Sprachlos in einer Sprache namens Zuhause

Marguerite Meyer lebt derzeit in Tirana. Obwohl Albanien auch Heimat bedeutet, kann sie sich in der Sprache ihrer Grosseltern nicht verständigen. Für baba news hat die Journalistin ihre Gedanken in Gedichtform niedergeschrieben.

Babanews baba news Peering

Dieser Artikel ist am 17. Juni zuerst bei baba news erschienen. baba news gehören wie bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.

mario-beqollari-egqGPwY3wLk-unsplash
Tirana. Fremde und doch vertraute Heimat. (Bild: Unsplash / Mario Beqollari)

Die Journalistin und Poetry Slammerin Marguerite Meyer verbringt derzeit ein halbes Jahr in der albanischen Hauptstadt Tirana. Ein Ort, der für sie vertraut wirkt, aber auch fremd. Denn: Sie merkt, wie sie sich in der Sprache ihrer Grosseltern nicht verständigen kann. Das liegt an einer Familienbiografie, wie es sie in der Schweiz und in der Welt zu Tausenden gibt. Ein Gedicht über Heimat, letztendlich.

Die Strasse riecht nach Abgas und Byrek, der Flieder hängt schwer,  Sommervorhänge zwischen blechernen Schlangen,  und stets diese Musik. Diaspora-Poesie, könnte man sagen,  sehnsüchtig im Herzen  und blind auf einem Auge.  Doch so schreiben darf ich nicht.  Das bin nicht ich,  nicht mal Diaspora, dazu habe ich kein Recht. 

Ein alter Mann im Anzug, die Hände ruhen hinter dem Rücken.  Die Damen wiegend im Gang, Arm in Arm.  Im Café ein kurzes Kopfnicken,  die Handgeste seltsam vertraut. Ein Kind mit Pausbacken zahnlückt mich an.  Oh zemër. Um die Ecke zwei Männer im Park, Schachspiel ohne Ziel und ohne Hast.  Die Nachbarin wischt in stillem Takt vor dem Haus, wer liebt den Geruch von Chlorbleiche denn nicht?

Ich zeichne mit dem Finger dem Gedächtnis entlang, auf der Landkarte jener Erinnerungen,  die nie die meinen waren.

Ich bade in einer Sprache namens Zuhause,  In meinem Zuhause badete ich in Sprache. Eine Zunge, in der ich Kind bin, Kleinkind, Baby.

Si je? Gut, danke, dir?  Nuk kuptoj. Ich verstehe nicht. Jemand lächelt, während wir tanzen, deutet auf mein Gezucke und meint auf Englisch:  The shoulder never fails. Du gehörst auch hierher. Irgendwie schon und irgendwie nicht, sage ich. 

Meine Zunge, filetiert in dünne Scheiben, die sich zusammenzufügen versuchen, sprachlos in einer Sprache namens Zuhause.

Fern im Hinterkopf schwappt ein Lied,  patschend klatschend im Takt auf mütterlichen Knien,  kur më vjen burri nga stani, in der Kehle ein Summen, das die Lippen nie verlässt. 

Die Reise vom Herzen zum Mund ist ein steiniger Aufstieg.

Grossmutter, lebtest du noch, müsstest du mich schimpfen in dieser Sprache.  Oder du würdest geduldig und sanft mit mir sitzen,  den Geruch von Rosenwasser im Haar,  die Kette adrett um den Hals, und mich zum Nachsprechen auffordern:  Mirëdita. Si je? Mirë. Te dua. Was ist das? Auge Mund Nase Hände Sprich mir nach.  Über manche Dinge spricht man nicht, egal in welcher Sprache.  Die Vergangenheit ist voller schwarzer Löcher, in die bloss nicht reinzufallen ist. 

Grossmutter, weisst du:  Meine Lehrerin erkennt  in meiner holprigen Aussprache  deinen Dialekt. Wie seltsam. Das würde ich dir gerne erzählen.  Ich schliesse die Augen und die Stimme flüstert hinter der Schulter hervor:  Lule Margherita! So riefst du mich,  deine Blume, deine Blüte, deine Sämchen, die der Wind weit fort trug.  Die Geschichte entgleitet den Fingern und die Zukunft lässt auf sich warten, während sich nutzlose Lippen zu nutzlosen Buchstaben formen, sie so aneinander reihen, dass sich vage Sinn manifestiert. Gstabig wie ein Kleinkind gehen lernt oder wie jemand nach einem Unfall,  Schritt für Schritt, einen Fuss nach dem anderen, ganz sachte, um sich nicht selbst zu erschrecken. Die Augen blinzeln.  Die Wangen röten sich. Und langsam formen sich Worte.  Eine Wiedergeburt der Sprache, die sich hinauspresst in eine Welt,  in der sie zuhause ist.

Marguerite Meyer

ist Journalistin, Autorin und Poetry Slammerin. Meist wohnt sie in Zürich, manchmal verschlägt es sie an andere Orte. So lebte und arbeitete sie bisher auch in Wien, Beirut und Tirana. Und ab und an schreibt sie, wie hier, als Gastarbeiterin bei baba news.

Babanews baba news Peering

Du willst baba news unterstützen? Hier kannst Du Member werden!

Basel Briefing

Das wichtigste für den Tag
Jetzt Abonnieren
Jetzt Member Werden

Das könnte dich auch interessieren

Migrant*innensession beider Basel 2024

Valerie Wendenburg am 30. September 2024

Fünf Vorstösse für mehr Mitsprache

Am Samstag wurde im Basler Rathaus an der Migrant*innensession beider Basel den Menschen eine Stimme gegeben, die sonst nicht stimmberechtigt sind. Alle von den Migrant*innen eingereichten Vorstösse wurden angenommen und werden nun in den Parlamenten behandelt.

Weiterlesen
Inselstrasse

Michelle Isler am 31. Mai 2024

Kaspar Sutter: «Das Haus war leer»

Ab Mitte Juni ziehen Geflüchtete in einen Block an der Inselstrasse, der letztes Jahr leergekündigt wurde. Die Anwohner*innen fühlen sich vom Kanton im Stich gelassen.

Weiterlesen
8-_prisoners_of_fate

Maria di Salvatore, Filmexplorer am 11. März 2024

«Gefangene des Schicksals»

Ist uns vorbestimmt, was für ein Leben wir führen müssen? Der Film ist eine filmische Langzeitbegleitung von afghanischen und iranischen Geflüchtete, die im Zuge der Flüchtlingswelle von 2015 in die Schweiz gekommen sind.

Weiterlesen
Mitglieder des Grenzwachtkorps GWK Basel Nord beobachten ein Tram am Grenzuebergang Burgfelden in Basel am Freitag, 13. Maerz 2020. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)

David Rutschmann am 07. Februar 2024

«Kontingente im Asylbereich sind völkerrechtswidrig»

Die SVP will systematische Grenzkontrollen und nur noch 5000 Asylbewerber*innen pro Jahr. Ist das umsetzbar? Migrationsrechtlerin Sarah Progin-Theuerkauf ordnet ein.

Weiterlesen

Kommentare