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Der Ghost-Painter

Léon Missile: «Meine Kunst wird vor allem dann geklaut, wenn es regnet»

Sie hängen für ein paar Wochen – und verschwinden spurlos aus dem Stadtbild. Was steckt hinter den geheimnisvollen Bildern, die seit ein paar Jahren in Basel auftauchen? Eine Spurensuche mit tatkräftiger Unterstützung der Bajour-Community.

10/03/20, 09:31 AM

Aktualisiert 10/03/20, 10:35 AM

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Oh. Ein Reh.

Oh. Ein Reh.

Herr Missile, müssen wir uns eigentlich streng anonym unterhalten?

Missile: Ja, streng anonym. Wenn ich in seltenen Fällen mit der Öffentlichkeit in Kontakt trete, dann reicht mir mein persönlicher Aussenminister das Handy und ich spreche nur als Missile. Das ist mein Pseudoym. Léon Missile. 

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Ganze drei Tage hat die Spurensuche gedauert. Am Montag posten wir ein Foto auf Instagram. Eine Werbetafel vom Kannenfeldplatz. Darauf ist ein Reh zu sehen, das wache Augen sofort wissen lässt:

Er – oder sie oder they? – ist wieder da!

Seit ein paar Jahren tauchen in Basel während einiger Wochen im Jahr diese Bilder auf. Sie sind unverwechselbar im Stil und in der Art und Weise, wie sie verbreitet werden. Im Folgenden siehst du ein paar Beispiele. Die TagesWoche, ebenfalls von der Rätselhaftigkeit der Poster gefesselt, hat vor zwei Jahren über den klandestinen Guerilla-Artist geschrieben und ihm den Titel Ghost-Painter verpasst

Wir posten also am Montag dieses Foto auf Instagram und fragen: «Liebe Leute, wer von euch hat in Basel auch schon solche Bilder entdeckt?»

Die Mehrzahl der Bajour-Abonent*innen hat in der Stadt noch kein Notiz genommen von den Guerilla-Plakaten.

Die Mehrzahl der Bajour-Abonent*innen hat in der Stadt noch kein Notiz genommen von den Guerilla-Plakaten.

Mit einem Aufruf holen wir die Bajour-Community ins Boot für die Recherche nach der*dem Künstler*in.

Mit einem Aufruf holen wir die Bajour-Community ins Boot für die Recherche nach der*dem Künstler*in.

Und die Community – man kann hier zur Abwechslung auch mal die schöne Seite des Internets hervorheben – stürzt sich mit uns in die Recherche. Wir kriegen Bilder aus allen Ecken der Stadt zugeschickt und erhalten Hinweise auf mögliche Ansatzpunkte. Einer führt uns auf einen Post des Brillenhändlers Rammstein, dessen Plakate am Marktplatz überklebt wurden. 

Rammstein, dessen Insta-Account offenbar von einem*einer Insider*in geführt wird, kennt einen Namen: Léon Missile. 

Wir finden eine Webseite. Wir schreiben dem Ghost-Painter auf Instagram.

Schliesslich erklärt er sich bereit, uns am Telefon einige Fragen zu beantworten. Wir sitzen zum Telefonieren unter eine Bettdecke und stellen dann im Schein einer Taschenlampe alle entscheidenden Fragen. Strenge Auflage an uns selber: Der Mythos wird nicht entzaubert!

Voilà: Hier ist das spektakuläre Interview mit dem klandestinen Stadtverschönerer Léon Missile.


Herr Missile, was sie tun, ist natürlich illegal. Trotzdem hängen ihre Poster immer an sehr belebten Orten in der Stadt. Wie machen sie das?

Nun, ich bin kein junger Mann mehr, aber ich liebte es schon immer zu zeichnen. Es gibt dieses Bild von Paul Gaugin, es heisst «Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir». Das ist mein Antrieb, jede Arbeit von Léon Missile stellt diese Frage. Ich fahre also mit meinem Fahrrad in der Stadt herum und zeichne in das Skizzenbuch, das mich begleitet. Dazu mache ich Fotos von den Orten. Die Arbeiten entstehen dann im Atelier. Dabei lege ich Wert darauf, dass es schnell geht, es muss eine kurze Arbeit sein. Zum Schluss, eine oder zwei Wochen später, gehe ich wieder auf die Pirsch und klebe die Plakate an ihren Ort. 

Die Bilder haben einen sehr flüchtigen Charakter, die Farbe trieft ja noch aus der Leinwand. Wie lange brauchen sie für so ein Bild?

Das ist unterschiedlich. Die ganze Operation kann bis zu zwei Wochen dauern, das eigentliche Malen muss wie gesagt schnell gehen, das ist der Kern des Gedankens. Am schnellsten muss es beim Aufkleben des Bildes gehen, das darf nicht länger als ein paar Minuten dauern. 

«Früher habe ich nachts geklebt, aber das wurde mir zu stressig. Heute habe ich eine andere Lösung gefunden, die weniger auffällig ist.»

Léon Missile

Wurden Sie schonmal erwischt?

Nein, ich habe eine Lösung gefunden, um nicht gestört zu werden. Ganz am Anfang, das ist lange her, habe ich nur in der Nacht gearbeitet. Dann habe ich festgestellt, dass ich mich damit verhalte wie ein Gesetzesbrecher, und das wurde mir irgendwann zu stressig. Ich habe dann entschieden, mich einfach so anzuziehen wie es jemand tut, der jeden Tag Plakate klebt. Seither trage ich bei der Arbeit so eine Plakatkleberuniform und alles ist viel einfacher. Ein, zwei Mal wurde es ein bisschen gefährlich, weil jemand wissen wollte, was ich da mache. Aber im Grossen und Ganzen sind die Leute sehr nett und schauen nur zu. 

Kleben sie überallhin, egal wo?

Nein, ich achte darauf, nur die Werbungen von grösseren Kunden zu überkleben. 

Als Kunst-Afficionados nimmt uns natürlich Wunder: Was für eine Technik wenden sie an?

Also im Prinzip ist das Aquarellmalerei, aber Aquarell bleibt bei schlechtem Wetter draussen nicht haften. Ich arbeite also mit Tinte. Das erlaubt mir, meinen Stil beizubehalten. Dann noch etwas Farbe dazu: Fertig.

Auf Instagram ist bei uns eine rege Diskussion über eine Frage entflammt: Was hat es mit diesen Rehen auf sich, die sie in diesem Jahr überall in der Stadt ausgesetzt haben?

Ich komme nicht aus Basel, aber ich war immer fasziniert von dieser Stadt. Es ist die Stadt, die sich einen Picasso für das Kunstmuseum geleistet hat. Es ist aber auch eine Stadt der Ambivalenz, wenn ich an die Chemie denke, an das ganze alte Geld. Basel hat eine gewisse Noblesse d’Ésprit. Und mitten in diese Noblesse hinein sehe ich plötzlich in der Tagesschau, dass in Basel die Nerven blank liegen, weil auf dem Friedhof Hörnli ein paar Rehe die Blumen von den Gräbern fressen. Das fand ich einfach sehr lustig und irgendwie auch sehr poetisch. Ich wollte Basel damit ein sehr eigenes Thema widmen. 

Alle sind im Museum. Wir sind auf der Strasse.

Apropos Poesie: Sie verwenden ja gewissermassen das Symbol für Kommerz und Konsum schlechthin, die Werbetafel, als Staffelei. Ist das als Kapitalismuskritik gemeint?

Haha, natürlich! In Bezug auf das Geld versucht die Kunst von Léon Missile ihre eigene ambivalente Abhängigkeit bewusst zu machen. Es ist wie die zwei Seiten einer Münze. Einerseits steckt in jeder ehrlichen Kunst auch Kapitalismuskritik, aber ohne den Kapitalismus wird keine Kunst geboren. Das war immer so. Ohne die Medici, keine Kunst in der Renaissance. Ohne das Geld der Kirche, keine Sixtinische Kapelle. Ich bin auch unglücklich über diese Abhängigkeit, aber sie existiert. Auf Französisch gibt es das Bonmot: Ich bin nicht dafür und nicht dagegen – im Gegenteil. Damit kann ich leben. 

Werbetafeln sind ja eigenartige Flecken: Sie stehen überall und buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Aber unser Bewusstsein ist so konditioniert, dass wir diese Tafeln im Stadtbild komplett ausblendenden. Ist das das ideale Umfeld für Kunst? Dort, wo niemand hinschaut? Und dort, wo niemand sie erwartet?

Ich geniesse das, wenn ich jemanden entdecke, wie er oder sie stehenbleibt, irritiert durch das Bild. Entscheidend ist doch, dass die Maschine des Alltags verlangsamt wird. Und gleichzeitig wird hier auch dieser Satz von Gaugin nochmal vergegenwärtigt. Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir? In dem Augenblick, in dem jemand seine Routine unterbricht, um an einer Strassenecke eines dieser Bilder zu betrachten, in dem Moment fällt dieser Satz auch auf diese betrachtende Person zurück. Mir gefällt das. 

Ist der öffentliche Raum in Schweizer Städten insgesamt viel zu langweilig und muss darum auf eigene Faust verbessert werden?

Ja, er ist zu ausgeleuchtet, zu sauber, zu poliert. Es gibt zu wenig Platz, der für Zeichnungen und Malerei reserviert ist. Die Werbung ist mehrheitlich leider langweilig, was traurig ist, denn in der Schweiz gibt es sehr gute Grafiker*innen. Wir sind ein Land mit einer hochstehenden Tradition in grafischer Gestaltung. Und der Architektur. Meine Arbeit ist gewissermassen eine Hommage an diese beiden Traditionen. 

Ein Bild von 2018: Léon Missile skizziert seine Motive zuerst oder hält sie fotografisch fest, die Zeichnung entsteht dann im Atelier.

Ein Bild von 2018: Léon Missile skizziert seine Motive zuerst oder hält sie fotografisch fest, die Zeichnung entsteht dann im Atelier.

Auf ihrer Homepage haben Sie ihre Arbeit akribisch dokumentiert. Für was stehen diese kryptischen Zahlenreihen?

Das sind die Koordinaten der Orte, an denen Bilder hängen. Es fehlen allerdings viele Werke, die Liste ist nicht aktuell. 

Sind sie eine Art Banksy der Schweiz. Verdienen sie auch so viel?

(Bricht in schallendes Gelächter aus) Das ist eine gute Frage! Was mich mit Banksy verbindet ist natürlich das klandestine Arbeiten. Wir machen beide gewissermassen Street Art, aber dann auch wieder nicht. Meine Arbeit kann nicht existieren ohne die Pappe. Aber der Modus dieser Kunst ist derselbe. Sie kommt, sie irritiert, sie verschwindet. Du kannst sie nicht fangen. In Lausanne sind meine Arbeiten ziemlich bekannt und da kommt es immer wieder vor, dass die Leute die Bilder stehlen. Entschuldigung, sie nehmen sie an sich. Je weiter weg ich reise, um zu arbeiten, desto länger überleben die Bilder. Wenn eines 10 Tage hängt, dann ist das sehr gut.

Die Leute klauen ihre Bilder?

Ja, wenn sie nass sind, lassen sich die Bilder leichter abpulen. Wenn es regnet, wird meine Kunst am meisten geklaut. 

Wie siehts aus mit dem Geld? Haben Sie einen Ferrari?

Leider nein, ich habe noch einen Job nebenher. Die Kunst bringt bis jetzt nicht viel Geld ein. 

Was passiert mit den Plakaten, wenn sie niemand klaut?

Dann werden sie beim nächsten Wechsel der Werbeflächen einfach überklebt. Das ist der Lauf der Dinge, für mich ist das tiptop so. 

Einige unsere Leser*innen wollten ein Bild kaufen. Geht das?

Naja, eigentlich nicht. Aber ich habe ein paar Bilder übrig, denn es kommt vor, dass ich ein Bild male und wenn ich zurückkomme, ist die Plakatsäule weg. Man kann versuchen, mich zu kontaktieren. Aber mein Aussenminister kann nicht garantieren, dass ich antworte. 

Was bleibt am Ende?

Auf Deutsch gibt es ja das schöne Wort des Stadtoriginals. Das kann eine besondere Person sein, die jeder kennt. Oder eben ein Unikat, wie es jedes dieser Bilder eins ist. Das ist wichtig es sind eben keine Drucke. Jedes Bild ist ein Stadtoriginal. Das gefällt mir.

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Die TagesWoche hat bereits vor drei, respektive zwei Jahren darüber gerätselt, wer hinter den Bildern stecken mag. Hier und hier sind die Texte dazu.

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