Wie eine verdammte Diskokugel auf vier Rädern

An den Stadträndern macht sich eine neue Szene breit. Tankstellen werden zu Sehnsuchtsorten. Wir sind eingestiegen und im glitzernden BMW mitgefahren – quer durch die halbe Schweiz.

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Mirsan und Sinan Ajeti vor ihrem BMW X6M, mit rot metallisierter Diamantoptik-Folie. Auf Instagram ist dieses Auto ein Star der Basler Szene. (Bild: Daniel Faulhaber)

Zusammengezählt stehen auf der kleinen Avia-Tankstelle in 4057 Kleinhüningen an diesem Samstag im April 2021 genug Pferdestärken, um eine mittelgrosse Armee beritten in den Kampf zu schicken.

Ein Lamborghini Gallardo, orange, mit offenem Verdeck, ca. 500 PS.

Ein Mercedes mit Maybach Ausstattung, 300 PS.

Ein BMW X6M, mit rot metallisierter Diamantoptik-Folie, 600 PS. 

Und so weiter. Zirka 30 sehr starke Autos stehen Flanke an Flanke in der Frühlingssonne, während manchen von ihnen der frische Reinigungsschaum von den Felgen tropft wie Tau von frischen Blättern. Wie das alles glitzert! Motorhauben werden aufgeklappt und wieder zu, es wird umhergegangen und gegrüsst. Dann verteilt einer der Jungen die Funkgeräte. Es geht los.

Stress durch Lärm: Einer belastet alle?

Im öffentlichen Diskurs hat ein neues Feindbild Einzug gehalten: Autoposer*innen. Erkennungsmerkmale, herausdestilliert aus Reportagen der Boulevardmedien Blick, 20 Minuten und anderen Presseorganen: Jung, schnell, laut. Migrationshintergrund. In einem «Psychogramm» des St. Galler Tagblatts – «So ticken die Poser» – vergleicht ein Verkehrspsychologe die Szene-Teilnehmer mit Tieren. Grundlage dieser «Analyse»: Konkurrenzverhalten junger Männer. 

BlickTV hat mit einem Verkehrsgutachter gesprochen, der «genau weiss, wie die Autoposer ticken». Frage des Moderators, ob es bei der Poserei vor allem darum gehe, Frauen zu beeindrucken? Der Experte antwortete, das werde wohl so sein, aber man müsse sich schon fragen, welche Frau auf so ein getuntes Auto stehe. Wahrscheinlich sei das nicht die Frau fürs Leben.

Zusammengefasst: In der Berichterstattung über Autoposer*innen dominieren Vorurteile. 

Normalerweise führen Vorurteile zu Kontroversen. Aber weil es so schwer ist, mit lauten, schnellen Maschinen eine Lobby zu kriegen, werden Autoposer*innen von allen Seiten missgünstig verachtet. In den Augen der Öffentlichkeit sind sie alle Troublemaker. 

Manche sind das auch. In einer Antwort der Regierung auf eine Interpellation des Alt-SP-Grossrats Talha Uğur Çamlıbel vom Herbst 2020 steht, dass an Teilen der Hochbergerstrasse, die auch an der Avia-Tankstelle vorbeiführt, die zumutbare Lärmbelastung für Anwohner*innen regelmässig überschritten wird.

Dass der Lärm von Raser*innen stammt, kann die Regierung allerdings nicht bestätigen, die Übertretungsquote auf diesem Strassenabschnitt sei eher unterdurchschnittlich. Heisst: Diese Strasse ist einfach laut, mit der Autoszene hat das nur bedingt zu tun.

Ein weiterer Anzug Talha Uğur Çamlıbel betreffend einer «Strategie gegen Autoposer» ist zur Zeit hängig.  

«Wir sind perfekt integriert, mein Vater redet wie ein Bünzli.»
Mirsan Ajeti

Mirsan und Sinan Ajeti sind Stars der lokalen Liebhaber*innenszene. Seit sie ihren BMW X6M in präziser Handarbeit mit einem glitzernden, knallroten Stoff neu foliert haben, taucht das Auto auf Instagram überall dort in den Stories der User*innen auf, wo sich die Szene trifft. 

Das sind vor allem Tankstellen. Der beliebteste Treffpunkt Basels hat längst einen eigenen Account: Szene_isch_Avia. Seit die Polizei an der Avia Tankstelle in Kleinhüningen mit rigorosen Kontrollen gegen Autoliebhaber*innen vorgeht, hat sich ein neuer Treffpunkt eingebürgert und die Szene trifft sich jetzt auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte Süd in Fahrtrichtung Basel. Szene isch neuerdings Prattele. 

Der Begriff «Szene» hat auf der Strasse nicht zuletzt durch den Kleinbasler Rapper S Hot Einzug gehalten. Es ist eine Art Code, der Zugehörigkeitsgefühl und Stolz bedeutet. 

Manche Autos haben «Szene isch Avia»-Sticker auf den Autos, um zu zeigen, wo sie in Basel dazugehören und auf dem dazugehörigen «Szene isch Avia»-Instagram-Account, auf den Fotos von allen möglichen Autos geteilt und geliked werden, taucht irgendwann im März 2021 sehr oft das Auto von Mirsan und Sinan Ajeti auf. 

Weil es so heftig glitzert wie eine gottverdammte Discokugel auf vier Rädern. Man kann sich diesem Auto nicht entziehen. 

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    Jetmir, Leon, Mirsan und Sinan vor ihren Autos auf einem Parkplatz in Luzern.

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    Der orange Lamborgini Gallardo liegt tief überm Asphalt.

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    Vorbereitungen auf unterwegs. Einer der Jungs verteilt Walkie-Talkies an die Fahrer*innen.

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    Der BMW X6M ist das Flaggschiff der Gang. Bis später heisst in der Szene «bis auf Rückspiegel».

«Bro, bis auf Rückspiegel»

Es versteht sich daher von selbst, dass Mirsan und Sinan Ajeti mit ihrem Auto ganz vorne einspuren, als sich der Fuhrpark von zirka fünfundzwanzig Autos an der Avia-Tankstelle zur Abfahrt bereit macht. 

Geplant ist ein Ausflug. Abfahrt an der Avia, von da geht es nach Luzern, dann nach Zürich und wieder zurück nach Basel. Die Fahrer sind untereinander mit Walkie-Talkies verbunden. Mirsan startet den BMW. «Alle bereit? Abfahrt.»

Vor dem Einsteigen sagt einer der Fahrer im Spass zum anderen: «Bro, bis auf Rückspiegel.»

Szenesprech für: «Bis gleich.»

Das klingt wie ein Versprechen auf Speed, aber als der Tross kurze Zeit später auf der A2 einbiegt, wird gar nicht überholt. Die Kolonne hält sich in eiserner Disziplin an die zuvor abgemachte Reihenfolge. Gefahren wird auf der rechten Spur. Tempo 90, sonst droht der Korso auszufransen und das wäre dann schlecht für die Wirkung. Man will was hermachen.

Wenn eine*r der Fahrer*innen von weiter hinten was sagen will, rauscht und knackt in der Hand von Mirsan das Walkie-Talkie. Der Funk wird aus zwei Gründen aktiviert. Erstens: Für Fragen der Ordnung und Disziplin. In dieser Hinsicht ist Mirsan der Leader. Zweitens: Um zu artikulieren, was für eine geile Zeit man hier gerade hat. Für die Party sind die Jungs weiter hinten zuständig.

Funkspruch Mirsan: «Warte, Bro, fahr langsam. Wir haben ein paar an der roten Ampel verloren.» 

Funkspruch aus dem Porsche ganz hinten: «Vor Luzern steht die Polizei auf einer Brücke und beobachtet. Fahrt gemäss der Schilder.»

Woher kriegt die Kolonne diese Information? Mirsan: «Weiss ich nicht, irgendwer weiss das eben.»

Manchmal wird auf dem Funkkanal auch einfach gesungen.

Wir rollen jetzt sehr gelassen auf der Autobahn dahin. Fenster auf, erstmal rauchen. Und jetzt wird geplaudert, deswegen sind wir schliesslich da. Was sind das für Typen, deren perfekt rasierte Hinterköpfe von der Rückbank dieses schönen Autos aus betrachtet souverän in den Nackenstützen liegen wie Königshäupter unter der Krone?

Man tauscht Floskeln, um sich ein bisschen kennenzulernen, dann sagt Mirsan: «Es war immer unser Ziel, das Image von Kosovaren besser zu machen. Wir sind perfekt integriert, mein Vater redet wie ein Bünzli.» Warum muss das Image besser gemacht werden, gibt es ein Problem mit dem Image von Kosovar*innen? Mirsan erklärt: «Früher war das anders, die ältere Generation. Die kamen aus dem Krieg und haben Kinder sterben gesehen, die waren anders drauf.» Sinan schaltet sich ein: «Wir machen keine Probleme, wir sind hier geboren. Die Schweiz ist unsere Heimat.»

Nur kein Troublemaker sein

Interessante Beobachtung: Wenn man mit Mirsan und Sinan Ajeti über den Rassismus sprechen will, den sie oder ihre Familien in der Schweiz erlebt haben, dann reden sie erst einmal davon, dass die Kosovar*innen ihrer Elterngeneration sich nicht gut verhalten haben. 

Sie wollen es besser machen. Der Satz «Wir haben grosse Ziele» fällt ein paar mal in diesem Auto. Die Bewertung aus den Medien ist den höflichen Männern in diesem Auto offenbar in ihr Selbstbild eingegangen: Die Troublemaker sind sie. Sie müssen, wem auch immer, das Gegenteil beweisen. 

Aufwachsen mit der Bringschuld, keiner zu sein, der Stress macht.

Heute dieses Auto fahren. Mit 21 Jahren Chef einer eigenen Firma sein.

In den Medien trotzdem als Loser abgestempelt werden. Sinan: «Benutze in deinem Bericht bloss nicht das Wort Autoposer.»

Was seid ihr dann?

«Autoliebhaber», sagt Mirsan.

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Leasing: Wie funktioniert das?

Wenn sich eine Kund*in entscheidet ein Auto zu leasen, findet eine Art Dreiecksvertrag statt. Die Leasinggesellschaft kauft das Fahrzeug. Die*r Kund*in erhält das Nutzungsrecht und bezahlt eine monatliche Rate. Wie das St. Galler Tagblatt recherchiert, lässt sich beispielsweise ein über 70'000 Franken teurer BMW M2 Competition für monatlich rund 800 Franken über eine Laufzeit von vier Jahren leasen. Bei vielen Leasingverträgen besteht die Möglichkeit, das Auto nach Ablauf der Vertragsfrist zu kaufen. 

Bajour wollte wissen, ob es zur Zeit ein zunehmendes Interesse an Leasing-Verträgen von Autos gibt. Die Schweizerische Leasingverband (SLV) antwortet, dass es seit ein paar Jahren allgemein, und nicht nur in einer bestimmten Zielgruppe, Trends zu sogenannten Abo-Modellen gibt. Den Konsument*innen seien die Fahrzeuge bzw. das Eigentum am Fahrzeug immer weniger wichtig. «Sie wollen zwar mobil sein, aber sich möglichst wenig um das Fahrzeug an sich oder seine Wartung etc. kümmern müssen», schriebt die SLV Deshalb entscheiden sich immer mehr Konsumenten/innen für ein Abo, in welchem der Unterhalt, die Versicherungen, Assistance, Reifen etc. alles bereits enthalten sind.

Der Grossvater von Mirsan und Sinan kam in den 1960er-Jahren in die Schweiz, der Vater und die Mutter in den 1980ern. Sie hatten Glück und den Krieg nicht am eigenen Leib erlebt. Der Vater hat hart gearbeitet und wurde schliesslich Transportleiter Nordwestschweiz bei einem grossen Bauunternehmen. Mirsan hat eine Lehre gemacht als Sanitärinstallateur, Sinan als Kaufmann. Heute haben die beiden eine Garage für Folierungen und Scheibentönungen in Lausen BL. Name: NWS Folierungen.

Das schimmernde Auto ist ihr rollendes Werbebanner. Mirsan ist 21, Sinan 22 Jahre alt. Ganz schön jung. Mirsan sagt: «Im Kopf bin ich ausgewachsener als andere in meinem Alter. Wir haben grosse Ziele, die wir erreichen wollen.»

Welche Ziele denn?

«Wir wollen mit der Werkstatt etwas aufbauen. Vielleicht etwas mit Immobilien. Damit gutes Geld reinkommt und wir nicht mehr 13, 14 Stunden am Tag arbeiten müssen, wie wir das jetzt tun.» Der BMW hat 72’000 Franken gekostet. Ein Teil davon ist abbezahlt. Den Rest berappen die Brüder über einen Leasingvertrag.

Cashtalk

Der Autokorso rollt jetzt von der A2 auf die Raststätte Neuenkirch. Es war zwar bislang eine sehr wohltemperierte Ausfahrt, aber Mirsan sagt am Funk, den Schalk in der Stimme. «Hier machen wir erstmal Pause, damit sich alle ein birebizzeli beruhigen.» 

Die meisten Fahrer*innen der Maseratis und BMWs, der Mercedes’ und Maybachs stehen eher am Anfang einer beruflichen Laufbahn. Valbone zum Beispiel hat einen Beratungsjob beim Modehaus PKZ, ihre Schwester Saranda hat zuletzt als Detailhändlerin gearbeitet. Zusammen fahren sie einen pechschwarzen Mercedes AMG C-Klasse mit Sternenhimmel. 

So heisst die Innenausstattung. Sternenhimmel. Das komplette Dach des Mercedes ist von innen mit kleinen leuchtenden Punkten überzogen, die auf Knopfdruck die Farbe wechseln. Das Auto gehört den Schwestern gemeinsam und wenn man sie ein bisschen peinlich berührt fragt, ob sie, naja, wie das denn sei, so als Frauen in dieser Männerszene, dann ziehen sie kurz die Stirn in Falten und sagen, das sei doch Blödsinn, sie begeisterten sich eben auch für Autos und basta.

Das sagt auch Folita, die ein weisses BMW Cabriolet steuert. «Es gibt hier keinen Chef, der entscheidet, wer mitmachen darf und wer nicht. Wir sind eine Familie. Wer Bock hat, ist dabei.» Seit dem Ausbruch der Coronakrise fehlen Treffpunkte, alle Clubs und Bars sind zu. Die Autoszene gab es zwar schon vorher, sagt Valbone, aber seit Corona hat sie einen neuen Schub erhalten. «Das Tolle ist: Früher waren wir oft über verschiedene Lokale verstreut. Seit die Bars zu sind, gehen wir eben an die Treffs. Das ist viel übersichtlicher. Alle sind da.»

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    Valbone und Saranda vor ihrem Mercedes AMG.

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    Sie haben sich eine Ambientbeleuchtung einbauen lassen, die aussieht wie ein Sternenhimmel am Wagendach inklusive Herz.

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    Folita steuert einen weissen BMW. Sie sagt, hier sei niemand der Chef und alle seien willkommen.

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    Folita, Qendrim und Aneta machen für die Kamera ein bisschen Spass. «Hier sind alle Familie.»

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    Kurz ins Wageninnere dieser zwei Jungs reinblitzen. Alle sind ziemlich gut drauf.

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    Saranda und Valbone sagen, das Vorurteil in den Medien, dass nur Männer in der Szene rumhängen, sei falsch. Sie kommen regelmässig zu den Treffen.

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    Gruppenbild vor dem Vierwaldstädtersee. Jede Pause wird in den sozialen Medien ausgiebig dokumentiert wie das Happening, das dieser Ausflug eben ist.

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    Blick aus der Heckscheibe des X6M.

Toprak Yerguz, der Sprecher der Basler Kantonspolizei, bestätigt das. «Seit rund einem Jahr verzeichnen wir im Kleinhüninger Hafengebiet eine deutlich erhöhte Aktivität der Autoszene.» Die Anwohner*innen störten sich an den lauten Motoren, an den Treffpunkten bleibe Abfall liegen. Seit Februar gebe es wieder grössere Kontrollaktionen. «Der Kantonspolizei war wichtig, bereits früh zu Beginn der ‹Saison› Präsenz zu markieren. Die wettermässig schönen Monate stehen uns erst noch bevor», schreibt Yerguz.

Das Anschwellen der Autoszene ist kein reines Basler Phänomen. In der ganzen Schweiz, von Genf bis Basel, stehen jetzt Schilder an den Strassenrändern der Innenstädte. Slogan: Laut ist out. 

Die Autoszene versucht ihrerseits, mit einer Charmeoffensive die Wellen zu glätten. Unter dem Hashtag #Carloverstogether haben sich mehrere reichweitenstarke Szene-Accounts in den Sozialen Medien zusammengeschlossen. Sie bitten ihre Follower um drei Dinge: Abfall mitnehmen, kein Aufheulenlassen der Motoren, Coronaregeln einhalten.

Polizeisprecher Yerguz sagt dazu: «Die Kantonspolizei Basel-Stadt begrüsst grundsätzlich jede Initiative, die eine Rücksichtnahme unterstützt. Die Wirkung der genannten Aktion können wir nicht abschätzen». In der Regel liessen die Autolenker*innen den Motor nicht in Anwesenheit der Polizei aufheulen.

Tanken statt Tindern

Apropos Anwesenheit. Der Raum, an dem sich die Szene trifft, gehört allen. Es ist Steuerzahler*innenterrain, es ist die Strasse. Aber es ist eben auch vernachlässigter Raum, Durchfahrtsraum. Tankstellen sind nicht zum Verweilen gedacht. Und so ist es unter dem Gesichtspunkt der Aneignung interessant, was da an den Stadträndern passiert. Dass nämlich Unorte sozial aufgewertet werden und eine neue Belebung erfahren. Cornern an der Tanke, das kannte man zuletzt in den 1990er-Jahren als Jugendphänomen.

Aber jetzt ist die Tanke als Topos zurück. Man darf das auch wertschätzen. Denn da passiert so viel mehr, als die paar eingebrannten Donuts auf dem Asphalt erzählen.

An den Tankstellen entstehen zum Beispiel neue Spielformen des Kennenlernens. Das ist gerade in Zeiten von Corona ohnehin eine erschwerte Angelegenheit. Die einschlägigen Treffpunkte haben, wie bereits erwähnt, Ableger in Form von gleichnamigen Accounts in den Sozialen Medien, Stichwort «Szene isch Avia». Aber es gibt auch noch andere Accounts, die mehr dazu da sind, Flirts zu verkuppeln. 

«Habe dich (weiblich, LÖ Kennzeichen) heute Abend an der Coop-Tankstelle gesehen. Du hast getankt und dann eine geraucht. Haben uns während ich getankt habe ein paar mal angeschaut, meld dich doch mal wenn du das siehst…»

Diese Spotted-Accounts sammeln solche Aufrufe und teilen sie auf Instagram. An sich nichts Neues, im «Blick am Abend» gab es für sowas die Rubrik «Schatzkästchen». Aber hier spielen alle Flirts an der Tanke, die Blicke fliegen von den Rücksitzen der BWMs an die Tanksäulen und wieder zurück, Nummernschilder halten als Indiz her und Beifahrer*innen und Fahrer*innen werden gesucht, weil sie «verdammt heiss» ausgesehen haben in ihren Autos und ihren Jumpsuits oder wie das heisst.

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    Die Aufrufe werden auf Instagram öffentlich, aber anonym gepostet. Erfolgsquote unklar. Spassfaktor hoch.

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Zurück im Auto, kurz vor dem ersten Ziel am Luzerner Seeufer. Bevor wir die City erreichen und sich alle Beteiligten ganz dem Sehen und Gesehen-Werden hingeben, müssen wir nochmal die grundsätzlichste Frage stellen.

Was um Himmels Willen ist so toll an einem Auto, Mirsan und Sinan? Was ist wünschenswert daran, im Jahr 2021 mit einem viel zu starken Motor über Autobahnen mit Tempolimit 120 zu rollen, an Tankstellen herumzustehen und Winston-Zigaretten zu rauchen?

«Für mich zählt der Stil, die Eleganz. Ob du ein guter Fahrer bist. Mit einem lauten Motor kannst du heute niemanden mehr beeindrucken, jeder weiss, was dein Auto kann und wer an der Auspuffanlage rumschraubt, macht sich nur lächerlich. Für mich ist das Fahren in diesem Auto nicht ein Gefühl von Eitelkeit. Aber es macht mich stolz.» 

Dann erreichen wir Luzern und das Blickgewitter bricht über die glitzernde Karosserie herein. 

Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man nie im Mittelpunkt dieses Spektakels sass, aber alle schauen dieses Auto an. An der Ampel, beim Vorbeifahren, beim um die Kurve biegen. Blicke. Münder, die kommentieren. Finger, die zeigen. Die ganze Strasse wird zum Spalier, wenn dieses Auto hindurchfährt und natürlich ist das im Innern dieses Autos ein erhebendes Gefühl, im Zentrum der gesamten Aufmerksamkeit zu sein. An der Ampel bleiben Autos auf der gleichen Höhe stehen, die Beifahrer*innen machen Fotos aus dem Fenster. Dann zeigen sie mit dem Daumen nach oben. Anerkennung überall. 

Vielleicht auch Spott, aber das ist aus den Blicken der Passant*innen schwer herauszulesen. Ohnehin gilt: Wer schaut, ist eingeknickt. Mirsan und Sinan schauen cool nach vorne, sie erahnen die Blicke von der Seite. Man kann diese Art erzwungener Aufmerksamkeit als Umkehr der Machtverhältnisse lesen: Wer ignoriert hier wen und wer wird gesehen? Über die Anerkennung lachen vielleicht auch nur jene, die nie um sie kämpfen mussten.

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Bei Bajour als: Reporter und Redaktor

Hier weil: da habe ich die Freiheit, Neues anzupacken und unkonventionell zu arbeiten, ohne über sieben Hierarchiehürden zu springen. Das ist toll. Gleichzeitig macht diese Freiheit natürlich Angst, und das wiederum schweisst zusammen. Darum bin ich auch hier. Wegen des Teams.

Davor: Bei der TagesWoche und davor lange Jahre an der Uni mit Germanistik & Geschichte.

Kann: Ausschlafen.

Kann nicht: Kommas.

Liebt an Basel: Die Dreirosenbrücke. Das Schaufenster des Computer + Softwareshops an der Feldbergstrasse Ecke Klybeckstrasse. Das St. Johann. Dart spielen in der Nordtangente. Dass Deutschland und Frankreich nebenan sind.

Vermisst in Basel: Unfertigkeit. Alles muss hier immer sofort eingezäunt und befriedet und geputzt werden. Das nervt. Basel hat in vielem eine Fallschirmkultur aus der Hölle. Absichern bis der Gurt spannt. Ich bin schon oft aus Versehen eingeschlafen.

Interessensbindung: Vereinsmitglied beim SC Rauchlachs.

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