«Wir müssen einen Rückfall in barbarische Zeiten verhindern»

Heute vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Ralph Lewin, Vize-Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG, über die Aufgabe, die Geschichte des Holocaust heute zu vermitteln, und wie dabei nicht nur das Engagement der Schulen, sondern jeder und jedes Einzelnen gefordert ist.

Holocaust Synagoge Prag
Namen von Opfern des Holocaust in der Pinkas-Synagoge in Prag. (Bild: Valerie Wendenburg)

Herr Lewin, vor 80 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Was bedeutet dieser Gedenktag für Sie?

Es ist die Erinnerung an eines der grauenhaftesten Verbrechen der Menschheit, bei dem Millionen von Menschen planmässig umgebracht wurden, die meisten, weil sie Jüdinnen und Juden waren, aber auch viele Homosexuelle, Jenische, Behinderte und Oppositionelle. Es ist auch deshalb aktuell mein dringender Wunsch, dass die Menschen in Israel, dem jüdischen Staat, der nach und in Folge des Holocausts gegründet wurde, in Frieden mit seinen Nachbarn leben können.  

Muss Israel heute um seine Existenz bangen? 

Iran und die von ihm unterstützten Terrororganisationen, allen voran die Hamas, verfolgen erklärtermassen das Ziel, Israel zu vernichten. Sie sind heute nach dem von der Hamas am 7. Oktober 2023 durch ihr Massaker ausgelösten Krieg klar geschwächt. Die Gefahr ist aber nicht für immer gebannt. Entscheidend ist unter anderem, dass Iran kein Atomstaat wird. 

Ralph Lewin
Zur Person

Ralph Lewin ist Vize-Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG. Von Oktober 2020 bis Juni 2024 war er dessen Präsident. Als SP-Politiker gehörte der Nationalökonom von 1997 bis 2008 der Regierung des Kantons Basel-Stadt an und führte das Wirtschafts- und Sozialdepartement. In den Jahren 2000 und 2005 war er Regierungspräsident. Nach seiner Regierungszeit engagierte er sich vor allem in Verwaltungsräten und Verbänden. Heute präsidiert Lewin den Tarifverbund Nordwestschweiz.

Was bedeutet für Sie in Zeiten des ansteigenden Antisemitismus der Satz «Nie wieder»?

«Nie wieder» heisst für mich, dass es nie wieder zu solchen Ausgrenzungen und schrecklichen Taten gegenüber Jüdinnen und Juden kommen darf wie unter dem Nationalsozialismus. 

Es gibt immer weniger Holocaust-Überlebende, die von ihren Erfahrungen berichten können. An wem ist es, die Geschichte an die jüngere Generation weiterzugeben?

Es ist ganz klar Aufgabe von uns allen, den Jüngeren aufzuzeigen, wozu Menschen fähig sein können und wohin menschenverachtende Politik führen kann. Wie aus Gedanken Worte und aus diesen schreckliche Taten werden können.  

Wie kann es heute gelingen, die Geschichte des Holocaust zu vermitteln?

Holocaust-Überlebende gingen und gehen bis ins höchste Alter in Schulklassen und berichten, was sie erlebt haben. Das ist schwer zu ersetzen. Die Schulen müssen noch mehr zu einem Ort der Vermittlung werden. Es gibt Video-Aufnahmen der Überlebenden, viele gute Filme und Bücher, Dokumente über den Holocaust. Man kann auch mit der zweiten und dritten Generation sprechen, die von ihren Eltern oder Grosseltern berichten können. Schön wäre es, Gewissheit zu haben, dass dieses Thema in der Schule wirklich behandelt wird. Auch das Jüdische Museum der Schweiz in Basel spielt eine bedeutende Rolle, indem es Veranstaltungen für Schulklassen anbietet.

«Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus erstarken bedrohlich. Dagegen muss man sich wehren.»
Ralph Lewin, Vizepräsident SIG

Wie kann es heute noch gelingen, an diesem Gedenktag die Brücke zur Gegenwart zu schlagen?

Es ist wichtig, die Vergangenheit zu kennen, damit man weiss, was passieren kann. Verachtung für Minderheiten und Unmenschlichkeit sind leider nicht überwunden. Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus erstarken vielmehr bedrohlich. Dagegen muss man sich wehren. Diese Brücke zur Gegenwart muss man schlagen.

In der Schweiz finden verschiedene Gedenkfeierlichkeiten statt. Wie gedenkt Basel?

Basel beteiligt sich wie zahlreiche Städte weltweit und in der Schweiz an der Aktion #WeRemember des World Jewish Congress. In der Schweiz wird diese vom SIG und der Plattform der Liberalen Juden der Schweiz zusammen mit den Behörden umgesetzt. Dabei wird das Basler Rathaus heute Abend mit weissem Licht und dem Schriftzug #WeRemember beleuchtet. Es wird damit an die Opfer des Holocaust erinnert und daran, welche Konsequenzen es haben kann, wenn Hass ungebremst wächst. 

Rathaus Basel
Das Basler Rathaus wird am Abend des 27. Januar weiss beleuchtet sein. (Bild: Valerie Wendenburg)

Wie steht es um das geplante Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus in der Schweiz? Das Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus besteht aus zwei Teilen, nämlich dem Erinnerungsort zentral in Bern, den der Bundesrat 2023 beschlossen hat, und aus einem grenzüberschreitenden Vermittlungszentrum im Kanton St. Gallen am Rhein. Dort, wo direkt am Ort des Geschehens die damaligen Fluchtgeschichten unmittelbar begreifbar werden und sich für die Vermittlung ausgezeichnet eignen. Der SIG bringt sich bei beiden Projekten bei der Umsetzung ein. Wir gehen davon aus, dass dieses Jahr wichtige Schritte erfolgen und von den federführenden Stellen kommuniziert werden können. 

In der Schweiz gibt es noch immer kein Verbot von Nazi-Symbolen, für das Sie sich als Präsident des SIG stark eingesetzt haben.

Die Vernehmlassung dazu wurde kürzlich eröffnet. Wie wir vorgeschlagen und erhofft hatten, sieht die Vorlage nun zunächst ein Verbot von Nazi-Symbolen vor. Das Verbot weiterer, rassistischer Symbole kann in weiteren Schritten erfolgen. Wir finden es wichtig, dass die Schweiz nicht eine Insel bleibt, auf der man ungestraft mit Hakenkreuzen und anderen Nazi-Symbolen Sympathie für Ausgrenzung und Hass zum Ausdruck bringen kann. 

«Natürlich hoffen wir gerade in Basel als weltoffener und toleranter Stadt auf ein friedliches Publikum.»
Ralph Lewin, Vizepräsident SIG

Wie blicken Sie auf Basel und den Eurovision Song Contest, an dem auch Israel teilnehmen wird? Rechnen Sie mit antiisraelischen Protesten, ähnlich wie in Malmö 2024? Von dem Moment an, als die Schweiz den Wettbewerb gewann und das Recht erhielt, dieses Jahr den Eurovision Song Contest auszurichten, kam natürlich auch die Frage auf, wie man in Basel verhindern kann, was in Malmö passiert ist. Natürlich hoffen wir gerade in Basel als weltoffener und toleranter Stadt auf ein friedliches Publikum. Wir vertrauen aber auch den Behörden, dass sie Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass nicht nur die israelische Delegation geschützt, sondern auch die jüdische Gemeinschaft vor allfälligen Anfeindungen bewahrt wird. Leider kann niemand ausschliessen, dass militante Demonstranten nach Basel kommen und im öffentlichen Raum demonstrieren werden. Es sollte sichergestellt werden, dass das Gewaltpotenzial dieser Demonstrationen eingedämmt wird. 

Am ESC wird Yuva Raphael, eine Überlebende des Hamas-Massakers vom 7. Oktober, für Israel singen. Der ESC wird auch dadurch eine politische Komponente haben …

Israels Repräsentantin beim Eurovision Song Contest lebte zeitweise in der Schweiz. Sie hat das Hamas-Massaker beim Nova Festival überlebt. Es ist wahrscheinlich, dass dies und ihre schrecklichen Erfahrungen auch vor dem Eurovision Song Contest zur Sprache kommen. Gut möglich, dass dies nicht allen passt. 

Synagoge Basel
Die Synagoge der Israelitischen Gemeinde in Basel. (Bild: Valerie Wendenburg)

Fühlt sich die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz sicher und ausreichend unterstützt?

Aufgrund der zunehmenden antisemitischen Vorfälle hat das Sicherheitsgefühl mancher Jüdinnen und Juden gelitten. Etliche unter ihnen vermeiden das Tragen von Kippa oder Davidstern, die sie als Juden erkennbar machen. Die durch die Behörden nochmals verstärkten Schutzmassnahmen für jüdische Einrichtungen und die erhöhten Beiträge an die eigenen Massnahmen der Gemeinden und Institutionen werden begrüsst. Wir hoffen, dass diese auch in Zukunft mit der Gefährdungsslage Schritt halten werden. 

Wie blicken Sie nun, am 80. Holocaust-Gedenktag in die Zukunft?

Es hat in der Welt schon besser ausgesehen. Der Antisemitismus erreicht in vielen Ländern bisher unbekannte Ausmasse. Der Ukraine-Krieg steht im dritten Jahr, die Situation im Nahen Osten macht Sorge. Da hoffe ich, dass der Waffenstillstand im Libanon und mit der Hamas in Gaza hält, und Syrien sich in Richtung Demokratie entwickelt. Leider ist alles sehr ungewiss. Die nationalistischen Tendenzen auch in einigen europäischen Staaten lassen wenig Gutes erahnen. Trotzdem zähle ich darauf, dass die demokratischen Kräfte stark genug sind. Wir müssen einen Rückfall in barbarische Zeiten verhindern.   

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Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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