So kommst du mit deiner WG durch Corona
Die Pandemie ist eine Scheisszeit, auch für WGs. Wie kriegt man ein vernünftiges Zusammenleben hin, ohne einander die Köpfe einzuschlagen? Eine Insiderin berichtet.
Alle WGs haben ihre eigenen Vibes. Und doch sind sie im Kern gleich: Oasen des freiheitlichen Zusammenlebens. Ich kannte bis jetzt nur wenige Wohngemeinschaften, in denen das nicht so ist. Es gab sie zwar, die Orte, an denen man sich gegenseitig mit Vorschriften zum Gemüseanteil mit Biozertifikat die Moralkeule um die Köpfe schlug. WGs, die mit minutiös geplanten Putzplänen oder rigiden Besuchsverboten für Boy- und Girlfriends die lässige Stimmung versauten. Aber sie waren selten.
Dann kam die Pandemie und alles wurde anders.
Schleichend und mit Anstieg der Fallzahlen wurden im Frühling tolerante Wohngemeinschaften umgerüstet zu einem Ort, an dem jede lebensbejahende Aktivität zu einem Fall des WG-Gerichts werden konnte. Statt «Es hat noch Reste in der Küche» hiess es: «Hast du deine Hände gewaschen? Dir nicht an die Nase gefasst? Wo warst du? Wie viele Leute hast du heute gesehen? Was, du kannst auf keinen Fall mit fünf Personen gleichzeitig Sex haben!».
Das entspannte Miteinander wurde an den Haaren aus der Kuschelecke gezogen und umfunktioniert: jetzt sitzt es als argwöhnisches Biest in der Ecke und richtet seinen gewaltigen Zeigefinger auf jede Fläche, die nicht säuberlich desinfiziert wurde. Dies zwar zu Recht – aber mit erheblichen Konsequenzen.
Elsa* aus den Bachletten ist ausgezogen, Milenka auch. Bei Elsa kam es zu Krach, weil die jüngste Mitbewohnerin das Feiern nicht lassen konnte. Elsa hatte die Schnauze voll von dieser geballten Ladung Egoismus.
Milenkas Mitbewohner wiederum las Corona auf, wollte sich nicht testen lassen und steckte dann nach und nach die gesamte Fünfer-WG an. Milenka selbst leidet noch jetzt, Wochen nach der Corona-Infektion, unter eigenartigen Anfällen von Kopfschmerzen.
Sophie von der Elsässerstrasse zieht aus, sobald sie was Neues gefunden hat. Sie musste mit drei weiteren Mitbewohner*innen im selben Raum arbeiten und kann nicht mehr, sie meint, sie brauche Luft.
Belà vom Wettsteinplatz ist desillusioniert. Sein Mitbewohner Raphael ändert periodisch seine Meinung und hat sich vom anfänglich pedantischen Hygienepapst zum Coronaskeptiker entwickelt. Anfangs suchte Belà den Austausch, gab sich Mühe, Raphael zu verstehen. Jetzt meidet er das Thema nur noch.
Das WG-Leben während Corona gleicht einer Karussellfahrt.
In unserer WG ist's nicht ganz so schlimm, aber auch ganz schön anstrengend. Im Frühling haben wir zum ersten Mal erlebt, was Wochen auf engstem Raum in der WG bedeuten. Es gleicht einer Karussellfahrt, auch ohne Coronaskeptiker*innen im engsten Kreis.
Mal lieben sich alle und sind froh, dass sie nicht einsam in einem Studio wohnen und seit Wochen kein Stück Haut mehr zwischen die Finger gekriegt haben. In solchen Momenten sitzen alle in der Küche am Boden, umgeben von Glitzer (der Mitbewohner hat eine Glitzerkanone aufgetrieben, die krass laut knallt und nachhaltig Pailletten in die hintersten Ritzen jeglicher Wohnräume verteilt), die Discokugel an der Decke dreht sich und alles andere auch, weil seit fünf Uhr abends alle Mitbewohner*innen in dieser Küche getrunken und getanzt haben und dazwischen immer wieder lauthals bestätigten, wie unglaublich gern sie sich alle mögen.
Eine Woche später tigert jede*r für sich im Zimmer rum und kann die immer gleichen Gesichter nicht mehr sehen. Der Mitbewohner muss nur die Augen in die falsche Richtung drehen und das Nervenfass explodiert: «Alter, was guckst du mich immer so an morgens?». Und dann folgt eine Tirade zu allen möglichen Vergehen, mit denen ich garantiert nichts zu tun habe. Das mit der Kichererbsendose war ich nicht, die hat jemand anderes gestern vergessen rauszustellen. Die stinkenden Velohosen hängen zwar noch im Bad und sehen auch scheisse aus, aber wo sollen die denn sonst hin? Dass ich meine Pullis immer überall rumliegen lasse, stimmt schlicht nicht, die sind da erst seit ein paar Tagen. Und mit der verschwundenen WC-Rolle habe ich auch nichts zu tun. Zudem musste ich mir auch erst gerade kürzlich den Po mit Luft abwischen.
Alles zieht sich zusammen, diese Enge, die fehlende Ablenkung von den grossen Fragen des Lebens und die ewig gleichen Wände machen mich fertig. Die WG-Harmonie von der Woche zuvor ist wie weggeblasen.
In einer globalen Gesundheitskrise wird die Wohngemeinschaft zu einem zentralen Spielplatz gesellschaftlicher Aushandlungen.
Es ist klar, dass Einschränkungen jetzt Sinn ergeben und extrem wichtig sind. Auch, dass es viele Leute gibt da draussen, denen es noch viel schlechter geht. Die vielleicht ihren Job verloren, und keinen Zugang zur Arbeitslosenkasse haben. Bei denen drei schreiende Kinder zu Hause herumrennen und solche, die vor einem Partner stehen, der nicht mal weiss, wie eine Zwiebel geschnitten wird (halbieren und auf die Flache Seite legen). Und doch ist es fair zu sehen, dass WGs potenziell ziemlich zu schaffen haben. Mit sich, mit den Herausforderungen eines neuen Selbstbildes. Dem eines Kollektivs, das miteinander steht und fällt.
Eine WG lebt zusammen, jeder Tag wird von unzähligen kleinen Interaktionen geprägt. Und auch wenn das BAG sich vorstellt, dass in einer WG die Abstandsregeln problemlos eingehalten werden können, wissen wir alle, dass dies nicht stimmt. Im besten Fall mag man sich, kuschelt sich abends nebeneinander aufs Sofa, und im schlechtesten Fall benutzen doch alle dasselbe Klo.
In einer globalen Gesundheitskrise wird die Wohngemeinschaft zu einem zentralen Spielplatz gesellschaftlicher Aushandlungen. Alles liegt auf dem Tisch. Was, wenn deine Freizeitvorlieben und das Netzwerk mitsamt Frequenz und Modalitäten von Beziehungen en temps normaux keinen der WG etwas angehen? Komplett egal, an die Oberfläche mit deinem Privatleben!
Seit einigen Wochen steigen die Fallzahlen wieder in der Schweiz und zwar erstaunlich schnell. Gut möglich, dass wir uns bald wieder in einer ähnlichen Situation wie im Frühling befinden. Das heisst Homeoffice einrichten, Aussenkontakte reduzieren und schön hinterhältig ein Anspruchsgefühl auf das Verhalten seiner Mitmenschen entwickeln. Nicht wenige können wahrscheinlich schon jetzt vor jeden einzelnen Punkt ein Häkchen setzen.
Doch hier kommen die Good News. Dieses Mal wissen wir's besser, wir können auf die Tricks von Welle #1 zurückgreifen. Und das haben wir hier getan. Wir haben euch den exklusiven Survival Guide zusammengestellt:
Redet, redet, redet.
Verhandelt immer wieder die Regeln. Es läuft besser, wenn offen ausgehandelt wird, was okay ist, was nicht mehr geht und was verunsichert. Wenn ihr davon ausgeht, dass die anderen so denken wie ihr selbst, kommt es ganz bestimmt zu einer spannungsgeladenen Desillusionierung. Die Corona-Ausnahmesituation löst verschiedene Emotionen und Vorstellungen aus und deshalb hilft es, die Unterschiede zu verstehen und gemeinsam die Handlungsoptionen aufzusetzen.
Seid bünzlig.
Diskutiert, welches Risiko ihr als WG akzeptabel findet. Ist es noch okay, Abendessen mit Freunden zu planen? Anlässe wie Theatervorstellungen oder Fussballspiele zu besuchen? In Bars zu gehen um Bier zu trinken und Dart zu spielen (gut, das macht sowieso niemand mehr)? Die Tinderflammen abzuklappern? Schaut euch das gemeinsam an und sucht auf bünzlige Art den Konsens. In Zeiten von Covid gilt: Wenn eine*r im Haus die Partylaune nicht zügeln kann, oder die Hygieneempfehlungen lausig umsetzt, entsteht ein erhöhtes Infektionsrisiko für alle Mitbewohner*innen und wiederum für das ganze soziale Umfeld aller Personen der WG.
Probt den Ernstfall.
Guckt euch an, wie ihr im Fall der Fälle vorgeht. Dazu gehören penible Punkte wie: Wann gehen wir uns testen? Wie verhalten wir uns zwischen Test und Testresultat? Was tun wir wenn jemand mit einer positiv getesteten Person in Kontakt war? Und wie sieht das Vorgehen bei einem positiven Fall innerhalb der WG aus? Am einfachsten ist es, sich an die gut durchdachten Vorgaben des Bundes zu halten und alle weiteren Details auf die Wohnsituation anzupassen. In unserer Sechser-WG gilt zum Beispiel, dass bei kleinsten Zweifeln getestet wird (geht super einfach in Basel und kostet nichts) und sich die betroffene Person bis zum Testresultat zurückzieht, ein separates Klo benützt und nach dem Duschen die Oberflächen desinfiziert. Es ergibt Sinn, auch Details abzusprechen.
Seid nett zu einander ...
Nicht jede*r hat dieselben Bedürfnisse, ein bisschen Platz für Individualität soll trotz Pandemie möglich sein. Gehören Barbesuche zum Lebenselixier deines Zimmernachbars, nicht aber zu deinem, dann überleg dir, dich einzuschränken, ohne dies sofort als Handlungsmaxime für die gesamte WG einzufordern.
♥️ ... und zu euch selbst ♥️
Pumpt eure Frustrationstoleranz auf. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die Schlüsselwörter heissen Sport, Hygge und Awareness. Schau der Katze im Garten zu, dreh regelmässig eine Runde um den Block, geh Joggen, Seilspringen oder Velofahren und räum dir Momente ein, in denen du dir deine Lieblingsserie reinziehen darfst. Denn wer weiss, vielleicht ist morgen die Spülmaschine wieder nicht geleert oder jemand telefoniert zu laut im Nebenzimmer bis spätnachts. Die Frustrationstoleranz ist wie ein Pneu und mit voller Luft kommst du besser durch die Zeit als mit einem Platten.
* Namen abgeändert