Offene Schere und blinde Flecken
Weshalb Basel-Stadt keine Zahlen zur Armut im Kanton hat. Und was wir trotzdem statistisch belegen können.
Die Corona-Krise treibt viele Menschen an ihre Grenzen. Der Soziologe und Armutsforscher Ueli Mäder sagte im Interview mit Bajour, dass die genauen Auswirkungen der Krise zwar noch nicht klar seien, aber die Tendenz in eine Richtung gehe: Diejenigen Menschen, die bereits vorher wenig hatten, sind jetzt doppelt geprellt.
Wir wollten wissen: Welche Menschen sind das, die es in Basel schwer haben? Und haben uns auf die Suche nach Zahlen zur Armut gemacht.
Im März, als das Corona-Virus auch die Schweiz erreichte, verloren viele Basler*innen ihren Job. Eindrücklich sieht man den Corona-Effekt im Vergleich der monatlichen Arbeitslosenzahlen von 2020 mit dem Vorjahr 2019.
- Ende März 2020 waren 336 Personen mehr arbeitslos als im März 2019.
- Ende April 2020 waren es 818 mehr als ein Jahr zuvor.
Blinder Fleck
Es gibt keine offizielle Armutsstatistik in Basel-Stadt, deshalb sind konkrete Aussagen schwierig. Das Problem ist, dass die Daten qualitativ erhoben werden müssten, also durch Befragungen. Da müssen die Behörden sowohl finanziell wie auch personell ziemlich viel reinstecken. Kantonal ist das nur stemmbar, wenn ein klarer Auftrag von Seiten Politik oder Regierung besteht.
Der Bund macht regelmässig solche Befragungen auf nationaler Ebene. Die Resultate fliessen in die sogenannte SILC-Statistik (Statistics on Income and Living Conditions).
Matthias Bestgen vom Statistischen Amt Basel-Stadt erklärt: «Wir prüfen immer wieder Möglichkeiten zur Ermittlung der Haushaltseinkommen.» Grundproblem dabei sei, dass nur schwer definierbar ist, wie sich eine «wirtschaftliche Einheit» zusammensetzt. Die Statistiker*innen müssen sich zum Beispiel bei einem Zweipersonenhaushalt fragen: «Ist das eine WG oder handelt es sich um ein Paar?» Die Antworten auf solche Fragen lassen sich nicht aus den quantitativ erhobenen Zahlen herauslesen.
Deshalb hat der Sozialbericht, den das Statistische Amt Basel-Stadt jährlich herausgibt, hier einen blinden Fleck. Es werden nur Menschen miteinbezogen, die auch wirklich Hilfe vom Staat erhalten.
Es fehlen jene Personen, die auf diese Hilfe verzichten. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der bezugsberechtigten Personen keine Sozialhilfe beziehen. Die Gründe?
- Sie wissen gar nicht, dass sie Anspruch auf staatliche Unterstützung haben.
- Andere verzichten vielleicht aus Scham oder aus Angst auf die Unterstützung.
- Sans-Papiers fallen durch die Maschen.
Was können wir aber statistisch belegen?
Basel-Stadt hat Ende Mai den Sozialbericht 2020 herausgegeben. Insgesamt bezogen rund 12'000 Menschen im Jahr 2019 Sozialhilfe. Die Quote liegt bei 6,6 Prozent und ist seit 2017 leicht rückläufig.
Die Quote lässt sich mit den Jahren vor 2017 nicht vergleichen, da damals nur die Stadt Basel ausgewiesen wurde. Neu werden Riehen und Bettingen dazugezählt. Da die Sozialhilfequoten der beiden Gemeinden tiefer ausfallen als jene der Stadt, sind die Werte dementsprechend tiefer als vor 2017.
- Der Kanton Basel-Stadt gab 2019 insgesamt 780,2 Millionen Franken für Sozialleistungen aus.
- Grösster Kostenpunkt (183 Millionen) sind die Prämienverbilligungen.
- Über 53'000 Basler*innen beziehen Prämienverbilligungen.
- Danach folgen Sozialhilfe und Ergänzungsleistungen zur AHV (beide je 136 Millionen).
Dröselt man die Sozialhilfebezüger*innen nach Alter auf, sieht man, dass Minderjährige und junge Erwachsene bis 25 Jahre die höchste Sozialhilfequote haben. Die Zahlen sind aber durchgehend rückläufig. Einzige Ausnahme: Die leicht steigende Kurve bei den 51- bis 65-Jährigen. Wie kann man sich diese Zahlen erklären?
- Bei den jungen Erwachsenen gibt es immer mehr Schulabgänger ohne Anschlusslösung.
- Es gibt immer mehr ältere Personen, die nach einem Jobverlust nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurückfinden.
- Die Zahl der Menschen, die unbezahlte Care-Arbeit leisten oder zu einem Tiefstlohn arbeiten, steigt.
Die Lohn-Schere öffnet sich
Auch Basel-Stadt kennt das Problem der Tieflöhne. Eine Studie im Auftrag der Christoph Merian Stiftung (CMS) machte bereits 2010 deutlich, dass die Prekarisierung auf dem lokalen Arbeitsmarkt zunimmt.
Der Medianlohn – die Hälfte aller Arbeitnehmer*innen bezieht mehr und die andere Hälfte weniger – ist relativ konstant geblieben.
- Medianlohn 2006: 48'500 Franken
- Medianlohn 2016: 49'300 Franken
Anders sieht das beim Median des Einkommens des obersten Fünftels der Bevölkerung und beim Median des untersten Fünftels aus. Zur Erklärung: Das oberste Fünftel (Quintil) sind die 20 Prozent der Bevölkerung, die am meisten verdienen und das unterste Fünftel sind jene 20 Prozent, die am wenigsten verdienen.
Während die Kurve beim Reineinkommen (Netto-Lohn minus Krankheitskosten etc.) bei den Gutverdienenden steil nach oben zeigt, zeigt die Kurve bei den prekären Arbeitsverhältnissen deutlich nach unten.
Dazu kommt, dass gerade die Tieflohn-Branchen wie der Detailhandel und die Gastronomie am stärksten unter den Corona-Massnahmen litten. Sie gehören zu den Branchen, in denen schweizweit am meisten Kurzarbeit angemeldet wurde. Und damit machen wir noch einen letzten Schlenker auf die Situation in der gesamten Schweiz.
Gesamtschweizerische Situation
- 659'000 Personen leben in der Schweiz in Armut. Das entspricht 7,9 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung.
- Über eine Million (1,1 Mio.) Menschen sind gefährdet, in die Armut abzurutschen. Das heisst, mehr als jede siebte Person ist in der Schweiz von Armut bedroht. *
- 280'000 Eltern mit Kindern bis 24 Jahre sind in der Schweiz von Armut betroffen. Davon sind 106'000 Einelternhaushalte. Zusätzliche 10'000 haben Kinder über 25.
- 574'000 Eltern mit Kindern bis 24 Jahre sind in der Schweiz von Armut bedroht. Davon sind 137'000 Einelternhaushalte. Zusätzliche 13'000 haben Kinder über 25.
- 144'000 Kinder sind von Armut betroffen und 290'000 Kinder (mehr als jedes 6. in der Schweiz) sind von Armut bedroht.
- 133'000 Menschen sind trotz Erwerbsarbeit arm.
* In der Schweiz gilt jemand als armutsgefährdet, wenn er oder sie dauerhaft weniger als 60 Prozent des mittleren Netto-Einkommens zur Verfügung hat, das die Bürger*innen hierzulande erzielen.