Verirrt im Märchenwald
Das Kunstmuseum Basel widmet der grossartigen portugiesisch-britischen Malerin Paula Rego zurzeit die erste Schweizer Ausstellung. Ihr zu Ehren zeigt das Basler Theater im Kunstmuseum die Performance «Was ist das Kind so schön». Eine Rezension.
Vier ausgezeichnete Schauspielerinnen, kein Stück und ein unglücklicher Kritiker – das ist das Fazit dieser Premiere.
Der Abend beginnt mit einer vielversprechenden Idee: Vier Frauen leben allein im Wald, organisieren ihr Zusammenleben und erzählen sich abends die Märchen vom Rotkäppchen und vom Schneewittchen auf ihre, auf heutige Art. Das könnte was werden. Das könnte auch Beziehungen zur Malerei von Paula Rego (1935 – 2022) entfalten, denn in der Basler Ausstellung im Kunstmuseum gibt es einen Raum, der unter dem Titel «Rollenspiele» Regos malerische Auseinandersetzungen mit Märchenfiguren präsentiert. Auf dem Bild «Snow White on the Prince’s Horse» z. B. zeigt Rego, als Gegenentwurf zu Walt Disneys Film «Snow White and the Seven Dwarfs» von 1937, das zarte Schneewittchen als kräftige Frau, die nicht auf einem tollen Pferd reitet, sondern zu Hause auf einem Haufen von Kissen oder Fellen.
Wer soll das verstehen?
Aber der Reihe nach: Im Eventsaal des Kunstmuseums Basel stehen nur vier Stühle auf einer rechteckigen Spielfläche, die auf allen Seiten vom Publikum umgeben ist. Eine Sängerin (Jasmin Etezadzadeh) und drei Schauspielerinnen (Alina Schmidli, Antoinette Ullrich, Lucy Wirth) in üppigen, mehrschichtigen Röcken kritisieren die spiessige, patriarchale Konformisten-Moral von Rotkäppchen, die sie so formulieren: «hübsch sittsam sein und (…) niemals, niemals, niemals, NIEMALS vom Wege abgehen.» Sie lancieren die Idee vom Frauen-Camp und dann – ja, dann stürzt das Stück ab ins zersplitterte Chaos. Die Verzweiflung des Kritikers beginnt, denn er versteht, ehrlich gesagt, fast nichts mehr.
Sicher, da gab es ein paar erkennbare Märchenmotive und ein paar schöne, auch witzige Momente: Die Sterbeszene z. B., in der die kraftvolle Lucie Wirth das tote Schneewittchen spielt, ist herrlich. Oder: Alle Spielerinnen haben schöne lange Haare – wie sie diese gegenseitig flechten und streicheln, ergibt eine zärtlich-liebevolle, sinnliche Szene. Als saukomische Parodie der Probensituation aus dem Theater kommt eine Sterbeszene daher, in der die Schauspielerin immer zu früh stirbt. Aber das sind seltene Momente in einem Meer von Einzelnummern, die alle von den Spielerinnen immer wieder mit viel Anstrengung aus dem Spannungstief hochgezogen werden müssen.
Das Nicht-Stück findet kein Ende. Lange Schreiereien, unklare Szenen, riesige spannungslose Löcher, bedeutungsvolles Schreiten, inhaltliche Leere.
Es beginnt mit einer Geburtstagsparty: Die Mutter bringt ihrer Tochter als Geburtstags-Cake eine junge Frau, und es kommt fast zu einem Kuss, aber die Tochter weist das lebende Geschenk mit dem Schrei «You stink!» zurück. Ein paar wenige Lacher im Publikum. Danach entwickelt sich nichts, da spitzt sich nichts zu, da fehlt es elementar an Dramaturgie. Und das Nicht-Stück findet vor allem kein Ende. Lange Schreiereien, unklare Szenen, riesige spannungslose Löcher, bedeutungsvolles Schreiten, inhaltliche Leere. Aus unerfindlichen Gründen singt Jasmin Etezadzadeh Klytämnestras Klage über ihre schlechten Nächte aus der Oper Elektra von Richard Strauss. Die Musikauswahl reicht von Matthias Claudius’ Abendlied über Rameau und Strauss bis zu einem Fado.
Optische Bezüge zu Bildern von Rego werden zwar im Textbuch behauptet, sind aber in der Aufführung nicht bemerkbar. Was hat sich die portugiesische Regisseurin Teresa Coutinho bei alldem gedacht? Zu viel wahrscheinlich. Ja, doch, sie kann Personen führen, das merkt man gelegentlich. Aber vom Geist von Regos Bildern, die auf den ersten Blick faszinieren und erst dann nachhaltig irritieren, weil sie alle auch ein Geheimnis enthalten, hat sie nichts ins Theaterspiel gebracht.
Ist es eigentlich richtig, dass die Theaterleute sich ihre eigenen Stücke so oft selbst basteln? Oder wäre häufiger mal Vertrauen in eine Autorin oder einen Autor gewinnbringender?
Vieles ist auch deswegen unverständlich, weil der Saal eine miserable Akustik hat. Muss denn hier gespielt werden? Wenn schon nicht direkt in der Rego-Ausstellung, warum dann nicht im Theater? Kommt hinzu: Der grösste Teil des Textes ist Englisch, ohne Übertitel. Die Chance, echt zweisprachig zu agieren, ist vertan.
Warum? Für wen?
Spätestens hier stellen sich Fragen, die die Grundlagen der Basler Schauspielproduktion betreffen: Ist es eigentlich richtig, dass die Theaterleute sich ihre eigenen Stücke so oft selbst basteln? Oder wäre häufiger mal Vertrauen in eine Autorin oder einen Autor gewinnbringender? Für wen spielt dieses Theater eigentlich? Für Expats und das nächste Theaterfestival? Für Eingeweihte und Angehörige, die, kaum ist der letzte Satz verklungen, aufspringen und als Claque frenetisch applaudieren, während das übrige Publikum sich ratlos umblickt oder vorher schon weggegangen ist? Der alte Kritiker, der das Theater loben möchte, fühlt sich ausgeschlossen und ist traurig.
Das Stück «Was ist das Kind so schön» läuft noch am 30.11., 1.12., 6.12., 7.12., 10.12. und 14.12. im Kunstmuseum Basel.