So ist es, als Deutsche in Basel zu leben
Im Sommer zog Ina Bullwinkel von Berlin nach Basel und landete bei Bajour und im Lockdown. Ihr Basler Probezeit-Gespräch nach 200 Tagen.
Auswandern inmitten einer Pandemie war nie mein Plan. Aber genau so ist es gekommen. Schlechtes Timing. Eine Zeit lang im vergangenen Frühjahr hatte ich keine Chance, aus Deutschland in die Schweiz einzureisen, um eine Wohnung zu finden. Im August musste ich spätestens in Basel sein und den Umzug geschafft haben.
Hinkommen
Frühjahr 2019. Eigentlich will ich zurück nach Berlin. Das ist der lose Plan für die Zeit nach meinem Volontariat in Bremen. Zugegebenermassen nicht, weil ich Berlin so geil finde, sondern weil ich zurück zu meinem Freund ziehen will – und es in der Hauptstadt viel mehr Medienjobs gibt als im kleinen Bremen.
Doch gerade als ich dabei bin, meine Zelte langsam abzubrechen, mogelt sich Basel in mein Leben. Erst noch kleinlaut. «Ich habe da vielleicht ein Jobangebot aus der Schweiz», erzählt mir mein Freund. Schweiz? Ich denke an grüne Wiesen, Berge und Käse und wundere mich über mein Unwissen über dieses Land, in dem ich noch nie gewesen bin.
«Aha.» Es läuft sofort ein Film vor meinem geistigen Auge ab: Ich ziehe nach Berlin und dann geht die Fernbeziehung wieder los? So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich bin wenig begeistert. «Das wird bestimmt sowieso nichts mit dem Job», sagt er und ich kann nur lachen, sonst würde ich weinen.
Um es abzukürzen: Es klappt mit der Stelle. Ich kehre trotzdem erst einmal nach Berlin zurück. Aber dann müssen wir entscheiden: Geht es nach Basel oder nicht? Eins ist klar: Wenn wir gehen, dann zusammen. Eine Pro- und Contra-Liste wird erstellt. Es spricht irgendwie mehr dafür, nicht auszuwandern. Nur: Solche Listen bringen gar nichts. Der Bauch muss entscheiden. Und er ruft wider Erwarten recht laut BASEL.
«Bevor ich nach Basel zügle, werde ich nur ein einziges Mal dort gewesen sein. Ein komisches Gefühl.»
Hmm. Ich frage die wenigen Schweizerinnen, die ich kenne: Wie ist das so als Deutsche in der Schweiz? Im Journalismus? Antwort: nicht so leicht, aber passt schon, so wie überall. Okay, klingt nicht nach Vollkatastrophe. Der Bauch ruft immer noch BASEL und wir entscheiden uns – nach mehreren langen Telefonaten – dafür. Immerhin haben wir noch knapp ein Jahr bis es losgeht. Und im Sommer geht es erstmals «runter»: Basel, Luzern, Zürich. Mal einen Überblick verschaffen. Ganz schön hier, das mit der hohen Lebensqualität ist nicht gelogen. Das mit den hohen Preisen auch nicht. Mal schauen, wie es ohne rosarote Urlaubsbrille ist.
Schnell landen wir auf dem Boden der Realität. Im Frühjahr 2020 sind die Grenzen dicht für Menschen ohne Ausländerausweis oder Schweizer Papiere. Wir haben beide nur einen deutschen Pass. Und wir gehören auch nicht zu den besonders wichtigen Berufsgruppen wie Ärzt*innen, die zum Arbeiten einreisen dürfen. Ein geplanter Trip für Ende April muss ausfallen. Wohnungen sollten an diesem langen Wochenende besichtigt, ich in der Idee des Auswanderns bestärkt werden. Nichts da. Bevor ich nach Basel zügle, werde ich nur ein einziges Mal dort gewesen sein. Ein komisches Gefühl.
Gelassene Leute, diese Basler*innen
Statt meine neue Heimat zu besuchen, bleibe ich also zu Hause in Berlin und verfolge noch aufmerksamer als ohnehin schon die Ansteckungszahlen in Deutschland und der Schweiz.
Abwarten alleine hat aber keinen Zweck, mein (inzwischen) Mann und ich müssen trotz allem eine Wohnung finden. Er tritt seine neue Stelle im August an. Wir schreiben einigen Vermieter*innen: Ist eine Besichtigung auch per Video möglich? Ein paar lassen sich darauf ein. Gelassene Leute, diese Basler*innen, denke ich.
Die ersten Eindrücke des potenziellen neuen Heims landen als Bewegtbild auf meinem Smartphone. Sieht die Wohnung wirklich so aus? Ist das die Wohnung, für die wir unterschreiben und mehrere Tausend Franken Kaution ins Ausland überweisen? Und wie ist die Atmosphäre im Haus und im Quartier? Das können die besten Bilder nicht transportieren.
Mitbekommen
Es ist August 2020, der Umzug geschafft. Ein Sonnenuntergang begrüsst mich. Wow, denke ich, diese Stadt sieht auch im Dunkeln schön aus. Und die Wohnung ist perfekt. Schnell ein Dosenbier beim Späti – ah, nein, so heisst das hier nicht – besorgen, dann an den Rhein sitzen, Lichter angucken, anstossen. Wir wohnen jetzt hier. Es fühlt sich gut an, die Stadt hat etwas Freundliches, eine ruhige Ausstrahlung. Aber was weiss ich schon, noch ist es wie Urlaub.
Der Zebrastreifen auf der Strasse ist gelb und heisst auch nicht Zebrastreifen, dafür gibt es Haifischzähne. Es heisst merci vielmol, nicht danke schön, Velo nicht Fahrrad. Wer ein Croissant will, bestellt Gipfeli und im Rhy zu schwimmen ist hier ganz normal. In so einer Stadt habe ich noch nie gelebt. In Bremen und Berlin ist es lebensgefährlich in der Weser oder der Spree zu schwimmen. Und in der Suppe will das eh niemand.
In Basel erkunde ich die ganze Innenstadt zu Fuss, laufe durch kleine Gassen, staune über die rote Fassade vom Rathaus, die sauberen Gehwege, die gepflegten Blumenbeete am Strassenrand. Einmal sehe ich Kinder in einem Brunnen planschen, ein paar Tage später kommt jemand und reinigt ihn. Täglich fährt die Kehrmaschine durch meine Strasse. Es hat was von einer heilen Welt. Und ich liebe es. Gleichzeitig frage ich mich, wann das Urlaubsgefühl endet, mich das alles ankotzen wird und ich mich nach den kalten, klebrigen U-Bahn-Stationen in Berlin zurücksehne. Spoiler: bis heute nicht.
Auch Corona wird hier anders behandelt. Man geht den Schweizer Weg, wie bei so vielen Dingen. Als ich ankomme, gibt es noch keine Maskenpflicht in Geschäften oder im Tram. Ich trage trotzdem einen Mund-Nase-Schutz, so bin ich es seit Wochen aus Deutschland gewöhnt. Die Blicke sind mir sicher.
«Jede Münze muss ich mehrmals umdrehen, wie ein Kind, das zum ersten Mal mit seinem Taschengeld zum Kiosk geht.»
Meine Zeit in Basel beginnt mit Brocki-Besuchen, lauen Sommernächten, vielen Spaziergängen am Rhein, einmal gibt es sogar ein kleines Konzert auf dem Trottoir bei der Kaserne. Ein Vorgeschmack auf das, was hier kulturell ohne Corona alles laufen könnte. Ich bekomme mit, dass sich Basler*innen zum Apéro verabreden. Das Wort kenne ich nicht, nur Aperol Spritz, aber damit bin ich nah genug dran. Beim Quartierflohmi fühlt sich die Nachbarschaft im St. Johann an wie eine grosse Familie, die auf der Strasse zum Feiern zusammenkommt. Man kennt sich. Pleasantville im realen Leben.
Alles ist seltsam vertraut, schliesslich kann ich alles lesen und verstehen, gleichzeitig ist mir vieles fremd. Mein «Grüezi» wird meistens sofort als das einer Stadtfremden identifiziert, die Kassier*innenfrage nach der Coop-Supercard überfordert mich. Jede Münze muss ich mehrmals umdrehen, wie ein Kind, das zum ersten Mal mit seinem Taschengeld zum Kiosk geht. Warum ist der halbe Franken so klein und leicht, als wär er nur einen Rappen wert?
Bei einem Anruf bei der Bank verstehe ich nur die Hälfte, traue mich aber nicht, um eine Antwort auf Hochdeutsch zu bitten. Ähnliches Problem bei einer Möbellieferung. Die Stimme im Hörer fragt mich nach meiner Natel-Nummer – noch nie gehört. «Ich habe nur eine Kunden-Nummer», antworte ich. Im Radio verstehe ich die Moderator*innen ausserhalb der Nachrichten kaum. Eine Fremdsprache bleibt eine Fremdsprache.
Klarkommen
Auf zum Sprachkurs, das heisst mit dem Velo ins Gundeli in die Migros-Klubschule, zumindest eine Zeit lang, dann kommt die nächste Corona-Welle und mit ihr das E-Learning. Ich lerne nicht nur Baseldytsch, sondern auch, dass die Migros überall ist und quasi mein Schweizer Leben bestimmt: Supermarkt, Bank, Sprachschule. Gruselig, aber wenn die Schweizer*innen das noch nicht verboten haben, wird es wohl ok sein. Und wieso eigentlich DIE Migros und nicht DER?
Ich höre vom Basler Daig und je näher ich bei meinen Spaziergängen der Altstadt und Läden wie Globus komme, desto mehr erahne ich Basels reiche Seite. Für Basler*innen ist es vielleicht nichts Besonderes, aber es fällt auf: eigentlich alle Gebäude sind in gutem Zustand, die Strassen haben keine Schlaglöcher, neuere Häuser sind architektonisch interessant (gibt es hier noch andere Architekt*innen als Herzog und de Meuron?) und oft findet sich irgendwo ein kleines Schild mit dem Namen der Stiftung, die das Ganze gefördert hat. Eine Stadt voller Gönner*innen, so scheint es.
In der Basler Zeitung lese ich im Sommer von «den Bettler*innen», an denen sich eine Debatte entbrannt hat. Ich wundere mich. Mir waren noch gar keine aufgefallen. In Berlin oder auch Hamburg und Bremen, wo ich früher gelebt habe, gehören obdachlose Menschen einfach dazu. Hier scheint es für einige das Stadtbild zu stören, wenn sie überhaupt da sind.
Zu dem Zeitpunkt bin ich mir immer noch unsicher, wie ich als Deutsche in Basel aufgenommen werde. Denken die Leute, ich bin nur zum Shoppen über die Grenze gekommen oder denken sie: «Noch eine Deutsche»? Was will ich überhaupt, dass sie denken? Wer «Auswandern Schweiz» googelt, stösst vor allem auf Zeitungsartikel und Blogeinträge, in denen es darum geht, wie schwer es sein kann, als Deutsche*r in der Schweiz eine neue Heimat und Freund*innen zu finden. Auch von deutschfeindlichen Stimmungen, wenn auch schon ein paar Jahre alt, lese ich. Und es gibt die SVP, immerhin keine Randpartei, die mich in der Schweiz nicht haben will.
Zwar nehme ich mir nicht alles zu Herzen, die Recherche hinterlässt trotzdem ein mulmiges Gefühl. Schliesslich bin ich jetzt Ausländerin, zwar EU-Bürgerin, aber was bringt mir das hier? Ausgerechnet im Dreiländereck, denke ich mir. Einer der europäischsten Orte überhaupt.
Noch habe ich keinen Ausländerausweis (was für ein fieser Name, Aufenthaltsgenehmigung täte es auch) und warte auf die Anmeldebestätigung der Behörde. Keine Anmeldung kein Bankkonto. Kein Bankkonto kein Internet- oder Handyvertrag. Im Unternehmen Mitte kann ich zumindest ins Wlan und Mails schreiben – und Leute beobachten: hippe Basler*innen in freier Wildbahn. Ich will auch dazugehören, denke ich und nippe an meiner neuen Glasflasche aus dem Unverpackt-Laden.
Ankommen
Mittlerweile ist Winter, ich bin jetzt seit 200 Tagen in Basel. Auf einen Kulturschock habe ich vergeblich gewartet. Man merkt es kaum, aber langsam setzen sich die Puzzlestücke, die ich zur Stadt gesammelt habe, zu einem Ganzen zusammen. Wo ist das Gundeli, wo das Matthäus? Wo komme ich mit dem Velo raus, wenn ich beim Bankverein geradeaus über die Wettsteinbrücke fahre? Und überhaupt die Brücken. Endlich weiss ich, welche welche ist, und was mich am anderen Ende erwartet. Egal, wohin ich fahre, ich brauche eigentlich immer zehn Minuten mit dem Velo. Zehn Minuten! Ich finde das super, spontane Ausflüge sind immer möglich.
Seit Oktober bin ich nicht mehr so viel unterwegs – wie alle. Die meiste Zeit in Basel habe ich in Shutdown und Homeoffice verbracht. Viel zu unternehmen, ausser gefühlt hunderter Spaziergänge, liegt nicht drin. Basel beschränkt sich für mich auf einen kleinen Kreis aus Arbeit, meiner Wohnung und dem Weg zum Einkaufen. Aber ich bin angekommen in dieser kleinen Welt.
Mitschuld an meiner Speed-Integration ist vor allem Bajour. Eine Kollegin, die ich bei einem Workshop an der Hamburger Journalist*innenschule kennengelernt habe, macht mich im August auf die Online-Truppe aufmerksam. Die Kollegin ist Baslerin, kennt fast die ganze Bajour-Redaktion und sagt: «Das wär vielleicht was für dich.» Tatsächlich, es passt, im September geht es los. Wirklich herausfordernd sind für mich anfangs die Sitzungen am Morgen. Dialekte aus Basel, Bern, Zürich und Graubünden treffen aufeinander und bilden einen eidgenössischen Knoten in meinem Kopf. Aber, was soll ich sagen, man hört sich rein.
«Ich melde mich und denke: Jetzt weiss mein Gegenüber gleich, dass ich deutsch bin.»
Leute im Shutdown kennenzulernen ist recht schwer, Fremde trifft man in dieser Zeit nicht so gern. Doch ich habe einige Kontakte, die Gold wert sind: meine Kolleg*innen und das eingeschworene Team vom Sprachkurs. Engere Freundschaften müssen wohl bis nach Corona warten. Trotzdem fühle ich mich wohl, einsam bin ich nicht.
Mittlerweile verstehe ich Baseldytsch und auch andere Dialekte sehr gut, wenn auch nicht immer sofort jedes Wort. Baseldytsch zu sprechen traue ich mich meistens nur beim Einkaufen. Hinter der Maske lassen sich kleine Unsicherheiten perfekt wegnuscheln.
Interessant ist es für mich immer noch am Telefon. Ich melde mich und denke: Jetzt weiss mein Gegenüber gleich, dass ich deutsch bin. Es ist immer wieder spannend: Die meisten bleiben ohne einen Kommentar beim Baseldytsch (finde ich am besten), manche fragen, ob Schweizerdeutsch okay sei (finde ich sehr aufmerksam) und andere switchen auf Hochdeutsch (das ist auch in Ordnung).
Es klingt vielleicht komisch, aber ich bin erleichtert, dass mir noch niemand mein Hochdeutsch zum Vorwurf gemacht hat. Basel ist da vielleicht offener als andere Städte in der Schweiz, das kann ich nicht beurteilen. Ich bin froh, bin ich da. Und nächstes Jahr erlebe ich vielleicht auch mal eine richtige Fasnacht.