen der Sanktionen fehlt es jetzt an allem, wir haben nicht einmal Papier. Wir haben zwar viel Wald, aber ein Teil der Maschinen, die es braucht, um daraus Papier herzustellen, kommt aus dem Ausland. In den ehemaligen Renault-Fabriken sollen jetzt Moskwitsch-Autos hergestellt werden. Das sind diese alten Kisten aus der Sowjetunion. Offenbar ist Russland nicht in der Lage, neue Autos zu bauen. 

Ihre Hoffnung liegt auf einem Volksaufstand?

Ich finde nicht, dass die einfachen Menschen die politische Führung stürzen müssen, für die sie teilweise nicht einmal gestimmt haben. Man muss auf die Oligarchen fokussieren. Sie haben die Macht. Sie müssen geschwächt werden. 

Sie waren früher Polizistin. Wie kam es zu diesem Karrierewechsel zu Pussy Riot?

Ich war 18 und hatte eine sehr falsche Vorstellung davon, was die Polizei tut. ich wollte sein wie Debra Morgan in der Serie Dexter. Aber es war anders, ich erlebte viel Misogynie, Korruption, Sexismus. Nach einem Jahr war ich raus. Dann wurde 2015 der Oppositionelle Boris Nemtsov liquidiert, ein politischer Mord. Das war mein Auslöser, Aktivistin zu werden. ich lernte Marija Aljochina kennen und wir wurden Freundinnen. 

Sprechen wir über ihre Show. Was kommt da auf Basel zu?

«Riot Days» ist Mashas Geschichte. Von den ersten Pussy Riot Aktionen bis zum letzten Tag im Knast. Es ist nicht ein klassisches Konzert, eher ein politisches Theater mit einigen Plot-Twists. Ein Punk Manifest.

Was wollen sie mitteilen?

Ich glaube, persönliche Geschichten wie die von Masha können die Welt verändern. Unser Ziel ist es, die Menschen zu ihrem eigenen Widerstand zu inspirieren. Egal woher sie kommen und wer sie sind. Wer den Drang spürt, hat das Recht auf Protest. 

Welche Rolle hat Pussy Riot in diesem Krieg?

Wir haben die medialen Ressourcen und das Privileg, durch Europa zu touren und mit den Menschen und Journalistinnen zu reden. Das müssen wir tun. Andere sitzen für ihren politischen Aktivismus im Gefängnis. Niemand kennt sie, weil sie nicht Pussy Riot sind, doch ihr Kampf soll nicht umsonst sein. Wir wollen unsere Bekanntheit gegen den Krieg einsetzen.

«Für mich ist es psychologisch betrachtet gesünder, mich aufzulehnen. Nichts zu tun, macht uns krank.»
Olga Borisova, Pussy-Riot-Aktivistin

An dem Tag, an dem Pussy Riot in Basel spielt….

… da ist doch dieser feministische Tag, oder? Ein schöner Zufall. 

Der 14. Juni ist Frauenstreiktag oder der feministische Kampftag, wie er auch genannt wird. Sie haben davon gehört?

Ja. Ich weiss noch nicht, wann wir in Basel ankommen, aber ich würde gerne einige Veranstaltungen besuchen. Ich würde gerne etwas über den Kampf der Schweizerinnen für Frauenrechte und feministische Anliegen erfahren, denn aus unserer Perspektive sieht das natürlich alles wunderbar aus. Vielleicht ist das ein Trugschluss. Ich hoffe, viele Leute kommen von der Demonstration an unser Konzert und wir können uns nach der Show unterhalten. 

Geht das denn so einfach? Haben Sie kein Sicherheitsaufgebot, um Sie vor Angriffen zu schützen?

Nein. Natürlich sind wir vorsichtig, aber wir haben keine Bodyguards oder so. Man muss aufpassen, dass man nicht paranoid wird. 

Pussy Riot wird in Russland immer wieder hart bestraft. Maria Aljochina musste sich als Essenslieferantin verkleiden, um aus dem Hausarrest zu fliehen. Sie trägt auf der Tour eine symbolische Fussfessel. Woher nehmen Sie den Mut, all die Jahre weiterzumachen?

Das ist in der Schweiz vielleicht nicht einfach zu verstehen, aber in einem System wie in Russland geht das nicht anders. Man muss einfach etwas tun. Natürlich ist es beängstigend, nie zu wissen, was nach einem Protest passiert. Aber sich selbst zu verlieren, ist beängstigender. Für mich ist es psychologisch betrachtet gesünder, mich aufzulehnen. Nichts zu tun, macht uns krank. 

Was sagen Sie an die Adresse von Ukrainer*innen in Basel, die Ihr Konzert besuchen wollen?

Ich wünsche mir, dass so viele Ukrainer*innen kommen wie möglich. Nicht um ihnen zu zeigen, dass wir gute Russinnen sind. Sondern um uns mit ihnen zu verschwestern. Es ist für mich sehr emotional, bei unseren Auftritten auf Menschen zu treffen, die ihre Heimat wegen eines Mannes verlassen mussten, der Präsident meines Landes ist. Dieses Russland, das Putin führt, ist allerdings nicht mein Russland. Putin ist nicht mein Präsident.

Foto vom Instagram-Account Olga Borisovas. Am Fussgelenk zu sehen ist eine Fussfessel, die von den Mitgliedern des Kollektivs symbolisch getragen wird. Die Bildunterschrift lautet: «Wie ich diesen Sommer verbracht habe.»

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Bei Bajour als: Reporter und Redaktor

Hier weil: da habe ich die Freiheit, Neues anzupacken und unkonventionell zu arbeiten, ohne über sieben Hierarchiehürden zu springen. Das ist toll. Gleichzeitig macht diese Freiheit natürlich Angst, und das wiederum schweisst zusammen. Darum bin ich auch hier. Wegen des Teams.

Davor: Bei der TagesWoche und davor lange Jahre an der Uni mit Germanistik & Geschichte.

Kann: Ausschlafen.

Kann nicht: Kommas.

Liebt an Basel: Die Dreirosenbrücke. Das Schaufenster des Computer + Softwareshops an der Feldbergstrasse Ecke Klybeckstrasse. Das St. Johann. Dart spielen in der Nordtangente. Dass Deutschland und Frankreich nebenan sind.

Vermisst in Basel: Unfertigkeit. Alles muss hier immer sofort eingezäunt und befriedet und geputzt werden. Das nervt. Basel hat in vielem eine Fallschirmkultur aus der Hölle. Absichern bis der Gurt spannt. Ich bin schon oft aus Versehen eingeschlafen.

Interessensbindung: Vereinsmitglied beim SC Rauchlachs.

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