Reden über Sex
«Intime Revolution» heisst eine Performance von Anna Papst und Mats Staub in der Kaserne Basel: Neun Menschen erzählen, wie sie ihre Sexualität neu erfunden haben.
Von Sappho auf Lesbos über de Sade und Josefine Mutzenbacher bis Houellebecq erstreckt sich die Geschichte der erotischen Literatur. Man sollte meinen, die Menschen hätten fast dreitausend Jahre Zeit gehabt, um zu lernen, über Sex zu reden.
Zeit hatten sie. Gelernt haben sie wenig. Ohne Bluff und Pornographie über Sex zu reden, ist noch immer schwierig. Damit genau und sinnvoll über Sex geredet werden kann, braucht es sorgfältig gesetzte Bedingungen. Und die kann das Theater liefern, jedenfalls das Theater von Anna Papst und Mats Staub. Die beiden haben für ihre Performance das Format der «Audio-Vinothek» erfunden.
Anna Papst, geboren 1984 im Kanton Zürich, ist Regisseurin und Autorin, interessiert an einem erzählenden, gesellschaftlich relevanten Theater. Der Berner Mats Staub, Jahrgang 1972, arbeitet an der Schnittstelle von Journalismus und Theater. Er ist Spezialist für Langzeit-Erinnerungsprojekte und Hörinstallationen. So fragte er über längere Zeit verschiedene Menschen nach ihren Erinnerungen an das Erwachsenwerden, und vor knapp zwanzig Jahren entstand am Theater Neumarkt sein erstes Projekt: «5000 Liebesbriefe». Zu hören waren Briefe von Liebenden aus 100 Jahren und aus jedem Lebensalter. Mit «Intime Revolution» kommt er zum Thema Liebe zurück.
Intimste sexuelle Praktiken werden darstellbar
Papst und Staub haben ihr Projekt wiederum journalistisch begonnen. Seit über drei Jahren suchen und finden sie Menschen, die in ihrem Sexualleben einen Bruch hatten und darüber nachdenken und erzählen wollen. Sie fanden zum Beispiel Annemarie, die nach einer unbefriedigenden Ehe ihre sexuellen Experimente und Erfahrungen mit 70 Jahren begann. Oder David, der nach einer Missbrauchserfahrung sich in seiner Genderfluidität erst kennenlernen musste. Franka hat als «Surrogatpartnerin» ihren Körper lieben gelernt: Sie stellt sich Menschen, die zu Sex und Lustempfindung unfähig sind, als Trainerin zur Verfügung. Diese und andere Menschen erzählen sehr intime Erfahrungen. Die Darstellung von körperlichen Details und sinnlichen Erlebnissen ist nie peinlich. Wie ist das möglich?
Bei ihren Recherchen lassen Papst und Staub die Erzählenden zunächst so lange erzählen, wie die Erzählenden selbst es wollen. Oft stundenlang. Und sie hören ihnen zu. Dann aber verdichten die beiden Theaterleute – in Zusammenarbeit mit den Erzählenden – die mündliche Rede zu einem schriftlichen Text, den sie schliesslich vorlesen lassen, entweder von Sprecher*innen oder von den Erzählenden selbst. Das Vorlesen der verdichteten Texte schafft Distanz, und es schafft Präzision: sprachlich und gedanklich. Intimste sexuelle Praktiken werden dadurch darstellbar.
Intimes über Kopfhörer
Hinzu kommt das spezielle Ambiente der Performance: Ich werde als Besucher oder Besucherin von Mitarbeiterinnen empfangen, kann an einem Bistrotisch Platz nehmen, bekomme eine sorgfältig gestaltete Menü-Karte und kann sowohl den Wein als auch die Erzählungen aus einem Angebot von acht Weinen und neun Geschichten auswählen. Das Licht ist gedämpft, jedes Detail, sogar noch die Blumen-Vasen auf den Tischen, sind liebevoll gestaltet. Die Erzählungen kommen über Kopfhörer zu mir. Wenn mir jemand seine Geschichte ins Ohr erzählt, so ist das ein intimer Vorgang, aber ich bin nicht allein im Raum.
In einer Pause zwischen zwei Erzählblöcken, oder nach dem Ende der Audio-Darbietungen kann etwas sehr Schönes geschehen. Da pro Tisch zwei oder drei Personen Platz nehmen, kann es sein, dass ich mit einer fremden Person über intime Dinge rede, was ich normalerweise nie tun würde. Das ist eine ganz besondere Begegnung.
In einer Welt, in der wir mit sexuellen Klischees und Grobheiten bombardiert werden, ist eine differenzierte erotische Sprache von grosser, auch politischer Wichtigkeit.Felix Schneider, Rezensent
Alle Erzählungen, die ich gehört habe (vier von neun), und alle Verlautbarungen im Umfeld der Performance, die ich gelesen habe, sind geprägt von einem intensiven Glauben an die heilsame Kraft des Wortes. Die omnipräsente Überzeugung lautet: Denkt nur nicht, dass «alles klar» ist und dass der/die andere schon «spürt», was mir gut tut. Sagt, was ihr empfindet! Glaubt nicht an das Totschlagargument vom «Zerreden»! In einer Welt, in der wir mit sexuellen Klischees und Grobheiten bombardiert werden, ist eine differenzierte erotische Sprache von grosser, auch politischer Wichtigkeit.
Die optimistische Grundstimmung des Abends wird verstärkt durch den Charakter der Erzählungen: sie berichten von überwundenen Krisen. Nicht, dass alle Probleme gelöst wären, das nicht, aber die Hauptkrise ist doch mehr oder weniger erfolgreich überwunden worden. Als Zuhörende*r geht man nachdenklich und zufrieden nach Hause.
Möchtest du Bajour-Member werden?