Schule zuhause: «Es ist okay, wenn mal was liegen bleibt»
Der Erziehungswissenschaftler Stefan Schönenberger ist nicht nur Bildungsforscher, sondern auch Experte für Homeschooling. «Es darf auch mal was daneben gehen», sagt er im Interview und rät Eltern, den Kindern zu vermitteln, dass nun alle im gleichen Boot sitzen.
Die Schweizer Schulen sind seit über zwei Wochen geschlossen. Wie sieht ihr eigener Familienalltag nun aus?
Wir haben uns mit ein paar anderen Familien zu einem lokalen Netzwerk zusammengeschlossen. Natürlich halten wir uns aber an die Vorgaben des Bundes und haben die Anzahl Kinder reduziert.
Wie unterscheidet sich reguläres Homeschooling von der jetzigen Situation?
In erster Linie bestimmt dadurch, dass die Situation nicht selbstgewählt ist. Eltern müssen jetzt, ob sie wollen oder nicht, neben ihrem normalen Arbeitspensum auch noch vermehrten Betreuungspflichten nachkommen. Auch würde ich in der jetzigen Situation nicht von Homeschooling sprechen, sondern eher von «Dauer-Hausaufgaben». Denn beim Homeschooling sind die Eltern auch für die Lerninhalte zuständig.
Das klingt nach Stress. Neben der eigenen Arbeit müssen Eltern nun auch noch den «Mental Load» der Lernziele mittragen…
Das ist bestimmt eine Seite der Medaille. Eltern stossen an ihre Grenzen. Aber: Es darf auch mal was daneben gehen. Und es ist total okay, wenn mal etwas liegen bleibt. Viel wichtiger ist es, dass die Familie als Lerngemeinschaft zusammenfindet. Die Kinder dürfen sehen, dass auch Eltern herausgefordert sind. Man kann nicht von heute auf morgen alles umstellen. Das erwartet aber auch niemand.
Die Wohnung sieht aus wie ein Schlachtfeld? Kaum geschlafen? Machen Sie es wie die zweifache Mutter Vicoria Emes: Tanzen Sie sich den Frust von der Seele. Ganz nach der Devise «Ich habe Snacks und genug Gin... ich überlebe, solange ich Internet habe».
Wenn man den Warnrufen in der Presse Glauben schenkt, dann droht nun vielen Kindern, abgehängt zu werden.
Es ist sicher grundsätzlich nicht falsch, wenn Fachleute auf die Herausforderungen aufmerksam machen. Gewalt in Familien kann durch die Isolation zunehmen. Und es gibt ganz klar Familien, die sind durch die momentane Situation benachteiligt. Aber man muss auch sagen, das sind bei weitem nicht alle. Bei anderen kann es auch zu einem positiven Schub führen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Aus der Forschung wissen wir, dass lediglich für den Unterricht gelerntes Wissen nach kurzer Zeit auf der Strecke bleibt. Viel prägender sind die Fähigkeiten, welche in einem konkreten Handeln im Alltag gelebt und gebraucht werden. Nun entsteht Raum für individualisiertes Lernen. Prozentrechnen kann auch beim Kuchenbacken geübt werden. Oder man sucht ein Rezept in Englisch. Warum nicht mit Strassenkreiden eine Symmetrie zeichnen? So kann das schulische Wissen gleich live im Alltag geprüft werden. Das bleibt länger haften.
Wissen Sie noch... Wie man eine Parallele konstruiert? Ein Dreieck spiegelt? Nein? Nicht so schlimm. Der Lerntutor macht es vor.
Hilft es hier auch, dass sich der neue Lehrplan 21 eher an Kompetenzen statt an konkreten Lernzielen orientiert?
Unbedingt. Der neue Lehrplan ist sehr breit gefächert und definiert einen Rahmen, der verschiedene Inhalte zulässt. Es ist jetzt ein guter Zeitpunkt, um an der Umsetzung der Kompetenzen zu arbeiten.
Was sollen sich Eltern dabei zu Herzen nehmen?
Es muss nicht alles immer perfekt sein! Das ist etwas vom wichtigsten. Für alles andere gibt es unzählige praktische Tipps. Die Pädagogischen Hochschulen haben Material zusammengetragen. Es gibt Tutorials und Plattformen im Netz und auch jede Schule stellt nochmals eigenes Material. Da sind wir mehr als gut versorgt. Daher gilt es eher, sich darauf zu konzentrieren, dass die Stimmung in der Familie gut bleibt.
Wie stellt man das am besten an?
Indem man sich eine klare Struktur gibt. Welche Zeit verbringt man zusammen? Welche alleine? Wer schafft was wo? Ein Familienrat ist sicher eine gute Sache, analog dem Klassenrat in der Schule. Da kann man ganz bewusst Befindlichkeiten abfragen und Stimmungen abholen.
«Es muss nicht alles immer perfekt sein!»Stefan Schönenberger
Schülerhilfe im Netz
Mit «My School» durch die Krise: Das Schweizer Fernsehen sendet eine doppelte Ladung Lernvideos. Manche Schulen beziehen es direkt ein. Es eignet sich aber auch als Abwechslung zu Netflix und Co.
Corona-Lernkanal: Hier können sich Schülerinnen und Schüler ein paar Stunden mit einem Thema aus dem Bereich Natur, Mensch und Gesellschaft beschäftigen.
Erfolgreich lernen mit ADHS: Gerade für Kinder mit Aufmerksamkeits-Problemen ist ein Bruch mit der Routine schwierig zu verarbeiten. Wie Eltern sie in der neuen Situation unterstützen können, erfahren Sie in diesem Ratgeber, der in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg entstanden ist.
Schlaumeier: Interaktive und kostenlose Online-Lektionen. Von Montag bis Freitag um 9 Uhr morgens können Kinder während 30 Minuten mit den Schlaumeiern interagieren, Fragen stellen oder an Umfragen teilnehmen – wie in der Schule.